Ökumene - wozu?

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2. Aus katholischer Sicht

Walter Kasper

I.

In der Ökumene hört man gegenwärtig mehr von Frust als von Lust. Immer wieder wird gesagt: Nichts geht mehr voran; was einmal ökumenische Bewegung war, ist zum Stillstand gekommen. Zwar geschieht auf der Gemeindeebene nach wie vor viel, aber – so wird gesagt –»oben« bewegt sich praktisch nichts. Ich muss gestehen: Auch mir geht vieles viel zu langsam, und ich wäre selber heilfroh, wenn manches schneller voranginge. Die Bremser sitzen nach meinem Eindruck freilich nicht nur »oben«, sie finden sich leider in nicht geringer Zahl auch »unten«.

Es macht freilich wenig Sinn, sich auf ein Pingpong- oder auf ein Schwarzer-Peter-Spiel zwischen »oben« und »unten« einzulassen. Das Problem sitzt tiefer. Es fehlt an einer begeisternden gemeinsamen ökumenischen Vision. Es besteht kein Konsens darüber, wohin sich die Ökumene bewegen soll. Wohin soll die ökumenische Reise gehen? Welches ist ihr Ziel? Erst wenn man darauf eine Antwort hat, kann man messen, ob sich in der Ökumene etwas bewegt und ob es sich in der rechten Richtung bewegt. Also: Ökumene wohin? Ökumene wozu?

II.

Um zu einer Antwort zu kommen, sollten wir uns zuerst auf die gemeinsame biblische Grundlage und auf das Gebet besinnen, das Jesus am Abend vor seinem Leiden und Sterben gesprochen hat. Jesus betete, »dass alle eins seien« (Joh 17, 21). Dieses Gebet ist Jesu Testament und damit für uns etwas Heiliges und Verpflichtendes. Es steht nicht isoliert da; es fasst Jesu ganze Botschaft zusammen. Jesus wollte die Verheißung der Propheten erfüllen und sein Volk sammeln. Darum war ihm alles an der Einheit seiner Jünger gelegen. Sie sollten Zeichen, Werkzeug und Vorhut der einen versöhnten neuen Menschheit sein. Das Gebet »dass alle eins seien« steht somit im Kontext der Vater-unser-Bitte »Dein Reich komme!« Es sagt uns, dass die Trennungen unter den Christen Gottes Willen und dem Kommen seines Reiches widersprechen. Sie sind Ausdruck von Sünde. Es sagt aber ebenso: Wir dürfen, wenn es um die Einheit der Kirche geht, uns nicht bei allen möglichen kleinlichen Fragen aufhalten; wir müssen dieses große Anliegen in den noch größeren Horizont der Reich-Gottes-Botschaft Jesu stellen.

Aus dem Gebet Jesu folgt ein Zweites: Jesus spricht von der Einheit »wie du, Vater […] und ich in dir« eins sind. Einheit im Sinn des Gebets Jesu meint damit nicht eine Einerleiheit, in der alles ineinander verschwimmt. Es geht um eine Einheit in der Liebe, in der Verschiedenheit möglich, ja konstitutiv ist. Es ist darum unangemessen, die Einheit als Ausweitung eines zentralistisch regierten Imperiums zu verstehen, wie es für manche noch immer das Schreckgespenst einer Papstkirche ist. Das II. Vatikanische Konzil erinnert ausdrücklich an das Apostelkonzil und sagt, man solle keine Lasten auferlegen über das Notwendige hinaus (vgl. Apg 15, 28 f.). So darf es nach dem Konzil innerhalb der Einheit eine Vielfalt von Frömmigkeitsstilen, liturgischen Formen, Theologien, kirchlichen Rechtssystemen u. a. geben. In der Sprache des Apostels Paulus ausgedrückt: Es geht um die Einheit des Leibes Christi, mit vielen und unterschiedlichen Gliedern (vgl. Röm 12, 4 – 8; 1. Kor 12, 4 – 28).

