Dezemberkids

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3

Wie ist es passiert? So sollten die Jugendlichen im Viertel fragen, die nicht dabei waren, als es geschah. Jussef, Anfang zwanzig, würde dann bis ins Detail den Vormittag des 3. Februar 2016 beschreiben, der ein Mittwoch war.

Es war wieder ein Regentag und vielleicht 10 Uhr morgens. Eine schwarze Limousine mit getönten Scheiben fuhr vor, hielt am Rand des Bolzplatzes der Cité du 11-Décembre in Dely Brahim. Schon seit Tagesanbruch regnete es, in dichten Schnüren. Der Chauffeur stieg eilig aus, mit zwei geöffneten Regenschirmen bewaffnet, die er den beiden Insassen hinhielt, die aus dem Wagen kletterten.

Der Erste, General Saïd, war ein Mann von kleinem Wuchs mit klar konturiertem Schnauzbart, er trug eine kantige Brille mit getönten Gläsern. Er hatte glattes schwarzes Haar, ansatzweise grau meliert und straff nach hinten gebürstet, mit Seitenscheitel.

Jussef würde hinzufügen, dass etwas Eisiges von ihm ausging, das sich kaum beschreiben liesse. Er würde stammeln: »Wisst ihr, wie wenn man eine Schlange sieht, keine fette Schlange, keine Boa oder so, aber eine ganz kleine, die dich auf eine Art ansieht, dass du vor Angst wie gelähmt bist und Gänsehaut bekommst.«

Die anderen Jugendlichen, die an jenem Morgen dabei waren, nicken lebhaft.

»Ein Typ, der einem nicht geheuer ist«, würde einer von ihnen ergänzen.

Der Zweite, General Athman, war ein glatzköpfiger Riese mit buschigen Augenbrauen. Er war ganz glatt rasiert, der erste Armeeangehörige ohne Schnauzbart, den Jussef in seinem Leben sah. Er hatte ein feines, maliziöses Lächeln, das ihn selbst auf dem Höhepunkt der Schlägerei nicht verliess. Knapp siebzig dürften die Generäle sein, würde Jussef abschliessend noch bemerken, und in einer trotz ihres Alters phantastischen Verfassung, und beide hatten sie dunkle Anzüge und schwarze Wollmäntel an.

Nachdem er ihnen die Schirme gereicht hatte, zog der Chauffeur sich wieder hinter sein Steuer zurück, wo er reglos verharrte. Die beiden Männer betraten den Bolzplatz. In aller Ruhe setzten sie ihre Schritte, wie beim Spaziergang. Nach ein paar Metern blieben sie stehen und zogen Pläne aus ihren Taschen.

»Wir sassen nicht weit weg und rauchten. Wir haben zu ihnen hinübergeschaut, weil es so seltsam war, wie sie da standen, mitten im Schlamm, im strömenden Regen«, fuhr Jussef fort.

Keiner der beiden Generäle achtete auf Adila, die ehemalige Mudschahida, die sie vom Fenster ihres Hauses aus beobachtete. Rasch warf sie einen Mantel über ihr Kleid, schlüpfte barfuss in ihre Schuhe, ohne nach Strümpfen oder Socken zu suchen, griff nach ihrem Gehstock und war husch, husch die paar Treppenstufen in ihrem alten Haus hinunter, öffnete die Tür, noch ein paar Stufen, und schon stiess sie das schmiedeeiserne Gartentor, das sie nie abschloss, auf und humpelte auf die beiden Generäle zu, wobei ihre Füsse tief in die feuchte Erde einsanken. Ihr rechtes Bein tat ihr höllisch weh, seit sie vor ihrem Haus so gestürzt war.

Adila war klein und brünett und hatte einen Kurzhaarschnitt. Im Algerienkrieg hatte sie mit der Waffe in der Hand gegen die Franzosen gekämpft, und während der Jahre des Terrorismus hat sie weitergekämpft. Die Kids vom Bolzplatz kennen sie gut, sie feuert sie oft von ihrem Fenster aus an und wirft ihnen immer gern die Bälle zurück, wenn sie wieder einmal hinter ihrer Gartenmauer landen.

»Guten Morgen, meine Herren.«

Die Generäle erwidern ihren Gruss mit breitem Lächeln und einem warmherzigen »salam«.

