Ego-State-Therapie bei Traumafolgestörungen

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Ego-States sind entstanden, um zu helfen. Sie liefern die Lösung, sei es, das Unaushaltbare auf sich zu nehmen, oder sei es, Strategien zu entwickeln, das Unaushaltbare zu bewältigen, damit umgehen zu können. Somit sind Ego-States und ihre Strategien unterscheidbar. Die Strategien von Ego-States treten häufig in Form von Psychopathologien und somatischen Störungen zutage. Das bedeutet, dass diese Symptome Lösungsversuche von Ego-States sind. Sie sind die Lösung, nicht das Problem. In der psychotherapeutischen Behandlung erleben wir viele dysfunktionale Lösungen, also Lösungsversuche, die neue Probleme schaffen. Doch die Natur von Ego-States ist die Lösungsorientierung. Ihre Existenz dient der Befriedigung, dem Schutz sowie der Homöostase von Grundbedürfnissen. Ihre Strategien dienen der Umsetzung dieser Aufgabe. Insofern verteidigen Ego-States ihren Platz und lassen sich nicht eliminieren (was sich viele Patientinnen und Patienten wünschen). Ego-States können in Austausch miteinander und mit der Gesamtperson treten. Der Begriff Gesamtperson beschreibt einen Menschen mit allem, das ihn oder sie ausmacht, also auch mit allen Ego-States. Ego-States sind erreichbar. Sie können lernen, sich entwickeln und unterstützt werden. Hier liegt die Stärke des Konzepts der Ego-State-Therapie. Sie bietet eine Möglichkeit der Begegnung mit Ego-States, die über den Weg der Akzeptanz, Würdigung, Unterstützung, Versorgung und Kommunikation letztlich zur Integration dieser bis dahin nicht integrierten Ego-States in die Persönlichkeit führt.

Dies stellt die zentralen Vorgehensweisen der Ego-State-Therapie dar (Fritzsche 2017, S. 79).

Doch wie soll die Begegnung mit einem traumatisierten Ego-State, die für die Patientin im Fallbeispiel derart schockierend und destabilisierend war, nun plötzlich heilsam sein? Wir können doch nicht den Bock zum Gärtner machen. Tatsächlich birgt diese Begegnung ein hohes Heilungs- und Entwicklungspotenzial, das sich auf mehreren Ebenen entfalten kann, von denen einige hier aufgezählt und im Teil 2 des Buches vertieft werden.

Die Begegnung mit einem Ego-State bzw. mehreren Ego-States:

•kann eine neue Beziehungsdimension fördern oder überhaupt erst ermöglichen, z. B. die Beziehung zu einem bis dahin eventuell nicht bewusst erlebten Ego-State (wichtigen Anteil der eigenen Persönlichkeit)

•kann somit eine neue Beziehung zu sich selbst ermöglichen, die durch Integration der Persönlichkeit gekennzeichnet ist

•bietet die Möglichkeit der Konfrontation mit traumatischem Material

•bietet die Möglichkeit der Arbeit mit dem traumatischen Narrativ

•bietet die Möglichkeit einer nachträglichen Versorgung

•erlaubt die Verknüpfung der traumatischen mit ressourcenreichen Erfahrungen

•bietet den Einstieg zu weiteren Interventionsbereichen wie körperorientierter Arbeit, kognitiver Arbeit oder weiteren

•erlaubt die Würdigung des geschehenen Unrechts und des erlittenen Leids und kann gleichzeitig als Zeugenschaft genutzt werden

•ermöglicht das Begreifen und Erfahren der Bedürfnisse in Anbetracht der traumatischen Ereignisse

•stellt eine Voraussetzung für das Gelingen eines traumaassoziierten Trauerprozesses dar.

Vieles spricht für die Begegnung mit Ego-States. Um diese möglichst positiv und förderlich gestalten zu können, ist es wichtig, sich mit der Typologie von Ego-States vertraut zu machen.

