Ökumene - wozu?

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Doch gerade in den Kriegsjahren unter den erschwerten Bedingungen gemeinsamer Verfolgung hatten sich in Deutschland erste Annäherungen zwischen katholischer und evangelischer Seite entwickelt, z. B. in der »Una-Sancta-Bewegung«, die über ökumenisch gesinnte Bischöfe wie den Paderborner Erzbischof LORENZ JAEGER (1892 – 1975) in Rom Gehör fanden. Auch in anderen Ländern gab es eine Reihe geistlicher Wegbereiter von unten. So betonte der französische Priester PAUL COUTURIER (1881 – 1953), das Wort »alle sollen eins sein« (Joh 17, 21) sei kein Gesetz, sondern ein Gebet. Durch seine Initiative wurde die schon 1908 approbierte »Gebetswoche für die Einheit der Christen« seit 1940 jährlich begangen. Der reformierte Schweizer Theologe ROGER SCHUTZ (1915 – 2005) gründete im Zweiten Weltkrieg eine zunächst evangelische, dann bewusst überkonfessionelle Bruderschaft in Taizé. 1943 rief die Italienerin CHIARA LUBICH (1920 – 2008) die »Fokolar-Bewegung« ins Leben, eine 1962 vom Vatikan approbierte geistliche Gemeinschaft, die z. B. seit 1965 im Ökumenischen Lebenszentrum Ottmaring bei Augsburg das geschwisterliche Miteinander von evangelischen und katholischen Christen lebt.

Dann, nach der Konzilsankündigung von 1959, ging alles sehr schnell: 1960 wurde das Vatikanische Einheitssekretariat gegründet. 1962 begann das Zweite Vatikanische Konzil, eines der wichtigsten Ereignisse der Ökumenegeschichte des 20. Jahrhunderts. Als erstes Konzil bekannte es sich zu einem ökumenischen Weg: 1964 verabschiedete es das Ökumenismus-Dekret Unitatis redintegratio, welches die ökumenischen Bemühungen um Einheit mit allem Nachdruck unterstützt. »Die Einheit aller Christen wiederherstellen zu helfen ist eine der Hauptaufgaben des Heiligen Ökumenischen Zweiten Vatikanischen Konzils.«6 Es erkannte die Gläubigen aus anderen Kirchen als Schwestern und Brüder in Christus an, denen die Schuld an den Spaltungen nicht allein zukomme, und unterstrich: »Der Heilige Geist, der in den Gläubigen wohnt und die ganze Kirche leitet und regiert, schafft diese wunderbare Gemeinschaft der Gläubigen und verbindet sie in Christus so innig, dass er das Prinzip der Einheit der Kirche ist.«7 Weiter heißt es dort: »Die Sorge um die Wiederherstellung der Einheit ist Sache der ganzen Kirche, sowohl der Gläubigen wie auch der Hirten, und geht einen jeden an, je nach seiner Fähigkeit, sowohl in seinem täglichen christlichen Leben wie auch bei theologischen und historischen Untersuchungen.«8 Dass Ökumene kein privater Luxus, sondern Aufgabe der ganzen Kirche ist, findet in das nachkonziliare Kirchenrecht Eingang.9 Unitatis redintegratio steht nicht isoliert da, sondern in Zusammenhang mit anderen Konzilsaussagen, vor allem mit der Kirchenkonstitution Lumen gentium und der Pastoralkonstitution Gaudium et spes. Alle diese Dokumente vertreten keine exklusivistische Ekklesiologie: Die wahre Kirche Jesu Christi »ist verwirklicht« in der katholischen Kirche. Das schließt aber nicht aus, dass es auch außerhalb der katholischen Kirche Verwirklichungsformen und Elemente von Kirche geben kann. Getaufte Christen anderer Kirchen oder kirchlicher Gemeinschaften stehen durch ihre Taufe »in einer gewissen, wenn auch nicht vollkommenen Gemeinschaft mit der katholischen Kirche.«10 Zudem bietet die Hermeneutik einer »Hierarchie der Wahrheiten«11 Spielraum zur Diskussion. Nach dem Zweiten Vatikanum kann von katholischer »Rückkehr-Ökumene« nicht mehr die Rede sein. Vorherrschend ist eher eine »Integrations-Ökumene«12, die sich der »Fülle der Katholizität« verpflichtet weiß.