Drittens: Die Einheit, die Vielfalt nicht aus-, sondern einschließt, ist kein Selbstzweck. Jesus fügt seinem Gebet um die Einheit hinzu, »damit die Welt glaube«. Die Spaltung der Christenheit macht die Glaubensverkündigung der Kirche unglaubwürdig. Denn wie will die Kirche Einheit und Versöhnung predigen, wenn sie in sich gespalten und zerstritten ist? An diesen Gesichtspunkt werden wir in diesem Jahr besonders erinnert, da wir den 100. Jahrestag der Weltmissionskonferenz von Edinburgh als die Geburtsstunde der modernen ökumenischen Bewegung begehen. Denn die damals versammelten Missionare fragten, wo die Hemmnisse für die Ausbreitung des Evangeliums liegen. Sie kamen zu der übereinstimmenden Überzeugung: Das größte Hindernis ist die Spaltung der Christenheit. So waren in der ökumenischen Bewegung des 20. Jahrhunderts Mission und Ökumene von Anfang an gleichsam Zwillinge, und sie müssen es heute in einer sich immer mehr globalisierenden Welt umso mehr sein. Wie kleinkariert und im Grunde beschämend nehmen sich da manche Diskussionen unter uns aus! Ökumene bedeutet Christsein im Weltmaßstab.

Schließlich müssen wir zum Wichtigsten in dem Gebet Jesu kommen. Es ist kein Befehl und keine Aufforderung zu irgendwelchen Aktionen. Es ein Gebet, das sich an den Vater richtet. So wenig wie wir das Reich Gottes »machen«, bauen oder organisieren können, können wir die Einheit der Kirche »machen«. Die Spaltung ist eine Folge der Sünde. Sie steckt tief in uns. So hat der Versuch zu einer gewaltsamen Aufrichtung des Reiches Gottes in der Geschichte noch immer zu dessen Gegenteil, zur Hölle auf Erden geführt. Allein Gott und sein Heiliger Geist können in das Herz des Menschen eindringen, es reinigen und verwandeln. Allein Gottes Heiliger Geist kann die Einheit heraufführen. Darum ist das Gebet »Komm, Heiliger Geist« das Herz der Ökumene. Das mag manchen weltfremd erscheinen. Das ist es in der Tat. Doch Jesus sagt uns, dass was immer wir in seinem Namen erbitten, uns zuteil werden wird. Und um was könnten wir mehr in seinem Namen beten als um die Einheit?

III.

Schauen wir von dieser gemeinsamen Grundlage aus auf die wichtigsten Antworten zum Ziel der Ökumene. Die traditionelle katholische Antwort wird oft als Rückkehr-Ökumene missverstanden, die davon ausgehe, dass alle anderen Christen in den Schoß der katholischen Kirche zurückkehren sollten. Dabei wird unterstellt, dass die anderen nichts in die Einheit einzubringen hätten. Polemisch wird eingewendet, es gehe uns nur darum, das Imperium der katholischen Kirche auszuweiten. Das II. Vatikanische Konzil hat dieses Modell aufgegeben. Das Konzil war zwar der Überzeugung, dass die katholische Kirche die wahre Kirche Jesu Christi sei. Es anerkannte aber auch Elemente der wahren Kirche Jesu Christi außerhalb ihrer Grenzen. Es ging davon aus, dass uns mit den anderen viel mehr verbindet als uns trennt, ja dass einzelne Aspekte bei den anderen Kirchen sogar besser entfaltet sind, als es in der eigenen Kirche der Fall ist. Papst JOHANNES PAUL II. hat den ökumenischen Dialog deshalb als »Austausch von Gaben« definiert. Das heißt, er hat den ökumenischen Dialog als ein gegenseitiges Geben und Nehmen verstanden. Ökumene will damit nicht zu einem alten Zustand zurück, sie will sich auch nicht auf dem niedrigsten gemeinsamen Nenner treffen; sie will nach vorn. Sie ist ein Wachstums- und ein gegenseitiger Bereicherungsprozess, der von der noch unvollständigen Einheit zur vollen Einheit im einen Glauben und in den gemeinsamen Sakramenten, besonders zur einen Eucharistie führen soll.