3.2Typologie von Ego-States

Der Abschnitt beginnt wiederum mit einem Fallbeispiel:

Fallbeispiel 8

Es brauchte einige therapeutische Bemühungen in dem vorgestellten Fall, bis die Funktion der Symptomatik der Patientin dechiffriert war und verstanden werden konnte. Erst dann ließ sie sich leichter in Zusammenhang mit den anderen, völlig gegensätzlich wirkenden Seiten der Patientin bringen.

Der Anlass für die psychotherapeutische Behandlung war sehr schambesetzt. Die Patientin berichtete zögerlich von ihren Problemen, die dadurch entstanden waren, dass sie wiederholt und unkontrolliert Dinge stehle, die sie erstens gar nicht benötige und zweitens ohne Schwierigkeiten hätte bezahlen können. Es handelte sich ausschließlich um geringwertige Waren, wie Zitronen, Zwiebeln, Tassen, kosmetische Artikel und Ähnliches. Die Patientin wurde dabei immer entdeckt und mittlerweile auch strafrechtlich verfolgt. Nach ersten Verwarnungen, Hausverboten und Geldstrafen verbüßte sie bereits eine zweimonatige Haftstrafe. Das Stehlen habe sie nach der Haft nicht unterbinden können, sodass ihr aktuell eine zweite, längere Haftstrafe drohe. Die Patientin leide sehr unter diesen Problemen und gehe seit Anfang des Jahres nur noch in Begleitung von Familienangehörigen einkaufen. Sie konnte nicht sagen, warum sie die Dinge gestohlen hat, und hatte keine Idee, womit dieses Verhalten zu tun haben könnte. Ebenso war es ihr unmöglich zu reflektieren, was in ihr vor, während und nach einem Diebstahl genau geschehe. Das Stehlen laufe wie eine spontane Impulshandlung ab und sei weder geplant noch würde sich die Handlung auf irgendeine Art ankündigen.

Die Patientin wirkte sehr verunsichert, vorsichtig und bedacht. Sie versuchte, sich korrekt zu verhalten. Sie achtete auf ihr äußeres Erscheinungsbild und wählte ihre Worte. Sie habe schon immer gerne gelesen und sich als Kind für Mathematik und Physik interessiert. Das Lesen wurde zu ihrer wichtigsten positiven Beschäftigung. Als Stärke würde sie es nicht bezeichnen. Das käme ihr übertrieben vor. Sie zeigte sich sehr bescheiden und zurückhaltend, sobald es um eigene Stärken ging. Trotzdem konnte sie auffällig viel und ausführlich von verschiedenen Bereichen der Literatur und Naturwissenschaft berichten, für die sie sich interessierte. Sie schien sich dabei zeitweilig fast zu vergessen, blühte irgendwie auf und geriet offensichtlich in einen sehr positiven Zustand. Wir konnten interessante kreative Gespräche über die entsprechenden Themen führen, ohne dass dabei irgendein Schatten im Raum geschwebt hätte.

Andererseits erzählte sie von dramatischen Erlebnissen aus ihrem Leben. Als ein in Deutschland geborenes Trennungskind eines Paares mit Migrationshintergrund habe sie immer Angst davor gehabt, dass ihr Vater seine Drohung wahrmachen und sie gegen ihren Willen in sein Heimatland holen würde, in das er mittlerweile zurückgekehrt war. Sie hatte die Schule noch nicht beendet, als sie einem fremden und deutlich älteren Mann zugesprochen wurde, der sie – ohne dass sie sich hätte dagegen wehren können – mit in eine andere Stadt nahm und dort förmlich versklavte. Ohne Kontakte nach außen war sie plötzlich anhaltender brutaler körperlicher und sexueller Gewalt ausgesetzt. Dies hielt mehrere Jahre lang an und wurde zunehmend schlimmer. Den Schulabschluss und den Beginn einer Ausbildung verbot er, ebenso den Zugang zu gesundheitlicher Versorgung und eigene soziale Kontakte. Die Patientin lebte eingesperrt in permanenter Angst vor den massiven Gewaltattacken des Ehemannes.