Noch in die Zeit des Konzils fiel das Treffen von Papst PAUL VI. (GIOVANNI BATTISTA MONTINI, 1897 – 1978) mit dem Ökumenischen Patriarchen ATHENAGORAS I. (ARISTOKLES SPYROU, 1886 – 1972) in Jerusalem – die erste persönliche Begegnung der Vorsteher von West- und Ostkirche nach 535 Jahren. Im Jahr darauf hob der Papst den Kirchenbann von 1054 auf. 1966 folgte ein denkwürdiges Treffen mit dem anglikanischen Primas MICHAEL RAMSEY (1904 – 1988); im September 1969 dann der Besuch des Papstes beim ÖRK. Seit 1968 ist die katholische Kirche Vollmitglied der »Kommission für Glauben und Kirchenverfassung« des ÖRK. 1972 entschied sich Rom jedoch gegen eine Mitgliedschaft im ÖRK selbst, denn die katholische Kirche ist hierarchisch und nicht demokratisch verfasst und konnte die dort vertretenen pluralen Einheitsmodelle nicht billigen. Außerdem sind beim ÖRK die Kirchen nach ihren Mitgliederzahlen repräsentiert, und Rom hätte so automatisch immer die Mehrheit der Stimmen gehabt.

Papst JOHANNES PAUL II. (KAROL WOJTYLA, 1920 – 2005) setzte mit der Enzyklika Ut unum sint von 1995 ein wegweisendes Zeichen. Er konkretisierte darin die Aussagen des Ökumenismusdekrets und lud z. B. ein, über eine ökumenisch akzeptable Form der Ausübung des Petrusdienstes nachzudenken. Auch das Schuldbekenntnis im Jahr 2000 war ein wichtiger Schritt zur Versöhnung zwischen den Kirchen. Seit Amtsantritt von Papst BENEDIKT XVI. (JOSEPH RATZINGER, geboren 1927) und seinem Besuch beim Ökumenischen Patriarchen in Konstantinopel 2006 schien sich der Heilige Stuhl vor allem um Ökumene mit den Orthodoxen zu bemühen. 2009 verhinderte er allerdings eine Kirchenspaltung der Anglikanischen Gemeinschaft durch die Apostolische Konstitution Anglicanorum coetibus. Anglikaner, die nun zur katholischen Kirche übertreten wollen, können die liturgische Tradition der anglikanischen Kirche im Rahmen der neu gegründeten Personalordinariate beibehalten.

Die katholische Kirche bevorzugt in ihrer ökumenischen Arbeit bilaterale Gespräche mit einzelnen Kirchen. Die Früchte dieser Arbeit wurden 2009 vom Einheitsrat gesichtet und publiziert.13 So besteht z. B. bereits seit 1965 eine Dialogkommission mit dem Lutherischen Weltbund. Diese veröffentlichte eine Reihe von Konsensdokumenten (1972 den sogenannten Malta-Bericht »Das Evangelium und die Kirche« zu theologischen Grundsatzfragen; 1978 »Das Herrenmahl«; 1981 »Das geistliche Amt in der Kirche«; 1985 »Einheit vor uns«), bevor 1999 die »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre« offiziell einen »differenzierten Konsens« in Grundwahrheiten gerade jener Lehre feststellen konnte, an welcher die Einheit der abendländischen Kirche in der Reformationszeit zerbrochen ist. Die Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts treffen demnach den heutigen Partner nicht mehr. 2006 unterzeichnete auch der Methodistische Weltbund diese Erklärung. Allerdings bewirkt sie noch keine Kirchengemeinschaft.

4. Jüngere ökumenische Entwicklungen

Kirchenunionen – Charta Oecumenica – Ökumene in Deutschland

Einige Kirchen haben die Zielvorgaben von Lausanne 1927, nämlich gegenseitige Anerkennung und volle Sakramentengemeinschaft, bereits erreicht. Zum ersten Mal seit dem Marburger Religionsgespräch zwischen HULDREICH ZWINGLI und MARTIN LUTHER im Jahr 1529 ermöglichte die »Leuenberger Konkordie« von 1973 wieder Abendmahlsgemeinschaft zwischen Lutheranern und Reformierten. Zur Leuenberger Kirchengemeinschaft, die sich heute »Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa« (GEKE) nennt, gehören mittlerweile 95 Kirchen. Auch zwischen manchen lutherischen und anglikanischen Kirchen besteht Kanzel- und Altargemeinschaft. Das Problem, dass Lutheraner kein dreigliedriges Amt mit Bischof, Priester und Diakon und keine lückenlose apostolische Sukzession der Bischöfe haben, wurde dadurch gelöst, dass apostolische Nachfolge nicht nur eine ununterbrochene Kette von Bischöfen bedeutet, sondern die kontinuierliche Treue zur Lehre der Apostel. Durch die »Erklärung von Porvoo« im Jahr 1992 steht die Kirche von England in voller Kirchengemeinschaft mit den skandinavischen und baltischen Lutheranern.14 Auch die katholische Kirche kennt Kirchenunionen. 1984 unterzeichnete die Syrisch-Orthodoxe Kirche, die Mitglied im ÖRK ist, mit der katholischen Kirche eine Einigung, wonach Fragen der Natur Christi nicht mehr kirchentrennend sind und pastorale Zusammenarbeit, Austausch bei der Sakramentenspendung und gemeinsame Priesterausbildung vereinbart wurden.