Das entgegengesetzte Extrem zur Rückkehrökumene empfiehlt, die Kirchen sollten sich endlich gegenseitig anerkennen. Dabei wird unterstellt, die alten Unterschiede seien heute überholt; sie seien theologisch gelöst oder sie interessierten und überzeugten nicht mehr. Diese Lösung klammert die Wahrheitsfrage aus. Sie wird darum in dieser Form von keinem Theologen von Rang und Namen vertreten. Es ist ja offensichtlich, dass es trotz aller erfreulichen Annäherungen leider noch immer deutliche Unterschiede zwischen der katholischen und der evangelischen Position gibt. Sie betreffen die Frage der Kirche und ihrer Ämter, besonders das Petrusamt, aber auch die Eucharistie, die Marienfrömmigkeit und anderes.

So wird heute von vielen evangelischen Vertretern der Vorschlag einer »gegenseitigen Anerkennung« bei bleibenden Differenzen gemacht. Man spricht von einer »Einheit in und trotz der Verschiedenheit«, von einer »versöhnten Verschiedenheit« und Ähnlichem. Als Modell gilt die Art und Weise, wie lutherische und reformierte Kirchen nach langer Zeit, in der auch sie sich gegenseitig das Abendmahl verweigerten, heute Abendmahls- und Kanzelgemeinschaft aufgenommen haben – und doch unterschiedliche Kirchen mit teilweise unterschiedlichem Bekenntnis geblieben sind.

Die katholische Kirche wie auch die orthodoxen Kirchen sehen für eine solche gegenseitige Anerkennung die Grundlage nicht gegeben. Auch sie wollen eine Einheit, die Verschiedenheit einschließt. Aber sie unterscheiden zwischen der Verschiedenheit einander widersprechender Wahrheiten und einer Verschiedenheit von einander ergänzenden Wahrheiten. Das Letztere ist möglich, denn die Einheit im einen Glauben ist kein logisches oder dialektisches System. Der Inhalt des Glaubens ist vielmehr ein Mysterium, zu dem es verschiedene Zugänge geben kann, die sich nicht widersprechen, sondern sich bereichern und gegenseitig anerkennen können. Abstrakt ausgedrückt: Keine kontradiktorische, wohl aber eine komplementäre Vielfalt ist möglich und erstrebenswert. Dahin zu kommen muss das Ziel sein.

Leider sind wir noch nicht so weit. Deshalb streben wir im Augenblick eher pragmatische Zwischenlösungen an. Sie weisen – nicht zu Unrecht – darauf hin, dass die Landkarte der gegenwärtigen Christenheit nicht allein durch die alten konfessionellen Grenzlinien bestimmt wird, sondern durch einen hohen Pluralismus innerhalb der einzelnen Kirchen, in dem die Bruchlinien oft konfessionsübergreifend verlaufen. So gibt es in allen Kirchen Gruppen und Kreise, die eher mit ähnlich denkenden Christen in anderen Kirchen zusammenarbeiten können als mit manchen Gliedern in den eigenen Reihen. So sind schon jetzt Zweckbündnisse möglich. Die europäische »Charta oecumenica« und der bevorstehende Ökumenische Kirchentag liegen grundsätzlich in dieser Spur. Der Kirchentag fragt: Was können und sollen Christen schon heute angesichts der enormen Probleme und Herausforderungen in der Welt gemeinsam sagen und tun? Solches gemeinsame Zeugnis und solche Zusammenarbeit sind realistische Zwischenschritte, die in die rechte Richtung weisen und neu Hoffnung machen können.

 

IV.