Das Stehlen habe in der fremden Stadt begonnen und sich zeitgleich zu den Gewaltexzessen und der Freiheitsberaubung des Mannes entwickelt, einige Monate nach der Zwangshochzeit. Mit zunehmender Gewalt wurde auch das Ausmaß des Stehlens größer, ohne dass der Patientin dies bewusst war. Die strafrechtliche Verfolgung einschließlich der Haftstrafe änderte nichts daran. Nach sieben Jahren gelang der Patientin die Flucht aus der Ehe. Mithilfe eines Anwalts konnte sie einen gewissen Schutz erwirken. Sie lernte einen verheirateten Mann kennen und wurde von ihm schwanger. Die Konflikte häuften sich. Dieser Mann weigerte sich, mit ihr und dem gemeinsamen Sohn zusammenzuleben. Die Trennung folgte und löste bei der nun alleinerziehenden Patientin das (alte) Bedrohungserleben sowie entsprechende Ängste aus. Bald richteten sie sich auf die Befürchtung, dass der Kindesvater ihr den gemeinsamen Sohn entführen könnte, eine Angst, die sie aus der eigenen Geschichte sehr gut kannte. Das Stehlen trat wieder vermehrt auf.

Im Modell der Ego-State-Therapie werden drei Typen von Ego-States unterschieden (Fritzsche 2018a, S. 74 ff.):

1)Grundsätzlich ressourcenreiche Ego-States / weitgehend konfliktfreie Ego-States / gesunde Anteile

2)Traumatisierte Ego-States / Ego-States, die das überwältigende traumatische Erleben »tragen« / erlebende Anteile

3)Bewältigende / traumakompensatorische Ego-States / destruktiv wirkende Ego-States / Ego-States, die eine Bewältigungsstrategie entwickeln, die sich meist in Form von Psychopathologien zeigt

Alle drei Typen von Ego-States wurden bei der Patientin in dem Fallbeispiel deutlich. Ihr Interesse für das Lesen, für Literatur und Naturwissenschaft stellt einen grundsätzlich ressourcenreichen Ego-State dar. Im Lebenslauf der Patientin, der von zunehmender Traumatisierung geprägt war, geriet dieser Ego-State sowie der gesamte mit ihm verbundene Lebensbereich mehr und mehr in den Hintergrund, bis er gar nicht mehr erlebt wurde. In der Behandlung ließ er sich jedoch wieder reaktivieren und neu nutzen. Grundsätzlich ressourcenreiche Ego-States lassen sich auch in Zusammenhang mit psychologischer Wundheilung verstehen (Fritzsche 2018a, S. 76), die dem Organismus angeboren ist und zur Verfügung steht. Die psychologische Wundheilung, die auf dem Boden von sicheren Bindungs- und liebevollen Beziehungserfahrungen wächst, kann aufgrund von traumatischen Erlebnissen deutlich gestört sein und muss in solchen Fällen zum Teil sehr mühsam und kleinschrittig wiederaufgebaut werden. Je früher ein Mensch traumatischen Ereignissen ausgesetzt ist, desto schlechter wird die Fähigkeit der psychologischen Wundheilung ausgeprägt und desto schwieriger wird es, Kontakt zu grundsätzlich ressourcenreichen Ego-States zu knüpfen. Die Suche nach ihnen bleibt trotzdem unerlässlich. Zu den wichtigsten grundsätzlich ressourcenreichen Ego-States gehören die Ego-States der inneren Stärke, innere Helferinnen und Helfer, innere Beobachterinnen und Beobachter, die innere Weisheit sowie weitere derartige Ego-States (Fritzsche 2018a, S. 75 ff. und S. 221 ff.).