»Ich bin General Athman, und das hier ist mein guter Freund, General Saïd.«

»Ich bin Adila.«

General Athman hält ihr seinen Schirm hin: »Nehmen Sie ihn, Madame, Sie werden sich noch erkälten.«

»Nein, danke, vor ein bisschen Wasser ist mir nicht bange, aber Sie machen sich Ihre schönen Schuhe schmutzig. Was führt Sie denn hierher?«

General Saïd lächelt ihr zu. Er ist so klein, dass er sie kaum um ein paar Zentimeter überragt. Adila hat schon von ihm gehört. Die Hälfte der Geschichten, die über ihn in Umlauf sind, fangen mit diesem eiskalten Lächeln an.

»Wir wollten unser Grundstück in Augenschein nehmen. In ein paar Monaten gehen die Bauarbeiten los. Deshalb sind wir hier, und wir haben unsere Baupläne dabei. Ich freue mich, Sie bald als Nachbarin zu haben, Madame Adila. Ich bin einer Ihrer grossen Bewunderer. Sie haben so viel geleistet für unser Land.«

Ein höhnisches Kichern lässt sie alle drei herumfahren. Lautlos hat sich die alte rothaarige Nachbarin genähert. Ihr gelbes Kleid klebt nass an ihrem Körper, modelliert deutlich Brüste und Po. Sie zeigt mit dem Finger auf die Generäle und kreischt: »Man will euch hier nicht! Man will euch hier nicht!«

Adila versucht, sie schnell vom Bolzplatz wegzuziehen. Jussef und seine beiden Freunde sehen, wie sie näher kommt. Rasch werfen sie ihre Zigaretten weg, drücken sie mit dem Fuss aus.

Die verrückte Alte in Adilas Schlepptau kichert noch immer: »Sie nehmen ihn euch weg, alles nehmen sie euch weg! Dann gibt es hier gar nichts mehr! Alles werden sie euch wegnehmen, alles! Ihr werdet schon sehen, die werden uns verschlingen mit Haut und Haar!«

»Und was ist dann passiert?«, bestürmen die Jugendlichen ungeduldig Jussef.

»Na, dann haben wir losgelegt! Alle drei. Und dann ist es schnell aus dem Ruder gelaufen.«

Der eine der beiden, die dabei waren, als es hoch herging, bestätigt: »Wir mussten uns doch wehren. Sie haben uns provoziert.«

Und der andere ergänzt: »Und dieser Angsthase von Chauffeur hat die Gendarmen zu Hilfe gerufen. Da meinte Jussef, es wäre besser, wenn wir uns vom Acker machten, während er und die Mudschahida Adila weiter auf die Generäle eindroschen.«

»Ich wollte nicht, dass die Gendarmen euch verhaften! Ihr seid nicht aus der Siedlung. Ich hatte Angst, dass ihr am Ende wegen unserem Bolzplatz Probleme bekommt. Und eure Eltern hätten sie auch mit hineinziehen können.«

»Dir können sie aber auch Schwierigkeiten machen.«

Jussef zuckt nur mit den Achseln.

4

Wie ist es passiert? So sollten die pensionierten Militärs am Abend des 3. Februar ihre Freunde, Oberst Mohamed und Oberst Scherif, fragen, die den Streit zwischen den Generälen und den Jugendlichen miterlebt hatten. Sämtliche Männer, die da am Rand des Stadions stehen, sind hochrangige Offiziere, Oberst oder Oberstleutnant. Alle in den Sechzigern, nennen sie sich selbst »die jungen Pensionäre« und warten geduldig, dass auch für sie die Stunde an der Spitze des Staates schlägt. Der Armee haben sie, sobald sie konnten, nach ungefähr dreissig Dienstjahren den Rücken gekehrt. Die meisten von ihnen hatten sich gleich nach dem Abitur dort verpflichtet, um ihr Studium zu finanzieren und beim Aufbau des Landes mit dabei zu sein. In den siebziger Jahren machte die Armee jungen Leuten das Angebot, ihnen für die Dauer ihres Studiums ein monatliches Gehalt zu zahlen, als Gegenleistung für fünfundzwanzig Jahre Dienstverpflichtung ohne jede Möglichkeit, vorzeitig auszuscheiden. Kaum waren sie im Ruhestand, haben sie sich gleich wieder Arbeit gesucht. Im Geschäftsleben, an der Universität oder indem sie eigene Consultingfirmen gründeten.

An diesem Mittwochabend im Februar sind es ihrer ein halbes Dutzend, die sich da um Mohamed und Scherif scharen. Alle beben sie vor Ungeduld, eine köstliche Anekdote witternd, die Mundwinkel schon spöttisch verzogen, gieren sie nach Einzelheiten. Sie bedrängen Mohamed und Scherif wie Kinder, die vor dem Einschlafen auf ihrer Gutenachtgeschichte bestehen.