Seit den späten Fünfzigerjahren entstanden parallel zur Arbeit des ÖRK in vielen Teilen der Welt Konferenzen der dortigen Kirchen, z. B. in Europa die »Konferenz Europäischer Kirchen« (KEK). Zusammen mit dem »Rat der Europäischen Bischofskonferenzen« (CCEE) entwarf die KEK die Charta Oecumenica, eine Selbstverpflichtungserklärung der Kirchen in Europa, die 2001 in Straßburg unterzeichnet und 2003 auf dem ersten Ökumenischen Kirchentag in Berlin von den Mitgliedskirchen der »Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen« (ACK) für Deutschland ratifiziert wurde. Die ACK war 1948 parallel zur Entstehung des ÖRK in Kassel gegründet worden. Ihr gehörten zunächst die evangelischen Landeskirchen und Freikirchen an. Seit 1974 ist auch die katholische Kirche dort Mitglied. Elf von den sechzehn Mitgliedskirchen der ACK unterzeichneten 2007 im Magdeburger Dom eine »Erklärung zur gegenseitigen Anerkennung der Taufe«, so dass die Gläubigen im Fall eines Übertritts von einer Kirche zur anderen nicht neu getauft zu werden brauchen.

5. Resümee

Die ökumenische Bewegung war eine der prägenden Zeiterscheinungen des 20. Jahrhunderts. Vieles, was in den letzten hundert Jahren mühsam errungen wurde (z. B., dass eine Dispens durch den Pfarrer bei konfessionsverbindenden Ehen genügt), ist uns heute selbstverständlich. Und so soll es auch sein! Vielfältige Dialoge und Konsensdokumente sind entstanden als Ausdruck einer neuen Geschwisterlichkeit zwischen den Kirchen. Ihnen wäre mitunter breitere Rezeption zu wünschen. Wo Kirchenunionen geschlossen wurden, haben sie dauerhaft Bestand gehabt. Obwohl die Geschichte der ökumenischen Bewegung im Vergleich zur Geschichte der ökumenischen Spaltungen noch recht jung ist, kann sich die Bilanz der vergangenen hundert Jahre also durchaus sehen lassen. Es ist eine »Erfolgsgeschichte«!

 

Allerdings befindet sich die Ökumene derzeit in einem Transformationsprozess und steht vor ganz neuen Herausforderungen – wie z. B. dem gemeinsamen Dialog aller christlicher Kirchen mit anderen Religionen. Außerdem erleichterte die Geschlossenheit der Konfessionsfamilien bisher die Arbeit. Weltweit ist die Mitgliederzahl der traditionellen Kirchen aber im Sinken begriffen, während charismatischevangelikale Freikirchen schnell wachsen. Da sie geistige statt sichtbare (institutionelle) Einheit bevorzugen, ist ihre Einbindung im Zeichen eines geistlichen Ökumenismus eine der größten Herausforderungen für die Zukunft.

1

DEISSMANN, ADOLF: Die Stockholmer Weltkirchenkonferenz: Vorgeschichte, Dienst und Arbeit der Weltkonferenz für Praktisches Christentum 19. - 30. August 1925, Berlin 1926, S. 687 f.

2

An die Kirchen Christi in der ganzen Welt. Patriarchal- und Synodenenzyklika des ökumenischen Patriarchats (Phanar 1920). In: ALTHAUS, HANS LUDWIG (Hg.): Ökumenische Dokumente. Quellenstücke über die Einheit der Kirche, Göttingen 1962, S. 139 – 142.

3

SASSE, HERMANN (Hg.): Die Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung. Deutscher amtlicher Bericht über die Weltkirchenkonferenz zu Lausanne, 3. – 21. August 1927, Berlin 1929, S. 4.