 

Im Fallbeispiel wird ein traumatisierter Ego-State deutlich. In diesem Ego-State sind die traumatischen Schrecken verkörpert, die Gewalt, die Ohnmacht, der Schmerz, die Unterwerfung, die Angst, die Erstarrung, das Eingefrorensein, die Einsamkeit und die Scham. Traumatisierte Ego-States spüren diese Zustände, sie erleben sie gegenwärtig. Ähnlich der Beschreibung von Flashbacks befinden sie sich sozusagen mitten in einer traumatischen Situation oder in traumaassoziierten Zuständen. Diese Ego-States verfügen nicht über eine zeit- und räumliche Distanz zum Trauma. Sie können keine Außenperspektive einnehmen, nicht darüber reflektieren. Sie befinden sich in einem der traumaphysiologischen Stadien, das heißt im Kampf- oder Fluchtmodus, im Modus des Eingefrorenseins, der Erstarrung oder der Unterwerfung. In vielen Fällen haben die traumatisierten Ego-States keinen Kontakt mit Ego-States der beiden weiteren Typen. Ebenso haben viele traumatisierte Menschen keinen Kontakt zu ihren traumatisierten Ego-States, sie vermeiden ihn bewusst oder unbewusst.

Der destruktiv wirkende bewältigungsorientierte bzw. bewältigende Ego-State der Patientin aus dem Fallbeispiel suchte nach Bewältigungs strategien. Das unkontrollierte Stehlen kann als Hilferuf, Fluchtverhalten und Schutzmaßnahme verstanden werden. Die Strategie bestand darin, das Stehlen als Ausstiegsstrategie aus der anhaltenden traumatischen Lebenssituation zu nutzen und sich in Sicherheit zu bringen, sicher vor dem Zugriff des traumatisierenden Ehemanns und im übertragenen Sinn auch sicher vor dem damals befürchteten Zugriff des eigenen Vaters sowie aktuell des Kindesvaters. Es ging darum, irgendwie aus der buchstäblichen Gefangenschaft des Ehemanns herauszukommen sowie das drohende Kidnapping abzuwenden, mit allen Mitteln und um jeden Preis. Obwohl sich die Strategie für den bewältigenden Ego-State als erfolgreich erwies, da die Patientin strafrechtlich auffiel und sogar zwei Monate in Haft musste, wo sie in Sicherheit war, zeigt sich hier das innere Drama in Form von fehlendem Kontakt der Patientin zu ihren Ego-States sowie von fehlendem Kontakt zwischen dem bewältigenden und dem traumatisierten Ego-State. Es gelang der Patientin nicht, die Strafbehörden von den Traumatisierungen und dem Freiheitsentzug ihres Mannes zu informieren und sich adäquate Hilfe zu holen. Sie verhielt sich unterwürfig, angepasst und schweigsam. Eine zeitweilige Unterbrechung der Traumatisierungen gelang. Die nachhaltige Hilfe missglückte. Dafür hätte es den Kontakt zum und im inneren System gebraucht.

Für destruktiv wirkende bewältigende Ego-States kommen eine Vielzahl an Bewältigungsstrategien infrage, die den Patienten in den meisten Fällen nicht bewusst sind. Ein Beispiel stellt die Dissoziation traumatischer Erlebnisse und des traumatischen Erinnerungsmaterials dar. In diesem Fall wären den Patienten Traumainhalte und Traumaerleben durch die Dissoziation nicht mehr bewusst zugänglich. Aus der Sicht der destruktiv wirkenden bewältigenden Ego-States würde dies eine praktikable und funktionale Lösung darstellen (kein Problem, sondern die Lösung). Aus den Augen, aus dem Sinn. Traumatischer Stress würde sinken. Die Vermeidung des Kontakts mit Traumamaterial ließe sich für diese Ego-States ebenfalls mittels Substanzen (Alkohol, Drogen) oder psychotischem Erleben realisieren. Das Erleben könnte in Verhalten, Denken, Körperempfinden und Emotionalität eingeschränkt werden, was ebenfalls eine Distanz zu traumatischem Material schafft. Eine Überkompensation, wie zum Beispiel im Rahmen einer Zwangsstörung oder auch Unterwerfung, also einem typischen Beziehungsverhalten, käme alternativ infrage.

Die Strategien der destruktiv wirkenden bewältigenden Ego-States dienen zum großen Teil dem Schutz vor der inneren und äußeren Konfrontation mit traumaassoziierten Reizen. Sie zeigen sich als psychopathologische bzw. physiologische Symptome. (Weitere Funktionen dieser Ego-States werden in Abschnitt 7.6 erläutert.)