Und die beiden Männer lassen sich nicht lange bitten.

»Wir wussten gleich, dass das nur Generäle sein konnten, selbst wenn wir zu weit weg waren, um sie zu erkennen. Gepanzerte Limousine, ein Chauffeur, der ihnen die geöffneten Regenschirme hinhielt, ihr seht schon, was ich meine«, würde Mohamed erklären.

»Die klassischen Kennzeichen halt«, würde Scherif nachschieben.

Mohamed und Scherif sind alte Freunde. Sie kennen sich seit ihrer Zeit auf dem Gymnasium in Constantine. Beide waren sie dort im Internat, sind dann zusammen zum Studium nach Algier gegangen, haben am gleichen Tag den Vertrag mit der Armee unterzeichnet und ihn am Abend desselben Tages gemeinsam begossen, haben im Abstand von einigen Monaten geheiratet und sind beide mit dem Grad eines Obersten in den Ruhestand gegangen, vor ungefähr zehn Jahren war das.

Seitdem unterrichten sie einige Stunden wöchentlich an der Universität und treffen sich täglich, um durchs Viertel zu schlendern. Gemeinsam diskutieren sie über Gott und die Welt, reden über ihre ärmliche Kindheit in den Dörfern im Osten des Landes, ihre Zeit in der Armee, den jahrelangen Kampf gegen den Terrorismus während der Schwarzen Dekade, die unglaubliche Bürokratie der Armee, die kleinen Demütigungen durch die Chefs, die Eifersüchteleien mancher Kollegen, die weniger Diplome als sie vorweisen konnten, die vielen Soldaten, die im Kampf ihr Leben liessen, die Kälte in den Kasernen während der Grundausbildung, die Entbehrungen, den beruflichen Aufstieg, der zwar langsam, aber am Ende dann doch kam. Schliesslich haben sie die Armee mit einem der höchsten Dienstgrade verlassen, und nicht selten übergehen sie die traurigen Episoden, erinnern sich lieber an die Regimentswitze, die Freundescliquen oder das Ende des Terrorismus, das auch, ja, vor allem an das Ende des Terrorismus.

Mohamed hat aus freien Stücken den Dienst quittiert, kaum dass er mit dem Bau seines Hauses fertig war, der ihn mehr als fünfundzwanzig Jahre in Atem hielt. Scherif dagegen hat lange gezögert, den Antrag zu stellen, obwohl er die reguläre Dienstzeit längst erreicht hatte und es ihm freistand zu gehen. Einige Monate nach seiner Verabschiedung hat Mohamed dann den Freund angerufen, um ihn zu überzeugen, dass es auch für ihn an der Zeit sei, ins zivile Leben zurückzukehren: »Wenn du zu lange wartest, wird die Armee dich entlassen, und das steht dann für immer so in deinen Papieren.«

 

»Ich weiss, aber ich bin noch nicht so weit.«

»Bei mir steht ›auf eigenen Wunsch aus dem Dienst ausgeschieden‹. Ich bin ein freier Mann, nicht wie diese Militärs, die warten, bis man sie rauswirft, und die dann den Rest ihrer Tage damit verbringen, total deprimiert im Offizierskasino herumzuhängen.«

»So werde ich niemals enden!«

»Über die, die den Absprung nicht schaffen, macht man sich lustig, und ich will nicht, dass es dir ebenso geht. Warte bloss nicht zu lange, sonst werden sie dich am Ende noch demütigen. Und weisst du, wie es dann weitergeht?«

»Ja … sie werden mir eines Morgens ein Schreiben schicken, um mir mitzuteilen, dass ich meine Sachen packen, meine Dienstmarke abgeben, meinem Chauffeur ade sagen und mein schönes Häuschen binnen drei Monaten räumen muss.«

»Genau so, und in diesen drei Monaten musst du dich komplett neu organisieren, musst eine Wohnung und eine neue Arbeit finden, denn dein Ruhegehalt wird dir kaum genügen, all das …«

»Ich weiss, aber ich bin jetzt dreissig Jahre bei der Armee, was sollte ich denn im zivilen Leben mit mir anfangen?«