4

Nach diesem Modell kam es zur Gründung verschiedener Unionskirchen, die sich meist United Church of XY nannten, z. B. 1961 der Church of North India durch die Vereinigung von Anglikanern, Kongregationalisten, Presbyterianern, Baptisten, Methodisten, Brüder-Unität und Disciples of Christ.

5

SÖDERBLOM, NATHAN: Einigung der Christenheit. Tatgemeinschaft der Kirchen aus dem Geist werktätiger Liebe, Halle 21925, S. 209.

6

Unitatis redintegratio, Nr. 1. In: RAHNER, KARL/​VORGRIMLER, HERBERT (Hg.): Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums, Freiburg 271998, S. 229.

7

Unitatis redintegratio, Nr. 2. In: Ebd., S. 231.

8

Unitatis redintegratio, Nr. 5. In: Ebd., S. 236.

9

Can. 755 § 1. In: Codex iuris canonici/​Codex des kanonischen Rechtes [von 1983], hg. im Auftrag der Deutschen und der Berliner Bischofskonferenz, Kevelaer 41994, S. 345.

10

Unitatis redintegratio, Nr. 3. In: RAHNER/​VORGRIMLER: Kleines Konzilskompendium, S. 232.

11

Unitatis redintegratio, Nr. 11. In: Ebd., S. 240.

12

Vgl. FRIELING, REINHARD u. a. (Hg.): Konfessionskunde. Orientierung im Zeichen der Ökumene, Stuttgart/​Berlin/​Köln 1999, S. 108.

13

KASPER, WALTER (Hg.): Harvesting the Fruits. Basic Aspects of Christian Faith in Ecumenical Dialogue, London/​New York 2009.

14

Dasselbe gilt seit 2001 durch die Erklärung von Waterloo für Anglikaner und Lutheraner in Kanada. Eingeschränkte Kirchengemeinschaft brachten die Erklärungen von Meißen 1988 und Réuilly 1999.

I. Ökumene – wie? Oder: Was bedeutet die ökumenische Bewegung?
A. Konfessionelle Perspektiven

1. Aus evangelischer Sicht

Michael Weinrich

An hohen Feiertagen wird in vielen evangelischen Kirchen das Bekenntnis von Nizäa-Konstantinopel aus dem Jahr 381 gesprochen. Es gilt als das ökumenische Glaubensbekenntnis, weil es die westliche Tradition mit der östlichen verbindet. Im dritten Artikel heißt es dort: »Wir glauben an den Heiligen Geist … und die eine, heilige, christliche und apostolische Kirche.« Im Original steht für das Wort »christlich« der Begriff »katholisch«, und das meint die allgemeine, die universale Kirche. Katholizität ist kein Spezifikum der römisch-katholischen Kirche, sondern gehört zu den Eigenschaften jeder recht verstandenen Kirche – eben deshalb sollte sie nicht allein der katholischen Kirche überlassen werden. Wenn dieses Bekenntnis gesprochen wird, ist mit »Kirche« nicht einfach die eigene Kirche gemeint, sondern die wahre universale Kirche, zu der wir uns auch mit der evangelischen Kirche rechnen. Das ist eine wichtige Pointe.

Dies war auch die zentrale Substanz der Erklärung des Zentralausschusses des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) 1950 in Toronto, wo es heißt: »Die Mitgliedskirchen erkennen an, daß die Mitgliedschaft in der Kirche Christi umfassender ist als die Mitgliedschaft in ihrer eigenen Kirche.« Diese Einsicht qualifiziert den ÖRK als ein theologisch motiviertes Unternehmen, das von Kirchen vorangetrieben wird, obwohl sie untereinander auch fundamentale Vorbehalte haben. Die Tatsache, dass die verschiedenen Kirchen diesen Satz gemeinsam sagen können, ist allerdings noch kein Hinweis darauf, dass sie ihn auch in gleicher Weise verstehen. Vielmehr muss konstatiert werden, dass er sehr unterschiedlich ausgelegt wird. Im Folgenden soll eine protestantische Lesart dieses Satzes skizziert werden.