Noch drei andere ermutigende Zwischenschritte möchte ich erwähnen. Sie können zeigen, dass es in der Ökumene gar nicht so trist aussieht, wie es auf den ersten Blick erscheinen könnte. Einer der großen Ökumeniker des letzten Jahrhunderts, Abbé PAUL COUTURIER von Lyon, hat die Ökumene mit einem »unsichtbaren Kloster« verglichen. In einem Kloster beten die Mönche oder Nonnen in sichtbarer Weise gemeinsam; im unsichtbaren Kloster beten Christen in den verschiedensten Ländern und Kontinenten und in den unterschiedlichen Kirchen zerstreut und doch gemeinsam. Dieses unsichtbare Kloster wird gegenwärtig immer mehr sichtbar. Christen aus allen Kirchen treffen sich oft und regelmäßig zum gemeinsamen Gebet, lesen miteinander die Heilige Schrift und tauschen ihre Erfahrungen aus. Hier wächst zusammen, was zusammengehört.

Noch ein zweites Beispiel: Erst vor Kurzem haben wir in Augsburg das zehnjährige Jubiläum der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre zwischen Lutheranern und Katholiken gefeiert. Die Rechtfertigungslehre war im 16. Jahrhundert bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts der Hauptstreitpunkt. Heute sind Katholiken und Lutheraner überzeugt, einen Konsens in den Grundfragen der Rechtfertigungslehre gefunden zu haben, der die noch bestehenden Differenzen als tragbar erscheinen lässt. Diesem Konsens haben sich inzwischen auch die Methodisten angeschlossen, andere überlegen es sich noch oder bereiten sich darauf vor. Die Einheit wächst!

Schließlich: In den letzten beiden Jahren haben wir im Päpstlichen Einheitsrat die Ergebnisse der Dialoge der letzten 40 Jahre mit den wichtigsten evangelischen Kirchen (Anglikaner, Lutheraner, Reformierte, Methodisten) zusammengetragen und unter dem Titel »Harvesting the Fruits« (»Die Früchte ernten«) veröffentlicht. Ich war selbst überrascht, welch reiche Ernte wir da einfahren konnten. Wir haben weit mehr erreicht, als wir zuvor selbst gedacht haben. Für uns ein kräftiger Ansporn weiterzumachen.

Die Beispiele zeigen, dass die ökumenische Bewegung nicht stillesteht. Kein Grund also zu Alarmstimmung. Manchen mag der Weg, der noch vor uns ist, zu lang erscheinen. Ich kann solche Ungeduld verstehen. Wer an das Reich Gottes glaubt, muss unruhig werden. Aber die Ungeduld ist nur dann »heilige Ungeduld«, wenn sie gepaart ist mit Geduld – die man zu Recht schon als die »kleine Schwester der Hoffnung« bezeichnet hat. Ohne Umkehr, d. h. ohne Bereitschaft zum Um- und Neudenken, zum Abwerfen von Ballast und zum Aufgeben von Profilsucht, wird es nicht gehen – um sich vom Geist Gottes neue Wege führen zu lassen. Da muss jeder bei sich selber anfangen!

3. Aus orthodoxer Sicht

Athanasios Vletsis

1. Ökumenismus als Verrat des orthodoxen Glaubens und Rückkehrökumene als Lösung für das Problem der Kirchenspaltung?

Orthodoxe Kreise in Griechenland haben im April 2009 einen Text verabschiedet mit dem bezeichnenden Namen »Glaubensbekenntnis« (Omologia Pisteos)1. Wie jedoch der Untertitel des Dokuments verrät, geht es dabei nicht um eine neue Form des Credo (eine solche Vorstellung wäre orthodoxen Gläubigen suspekt), sondern um eine klare Abgrenzung des orthodoxen Glaubens vom ökumenischen Dialog, der von diesen Kreisen als »Panhäresie« und als Verrat des orthodoxen Glaubens abgelehnt wird. Die Rückkehr zur orthodoxen Kirche bleibt dann, nach diesem Verständnis, die einzige mögliche Lösung des Problems der Kirchenspaltung, denn allein die orthodoxe Kirche »repräsentiert die wahre katholische Kirche Christi«. Ist nun die Erfahrung, welche die Orthodoxen durch ihre Beteiligung an der ökumenischen Bewegung gesammelt haben, eine negative? Und wie soll nach den Prinzipien der »Rückkehr-Ökumene« der Dialog der Kirchen fortgesetzt werden?