»Weisst du, Scherif, ich kenne Leute, die lebten in ihrer Dienstvilla wie du und fanden sich über Nacht im Ruhestand wieder, mit der Auflage, sich schleunigst zu verziehen. Du musst in die Gänge kommen. In Dely Brahim, gleich neben meinem, ist ein Haus zu verkaufen, der Mann ist gestorben, die Frau braucht dringend Geld und will das Haus, so schnell es geht, abstossen.«

»Ich weiss nicht, ob ich mir das leisten kann, in Dely Brahim zu leben.«

»Leih dir Geld von irgendwem, du wirst es zurückzahlen. Ich werde dich mit der Witwe in Kontakt bringen, sie ist ein wenig deprimiert und sehr einsam, ihre Kinder leben in Kanada und sind noch nicht mal zur Beerdigung des Vaters zurückgekommen! Sie hat keine Ahnung, was das Haus wirklich wert ist, ich bin sicher, du wirst es zu einem guten Preis erstehen können. Und im Zivilsektor gibt es unendlich viele Möglichkeiten für junge Armeepensionäre, die seriös sind wie wir, dazu diplomiert und perfekt zweisprachig. Da findet man immer Arbeit!«

Und Scherif beantragte die Versetzung in den Ruhestand und zog zu Mohamed nach Dely Brahim.

Immer wenn sie über Politik reden oder die Regierung kritisieren wollten, gingen sie spazieren, kreuz und quer durchs Viertel. Sie wussten ja, sie wurden abgehört, überwacht, beschattet. Es kam vor, dass sie den Wagen eines Typen vom Geheimdienst gerade gegenüber ihrem Zuhause entdeckten. Den grüssten sie dann jedes Mal. Und der arme Kerl antwortete auch jedes Mal, ein wenig verlegen, aber nicht wirklich böse, enttarnt worden zu sein. Eines Tages schlug Mohamed ihm lachend vor: »Wenn du willst, geb ich dir eine Kopie meines Terminkalenders, dann ist es für dich leichter, mir zu folgen, wenn ich wegfahre. Ich habe nichts zu verbergen, das kannst du deinen Vorgesetzten mal ausrichten!«

Seit ihrer Rückkehr ins zivile Leben geniessen Scherif und Mohamed es, frei von der Leber weg reden zu können, das hat ihnen in all den Jahren bei der Armee doch sehr gefehlt. Sie haben die Zähne zusammengebissen, Karriere gemacht, hohe Dienstgrade bekleidet, dabei immer fest überzeugt, sie hätten sich insgeheim den rebellischen Geist ihrer Jugend bewahrt und seien gegen das System gefeit, sie gehörten ja nicht wirklich dazu. Als sie dann im Ruhestand waren und ihre Häuser in der Cité du 11-Décembre in Dely Brahim bezogen hatten, engagierten sie sich nach und nach in Oppositionsparteien, meldeten sich dort lautstark zu Wort, um alle wissen zu lassen, dass es einen politischen Wechsel brauche. »Jetzt sind wir an der Reihe«, wiederholten sie ein ums andere Mal im Verlauf ihrer zahllosen Spaziergänge. »Ja, bald sind wir dran.« Und dieses »Wir« umfasste die Männer ihrer Generation, die vor der Unabhängigkeit geboren waren und noch immer nicht ihren Platz in der Gesellschaft gefunden hatten, weil die noch Älteren sie daran hinderten. Dieses »Wir« war mehr als ein vager Traum. Es war ein Versprechen, ein Schwur. Eines Tages, davon waren Mohamed und Scherif überzeugt, würden diese Älteren das Feld räumen und ihren Platz an sie abtreten müssen.

An diesem 3. Februar, als General Saïd und General Athman auf dem Bolzplatz eintrafen, blieben die beiden Freunde auf Abstand und diskutierten weiter über die bevorstehenden Wahlen. Mohamed, der gerade eine Oppositionspartei gegründet hatte, redete seinem Freund zu, dort Mitglied zu werden. Es war ihm gelungen, ehemalige Minister, pensionierte Militärs, Universitätsprofessoren und zwei noch aktive Richter für seine Partei zu gewinnen. Scherif zögerte. Er mochte das Leben, wie es gerade war, ganz gerne und fürchtete eventuelle Repressalien gegenüber seiner Frau und den Kindern. Und ausserdem hatte er soeben einen lukrativen Vertrag als Kommunikationsberater bei der Provinz Constantine abgeschlossen. Wenn er jetzt in die Partei seines Freundes eintrat, würde der Gouverneur ihm dann nicht den Vertrag wieder kündigen? Das Geld konnte er gut gebrauchen, in Dely Brahim zu leben überstieg seine Mittel, doch das traute er sich seinem Freund nicht zu sagen.