Wenn Kirche mehr ist als das jeweilige verfasste Kirchesein – dann kann umgekehrt das verfasste Kirchesein im Grunde nur weniger sein als Kirche im Vollsinn des Wortes. Und genau darum geht es, wenn nach der ökumenischen Zielperspektive gefragt wird: Was ist die wahre Kirche im Sinne des Glaubensbekenntnisses? Keine Kirche wird einfach für sich in Anspruch nehmen können, dass sie die »wahre Kirche« sei, so sehr sie daran glauben wird, an der wahren Kirche Anteil zu haben; eben dies bekennt sie mit dem Glaubensbekenntnis. Die wahre Kirche muss bekannt werden, weil sie ebenso wenig sichtbar und zugleich ebenso wirklich ist wie der auferstandene Christus.

Diese Unterscheidung spricht aber der verfassten Kirche keineswegs ihr Kirchesein ab. Wenn in ihr das Evangelium recht gepredigt wird und die biblisch eingesetzten Sakramente ihrer Einsetzung entsprechend gefeiert werden, dann sind die notwendigen und hinreichenden Kennzeichen gegeben, an denen eine Kirche zu erkennen ist. Das wird nicht dadurch infrage gestellt, dass sich in ihr neben den Glaubenden auch Heuchler befinden. Es ist nicht unsere Aufgabe, hier Urteile zu fällen. Geschichtlich heißt »Kirche sein« immer vor allem »Kirche werden«.

Nimmt die Kirche ihr Glaubensbekenntnis ernst, so wird sie nicht in Versuchung geraten, zu hoch von sich selbst zu denken oder sich gar triumphalistisch in Szene zu setzen. Denn alle vier Attribute, die da im Nizänischen Glaubensbekenntnis angeführt werden (nämlich Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität), werfen ein kritisches Licht auf die unterschiedlichen Erscheinungsformen der Kirche und auf ihre konfessionelle Zersplitterung. Zwar mag eine Kirche es von sich weisen, als »Konfessionskirche« angesehen zu werden – tatsächlich wird sie sich aber dem Faktum stellen müssen, dass sie stets als eine Konfessionskirche agiert. Diese Attribute erinnern jede Kirche vor allem daran, dass es in allem, was sie ist, stets auch noch etwas zu beklagen gibt, was sie (noch) nicht ist.

Indirekt formulieren die vier Attribute einen markanten Mangel im Blick auf unser faktisches Kirchesein. In ihrem Spiegel können alle Kirchen ihre offenkundigen Unvollkommenheiten und Defekte erkennen, auch wenn sie die Mängel lieber bei den anderen sehen. Sie können etwa schlicht feststellen, dass es problematisch bleibt, ohne die anderen von sich selbst als der einen Kirche zu sprechen. Wir können nicht vollständig Kirche sein, solange wir ohne die anderen sind. Keine theologische Dialektik kann dieses Defizit schönreden – und es ist eben ein Mangel, den wir nicht anderen zuschieben können, sondern einer, an dem wir selbst leiden. Eine solche analytische Feststellung sollte nicht mit einem moralischen Urteil verwechselt werden.

Und wenn eines der vier Attribute der Kirche so fundamental verletzt ist, wie es im Blick auf die Einheit gewiss festzustellen ist, bleibt dies nicht ohne Auswirkungen auf die drei anderen Attribute. Ohne eine rechte Einheit kann die Kirche eben auch keine heilige Kirche sein. Sie kann allein darauf setzen, dass Gott sie ihren Mängeln zum Trotz heiligt. Ohne Einheit kann sie auch nicht katholische, d. h. universale Kirche sein. Faktisch ist sie partikular, und sie kann wiederum nur darauf setzen, dass sie als solche an der Katholizität der von Gott erwählten Kirche teilhat. Und auch das vierte Attribut bleibt eingetrübt – denn wie wollte sich eine Kirche, deren Einheit, Heiligkeit und Katholizität nur überaus gebrochen in Erscheinung treten, guten Gewissens eine apostolische, also eine Kirche im Sinne der Apostel nennen können? Der Mangel an Einheit bringt der Kirche bei nüchterner Betrachtung eine Fehlanzeige auf der ganzen Linie ein, so dass nur der Trost des Bekenntnisses bleibt, dass Gott wirken wird, auch wenn wir ihn mit unserem geschichtlichen Tun immer wieder behindern. Eben deshalb bleibt das Bekenntnis zu der in Gott gegebenen Einheit der Kirche für alle ökumenischen Anstrengungen so essenziell. Das wissen zwar alle Kirchen, aber in der Regel werden nur wenige Konsequenzen aus diesem Wissen gezogen.