2. Ökumenische Aktivität als vielfältige Bereicherung

Die Wahrnehmung des orthodoxen Glaubens durch den ökumenischen Gesprächspartner

Das ökumenische Patriarchat von Konstantinopel und die Orthodoxen, die an den vielfältigen Dialogen beteiligt sind, beurteilen jedenfalls die Rolle ihrer Kirche im ökumenischen Dialog ganz anders als das eingangs zitierte anti-ökumenische Manifest. Sie sind sogar stolz, dass gerade eine orthodoxe Kirche bei der Idee der Bildung einer Gemeinschaft (Koinonia) von Kirchen entscheidend beteiligt war.2 Auch wenn die verschiedenen orthodoxen Kirchen mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen und ihrem je eigenen Welthorizont erst allmählich zur Wahrnehmung der Bedeutung der ökumenischen Bewegung kamen3, hat ihre Aktivität in der ökumenischen Bewegung bleibende Spuren hinterlassen. Dadurch wurde nicht nur die reiche orthodoxe Tradition von anderen Kirchen neu entdeckt – auch für ihre eigene Selbstwahrnehmung hatte diese ökumenische Öffnung Rückwirkung gezeigt. Denn durch die Augen des Gesprächspartners sind orthodoxe Theologen selber zu einem vertieften Verständnis ihrer eigenen Tradition gelangt und haben damit Eigenschaften ihrer eigenen Identität besser kennen- und schätzen gelernt. Insbesondere folgende Bereiche theologischer Tätigkeit wurden im ökumenischen Dialog als ein wesentlicher Beitrag ostkirchlicher Identität hervorgehoben:

 Die Erinnerung an den bindenden und normativen Charakter von Entscheidungen der gemeinsamen ökumenischen Konzilien im ersten christlichen Jahrtausend. Da diese Konzilien auf dem Boden der Ostkirchen stattgefunden haben, wurde oft genug im Verlauf der ökumenischen Anstrengungen auf die wichtige Rolle des ostkirchlichen Christentums zur Festigung des christlichen Glaubens verwiesen. Die dogmatischen Beschlüsse von ökumenischen Konzilien haben den Glauben an den Dreieinigen Gott und an seine heilsgeschichtliche Offenbarung in der Person seines Sohnes und in der Wirkkraft des Heiligen Geistes nicht in abstrakten Normen erfasst, sondern vorrangig in feierlichen doxologischen Formeln, wie insbesondere im Credo von Nizäa-Konstantinopel (325 - 381).

 Die Doxologie (die Verherrlichung des Dreieinen Gottes) findet in der Tradition orthodoxer Kirchen ihren Ausdruck in der Vielfalt gottesdienstlichen Lebens. Die Wiederentdeckung der zentralen Bedeutung der eucharistischen Versammlung der Kirche Jesu Christi wurde als ein besonderer Impuls ostkirchlichen Lebens gewürdigt. Wird eine solche eucharistische Ekklesiologie betont, so kann man hoffen, dass sich dies auch im Sinne einer dynamischeren Gestaltung der kirchlichen Strukturen auswirkt.