Die Strategien dieser Ego-States dienen weiterhin insgesamt dem Schutz sowie der Befriedigung von psychischen und physischen Grundbedürfnissen. Für diese komplexen Aufgaben braucht es Zuständigkeiten, Grawe nennt sie motivationale Schemata (Grawe 2004, S. 188). Die destruktiv wirkenden bewältigenden Ego-States übernehmen diese Zuständigkeit. Sie entwickeln Bewältigungsstrategien, die unmittelbar/kurzfristig funktional, jedoch langfristig dysfunktional sind.

Die beiden Typen von Ego-States:

1)Traumatisierte Ego-States / Ego-States, die das überwältigende traumatische Erleben »tragen« / erlebende Anteile

2)Destruktiv wirkende bewältigende Ego-States / Ego-States, die eine Bewältigungsstrategie entwickeln,

entsprechen der von Sack formulierten Kategorisierung von Traumafolgesymptomen (Sack 2013, S. 19). Er unterscheidet (A) eine primäre posttraumatische Symptomatik, die sich vor allem durch intrusive Symptome, traumaassoziierte Ängste, dissoziative Reaktionen, Übererregbarkeit und triggerbare körperliche Stressreaktionen auszeichnet, von (B) einer sekundär posttraumatischen (traumakompensatorischen) Symptomatik in Form von Vermeidungsverhalten, sozialem Rückzug, Scham, Schuldgefühlen, Selbstwertproblemen, Suchtmittelkonsum, Zwangshandlungen und anderem. Primär entspricht hinsichtlich der Typologie der Ego-States dem traumatischen Erleben der traumatisierten Ego-States. Sekundär/traumakompensatorisch entspricht der Bewältigungsorientierung der destruktiv wirkenden bewältigenden Ego-States.

An dieser Stelle sei daran erinnert, dass nicht jedes Bewältigungsverhalten dysfunktional ist und zu psychopathologischen und pathophysiologischen Störungen führt. Wir sehen jedoch in unseren Praxen vor allem die Menschen, bei denen dies das Fall ist. Die Bezeichnung destruktiv wirkend deutet darauf hin, dass sich die Strategien häufig in Form von Symptomen destruktiv zeigen und als destruktiv wirken, dass sie vom Organismus jedoch nicht destruktiv, sondern vielmehr konstruktiv, also als Lösungsversuch entwickelt wurden. Sie entstanden aus der Not heraus. Wenn beispielsweise ein früh verwahrlostes Kind, das sexuellem Missbrauch und körperlicher Gewalt ausgesetzt ist, erlebt, wie es auf wundersame Weise innen im Körper so schön warm wird, nachdem es die Neigen der Schnapsgläser ausgetrunken hat und somit einen Weg zu dieser ersehnten inneren Wärme findet, dann ist der spätere Weg in eine Alkoholabhängigkeit, die sich sehr destruktiv zeigen kann, nicht weit.

Die Unterscheidung der Typen der Ego-States gehört zu den basalen Konzepten des Ego-State-Modells und ist im Hinblick auf die Gestaltung der Behandlung sehr wichtig. Alle drei Typen benötigen ein eigenes Beziehungsangebot, das wir beachten müssen, wenn wir sie in die Therapie einbinden wollen. Die grundsätzlich ressourcenreichen Ego-States werden reaktiviert und als Ressourcen, sozusagen als Helferinnen und Helfer einbezogen. Die traumatisierten Ego-States benötigen eine Akutversorgung. Sie befinden sich mitten im Trauma und haben meistens keine Zeit für langes Reden. Sie brauchen Hilfe. Auf die Schwierigkeiten, die beim Helfen auftreten können, wird im zweiten Teil des Buches eingegangen. Die destruktiv wirkenden bewältigenden Ego-States werden vor allem gewürdigt. Sie fühlen sich oft falsch verstanden und können nicht nachvollziehen, warum ihre Strategie dysfunktional sein soll. Eine solche Zuschreibung erleben sie als Kränkung. Aus ihrer Sicht konnte das gesamte innere System, also der Organismus, nur aufgrund ihrer Strategie, also durch ihre Vehemenz und Konsequenz, durchkommen. Was soll daran schlecht sein? Ohne sie wären das Überleben, das Durchkommen, die Distanz zum Trauma und das Funktionieren nicht möglich gewesen. In Anbetracht dieser Leistung werden sie indirekt unangemessen heftig kritisiert, abgewertet und angegriffen. Die Therapie hat es auf ihre Strategien abgesehen, die sie möglichst umgehend einstellen sollen. Sie gehen also in Stellung gegenüber der Arbeit der Therapeutin oder des Therapeuten, die sie als Angriff erleben. So leicht lassen sie sich verständlicherweise nicht in die Arbeitslosigkeit und Vergessenheit schicken.