Diese Überlegungen zeigen, dass es in der Frage nach der Einheit der Kirche nicht um eine Randfrage geht, der man sich stellen kann oder eben auch nicht, sondern es geht unmittelbar um die Substanz der Kirche. Die Sorge der Kirche um ihre Einheit ist kein Luxusproblem, von dem man sich in schlechteren Zeiten dann auch wieder zurückziehen kann; sie ist keine Kür, für die nur Zeit bleibt, wenn die Pflicht hinreichend erfüllt ist. Vielmehr gehört das Bemühen um die Einheit zur Pflicht – ohne sie würde sie zwangsläufig zu einer sektiererischen Unternehmung. Die Frage nach der Einheit der Kirche stand auch schon auf der Tagesordnung, als noch nicht von »Ökumene« gesprochen wurde. Da, wo die Kirche erneut nach ihrem Ursprung und ihrem wahren Grund fragt, um sich zu reformieren, da fragt sie auch nach ihrer Einheit. Insofern war die Reformation – zumindest ihrer Intention nach – ein ökumenisches Ereignis. Es gibt keine Zeit, in der es einen solchen Reformationsbedarf nicht gäbe.

Dies ist die erste und grundlegende Perspektive des evangelischen Ökumeneverständnisses. Von Anfang an war die Kirche darauf angewiesen, ihre Einheit zu bekennen – weil es nie eine Zeit gegeben hat, in der diese Einheit einfach sinnenfällig vor Augen stand. Aus dieser ersten folgt dann eine zweite Perspektive, die nun unsere dem Bekenntnis entsprechenden Bemühungen um eine geschichtlich aufzeigbare Einheit betrifft. Diese Perspektive zielt nicht auf eine große »Überkirche«, in der alles dem gleichen Reglement unterworfen ist. Vielmehr blickt die evangelische Einheitsvision auf eine Kirchengemeinschaft sich nicht nur gegenseitig anerkennender, sondern auch miteinander lebender Kirchen. Die Einigkeit in den Fundamentalartikeln des Glaubens schafft eine ausreichende Basis dafür, Unterschiede in weniger zentralen Fragen nicht als kirchentrennend zu bewerten. Keine Anerkennung einer diffusen Vielfalt oder einer abstrakten Pluralität ist gemeint, sondern eine durch eine gemeinsame Mitte konzentrierte Vielfalt. Am überzeugendsten kann der Charakter dieser Vielfalt durch den Hinweis auf den biblischen Kanon illustriert werden. Denn dieser umfasst sehr unterschiedliche Wahrnehmungen und Perspektiven, ohne dass deshalb die Konzentration auf eine das Ganze zusammenhaltende gemeinsame Blickrichtung infrage gestellt würde.

 

Die für die Kirche ins Auge zu fassende Einheit darf keine Vereinheitlichung bedeuten, sondern muss als eine differenzierte Einheit verstanden werden, in der die Vielfalt die Einheit nicht gefährdet, so wie umgekehrt die Einheit die Vielfalt nicht egalisiert und reglementiert. Es geht um die Nutzung der Produktivität einer wirklich aufeinander bezogenen Vielfalt und nicht um eine sich einfach nur in Ruhe lassende und sich somit im Grunde gar nicht gegenseitig ernst nehmende Vielfalt. Liberale Toleranz überlässt die anderen beteiligungslos sich selbst. Das kann mit einer »versöhnten Verschiedenheit« der Kirchen wohl kaum gemeint sein. Vielmehr lebt in der Ökumene die Verschiedenheit aus der gegenseitig festgestellten Gemeinsamkeit, ohne welche die Legitimität der Verschiedenheit infrage stünde. Auch bei einer »Ökumene der Profile« geht es recht verstanden um profilierte Ökumene und nicht um einen Freibrief zur Rekonfessionalisierung. Die festgestellte und im Bekenntnis immer wieder auch gemeinsam bekannte Gemeinsamkeit wird als tragfähig genug eingeschätzt, um die darüber hinaus bestehenden Unterschiede in gegenseitiger Akzeptanz, Zugewandtheit und Offenheit weiterzuerörtern – wie es etwa in den Lehrgesprächen der »Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa« (GEKE) geschieht. Die Einheit ist im Grunde nicht das Ziel des Prozesses, sondern seine Voraussetzung.

Ich weiß, dass manche der von mir gemachten Zuspitzungen in der Ökumene strittig sind. Wir wären sehr viel weiter, wenn wir uns einig wären über das, was unter der Einheit zu verstehen ist. Aber ich war ja nicht gefragt, diesen gordischen Knoten zu lösen, sondern die evangelische Zielperspektive der Ökumene zu skizzieren.