 Außerdem konnten auch die Werke der Patristik neu entdeckt werden. Die Schriften der Kirchenväter fungieren dabei nicht als das unfehlbare Zeugnis des Glaubens, an dessen Erfassung nicht gerüttelt werden darf; sie werden vielmehr als Ausdruck einer mystischen Vertiefung der Überlieferung interpretiert. Diese mystische Erweiterung christlichen Glaubens vermag eine Verengung in strengen, oft abstrakten dogmatischen Formeln zu sprengen – erst in diesem Sinn können die Kirchenväter recht verstanden werden.

Die Ökumene als Lernprozess auch für die Orthodoxen

Bei den vielfältigen Dialogen konnten die Orthodoxen nicht nur Zeugnis ihrer Tradition abgeben und damit das Spektrum christlicher Wahrnehmung erweitern. In vielerlei Hinsicht konnten sie auch selbst von der Erfahrung anderer christlicher Gemeinschaften lernen und sich bereichern lassen. Ich möchte wiederum exemplarisch drei Felder solchen ökumenischen Lernens für die Orthodoxie benennen, die in einer gewissen Entsprechung zu den oben erwähnten drei positiven Beiträgen orthodoxer ökumenischer Sensibilisierung stehen könnten:

 Die (Wieder-)Entdeckung der sozialethischen Dimension des Glaubens als eine notwendige Ergänzung (und nicht als Widerspruch) zu doxologisch-gottesdienstlichen Lehraussagen. Orthodoxe selber haben das Wort von der »Liturgie nach der Liturgie« (ION BRIA) geprägt, um ihre Mitwirkung an den sozialethischen Aktivitäten des ÖRK zu beschreiben, konkret ihre Mitarbeit beim »Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Friede und Bewahrung der Schöpfung«. Gewiss gibt es noch viel zu lernen – so fehlt es z. B. manchmal an der kritischen Distanz ihrer Kirche zum national-staatlichen Leben (als Ergänzung und Korrektur des byzantinischen »Symphonie«-Prinzips). Jedenfalls trägt die Sensibilisierung für eine Reihe sozialer Fragen bereits Früchte, wie z. B. die Umweltaktivitäten des Ökumenischen Patriarchats zeigen.

 Die bisherigen ökumenischen Beziehungen haben den Orthodoxen die Katholizität kirchlicher Existenz in ihrer universalen Öffnung anschaulich gemacht. Damit wird die Bedeutung der eucharistischen Ekklesiologie nicht einfach in den überschaubaren Grenzen von kleinen Gemeinden gezeigt – ihre Dynamik lädt nun ein, die Strukturen kirchlichen Lebens weltweit neu zu gestalten und das Leben der Kirche eucharistisch-missionarisch zu öffnen.

 Durch das vielfältige sachliche ökumenische Gespräch wurden allmählich nicht wenige dogmatische Unterschiede der Vergangenheit weitgehend geklärt; damit verlieren nun Lehrunterschiede ihren trennenden Charakter. Man kann in dieser Kategorie nicht wenige Dissenspunkte erwähnen: von der Filioque-Problematik und von Fragen der Sakramenten-/​Pastoraltheologie (samt Amtstheologie) bis hin zu den Bräuchen der liturgischen Praxis, die den Kirchen jetzt erlauben, gemeinsam zu beten, ökumenische Gottesdienste zu feiern und Sakramente gegenseitig anzuerkennen (wie z. B. Taufe und Trauung). Die mystische Dimension christlichen Glaubens macht also das konkrete theologische Vokabular nicht unbrauchbar, sondern öffnet es allmählich in einer neuen Wahrnehmung.