3.3Die Entstehungsmechanismen von Ego-States

In den Erläuterungen zur Definition und Typologie der Ego-States wurden die Entstehungsmechanismen bereits erwähnt. Ego-States dienen dem Schutz und der Befriedigung von psychischen und physischen Grundbedürfnissen. Das Bedürfnis, zu überleben, kann als den von Grawe formulierten vier psychischen Grundbedürfnissen übergeordnet betrachtet werden (Grawe 2004, S. 186; Fritzsche 2018a, S. 38 ff.). Diese vier Grundbedürfnisse sind:

•das Bedürfnis nach Orientierung, Kontrolle und Kohärenz

•das Bedürfnis nach Lust

•das Bedürfnis nach Bindung und

•das Bedürfnis nach Selbstwertschutz und Selbstwerterhöhung.

Die traumaphysiologischen Stadien: Kampf/Flucht, Erstarrung (freeze) und Unterwerfung (submit) können als physiologische Bewältigungsformen des Organismus in Konfrontation mit traumatischem Geschehen angesehen werden. Auch dafür gibt es Zuständigkeiten und auch für diese Zuständigkeiten zeichnen sich Ego-States als verantwortlich, das heißt, sie werden vom Organismus entsprechend beauftragt.

Ego-States entwickeln eigene Strategien, um ihre Aufträge möglichst gut zu erfüllen. Sie würden diese Strategien nicht heftiger ausfallen lassen, als es notwendig war. Heftige Strategien in Form von heftigen Symptomen sind Anzeichen für »heftige« Traumatisierungen. Sie sind nicht »aus Spaß« oder »aus Versehen« derart ausgeprägt. Dieser Umstand ist vielen Patientinnen und Patienten nicht klar bzw. sie versuchen, ihn nicht zu nahe an sich herankommen zu lassen, da er sehr ambivalent besetzt ist. Einerseits kann es hilfreich sein, das eigene, als sehr heftig erlebte traumakompensatorische Symptom besser einordnen zu können. Andererseits ist es für viele Betroffene schwer, daraus ableitend die Intensität oder das Ausmaß der Traumatisierung zu realisieren. Beispielsweise die gesamte Kindheit und halbe Jugend nicht erinnern zu können, stellt eine starke Ausprägung von Amnesie dar. Sie ist kein Beweis für die Existenz von Traumatisierungen. Aber sie lässt ebenso wenig auf eine glückliche Kindheit schließen. Rückschlüsse auf zugrunde liegende Traumatisierungen sind sehr komplex und erfordern eine große Sorgfalt und Erfahrung.

Um zu überleben und nicht »verrückt« (psychotisch) zu werden, muss der Körper also mindestens zwei Prozesse bewerkstelligen: Die überflutenden traumatischen Eindrücke müssen intern kontrolliert und unzugänglich verwahrt werden. Gleichzeitig werden Bewältigungsstrategien für die Konfrontation mit traumatischem Material benötigt, die durch eine Vielzahl von inneren und äußeren Reizen ausgelöst werden kann. Ego-States entstehen für beide Prozesse. Die einen tragen die (psychische und physische) traumatische Erfahrung. Sie wird ihnen sozusagen aufgehalst, als wären sie eine Art Endlager. Die anderen gewährleisten die Distanz zu den traumatisierten Ego-States und zum traumatischen Material und sorgen für die (möglichst ungestörte) Funktionalität im Lebensalltag.