3. Ökumenische Zielvorstellungen: eine neue Wahrnehmung der Katholizität christlichen Glaubens im stetigen ökumenischen lernen und Wachsen

Die großen Fortschritte in der ökumenischen Bewegung können über die immer noch vorhandene Trennung der Kirchen nicht hinwegtäuschen. Gewiss, die Einheit der Kirche kann nicht ein Werk von Menschen sein. Erst die Wirkung des Heiligen Geistes kann jene Gemeinschaft (wieder-)herstellen, die nicht Gefahr läuft, von menschlicher Hand zerstört zu werden. Dass aber auch das »synergetische« Mitwirken des Menschen sein Friedenswerk entfalten soll, ist gerade für orthodoxe Christen ein fester Bestandteil ihres Glaubens. Welches könnte nun der menschliche Beitrag zur Einheit der Kirche sein? Ist nicht gerade für die Ökumene die Vorstellung lähmend, dass wir Christen nicht einig werden können bezüglich des Ziels unserer ökumenischen Anstrengungen?4

Dass die Einheit der Kirchen der Welt im gemeinsamen eucharistischen Kelch sichtbar versinnbildlicht werden sollte, prägt (wie ich denke zu Recht) die Einheitsvorstellung aller Kirchen. Dass der Weg dorthin wahrscheinlich ein langer sein wird, ist wiederum eine Gewissheit, die von den meisten ökumenisch engagierten Theologen geteilt wird. Welcher Katalog von theologischen Fragen sollte noch abgehakt werden, damit die Kirchen zu einer Einigung kommen können? Beinahe endlos würde diese Liste aussehen, wollte man darin alle Interpretations- und Meinungsunterschiede theologischer Differenzierung berücksichtigen. Die eigene orthodoxe Geschichte kann m. E. bezeugen, dass nicht erst die Übereinstimmung in allen Einzelheiten die Voraussetzung dafür liefert, dass die Orthodoxen gemeinsam das eucharistische Brot teilen können. Es genügt, wenn der Glaube in der Form eines gemeinsamen Credo bezeugt und die nötigen sakramentalen (nicht kulturell gewachsenen!) Formen geteilt werden können, um zusammen die Liturgie zu feiern. Gewiss steht für die Orthodoxen hinter einer Fassade der Einförmigkeit eine gemeinsame Geschichte, die als Einheit stiftender Faktor wirksam ist. Geht es aber in der Ökumene nicht darum, die Grundwahrheiten des christlichen Glaubens wiederzuentdecken, die von einer viel tiefer reichenden Einheit Zeugnis ablegen können als die geschichtlich gewachsenen historischen Traditionen? Und wie soll dann die neue gemeinsame ökumenisch-katholische Einheit entstehen, die erst im Verlauf der Geschichte dieser Welt zu einer stets wachsenden ökumenischen Komplementarität führen kann?

 

Denn der gemeinsame eucharistische Kelch kann nicht das Ende des Weges von Kirchen unterwegs ins Reich Gottes sein. Orthodoxe interpretieren diese eucharistische Gabe als Vorwegnahme und als Abbild des himmlischen Mahles vor dem Altar Gottes. Bis wir aber dorthin gelangen, kann es für menschliche Maßstäbe unendlich dauern. Könnte nicht eine Annäherung von kleinen, aber entscheidenden Schritten der Katholizität5 des christlichen Glaubens in der heutigen Welt sichtbaren Ausdruck verleihen? Das gemeinsame Glaubensbekenntnis könnte allmählich von vielen anderen liturgischen und theologischen Zeugnissen des Glaubens in der Welt begleitet werden. Ja, eine lebendige Einheit kann stets neue Formen ihrer Katholizität erproben, ohne ihre Tradition zu leugnen. Die Vergangenheit kann nicht immer die passenden Lösungen für die Zukunft anbieten. Sie kann aber die Fülle christlichen Lebens schrittweise offenbaren, wenn die Charismen des einen die Gaben des anderen ergänzen: Wenn die doxologischen Formen von Glaubensaussagen durch die diakonischen Formen eines opfernden Dienstes für die Welt begleitet werden, und dies alles in jener demütig-mystischen Haltung, die in der Lage sein wird, die Dynamik des Geistes offenzulegen, dann kann im großen Delta der Übereinkunft des Flusses des Glaubens das kosmische Meer stets neue Nahrung bekommen. Erst dort kann die Weite des christlichen Glaubens anschaulich erfahrbar werden.

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