Erst als sie immer heftigeres Geschrei vernahmen, hatten Mohamed und Scherif den Blick wieder dem Bolzplatz zugewandt und die Jugendlichen gesehen, die sich da mit den Generälen schlugen. Auch Adila war unter ihnen, die Mudschahida, die mit ihrer Krücke auf die beiden Männer einschlug, angefeuert von der Verrückten mit dem roten Haar: »Nur zu! Auf den Rücken! Auf den Hintern! Spalte ihnen den Schädel!« Die Szene kam ihnen so surreal vor, dass sie sekundenlang erstarrten und sich fragten, ob sie nicht Opfer einer Halluzination waren.

Dann aber spurteten sie los.

»Wir haben versucht, uns zwischen die Jugendlichen und die Generäle zu werfen«, erklärte Mohamed.

»Genau, versucht haben wir es, aber es war ganz schön kompliziert«, pflichtete Scherif ihm bei.

»Wir hatten Mühe, zu verstehen, was eigentlich los war. Am Anfang waren da nur ein paar Jugendliche, darunter mein Sohn Jussef, und ich habe ihn von dort weggedrängt, so gut ich konnte.«

»Er war wie besessen, ya Si Mohamed!«

»Ja, ich weiss nicht, was in ihn gefahren war …«

»Dann haben die Generäle ihre Waffen gezogen.«

»So war es, wir haben gesehen, wie sie die Waffen zogen.«

»Der Chauffeur ist im Wagen geblieben, er wirkte völlig verschreckt, der Feigling.«

»Aber dann hat er sein Handy genommen und wild herumtelefoniert.«

»Einer der Generäle hat einem der Jugendlichen einen ganz gemeinen Fusstritt verpasst!«

Unisono entfuhr allen Mündern tadelndes Gemurmel.

»Schämen sollten sie sich!«

»Man tritt keinen Mann unter der Gürtellinie, selbst wenn man General ist.«

Scherif fuhr fort: »Und dann bekam Jussef die Waffe des einen Generals zu packen, die der direkt auf ihn angesetzt hatte! Verzeih, Mohamed, aber dein Sohn hat da wirklich Bockmist verzapft.«

»Ich weiss … dabei ist es gar nicht seine Art, sich zu schlagen …«

»Ja, normalerweise ist er ein ganz besonnener Junge.«

»Du weisst doch, wie die Jungs heute so sind, hängen den ganzen Tag im Internet herum und denken am Ende, sie hätten das Recht, zu tun, was sie wollen.«

Die versammelte Männerschar drängte die beiden, die Geschichte weiterzuerzählen.

»Die beiden Generäle waren sehr überrascht, dass es meinem Sohn gelungen war, sich der Waffe zu bemächtigen.«

»Sie hatten gedacht, der blosse Anblick der Pistolen würde alle zur Räson bringen.«

Mohamed fügte erregt hinzu: »Die drei Jugendlichen haben das ausgenutzt, um sich auf die Generäle zu stürzen!«

»Es war unglaublich!«, bestätigte Scherif.

»Sie haben sie beleidigt! Sogar ihre Mütter haben sie beleidigt!«

»Die alte Adila hat gar nicht mehr aufgehört, mit ihrer Krücke auf die Generäle einzudreschen. Sie war schon ganz rot im Gesicht und konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, wegen ihres Knöchels und dem ganzen Schlamm.«

»Und dazu dann noch die Verrückte mit dem roten Haar, die auf einmal anfing, unsinniges Zeug zu kreischen. Uns war gar nicht wohl in unserer Haut.«

»Und dann sahen wir die Gendarmen anrücken.«

»Mein Sohn Jussef hat seine Freunde gewarnt und sie weggeschickt. Das waren Jugendliche aus dem Cheraga-Viertel. Er hatte Angst, die Gendarmen könnten sie sich am Ende noch schnappen. Ihre Eltern sind einfache Sekundarschullehrer …«

»Die Gendarmen haben Jussef und die alte Adila abgeführt. Die rothaarige Verrückte wäre am liebsten auch mit zur Gendarmerie gekommen, aber niemand wollte sich mit ihr abgeben.«

Die Militärs schütteten sich jetzt vor Lachen aus: »Die Generäle haben die Waffe gezogen, stellt euch das mal vor!«

»Ja, aber auf die Jugendlichen hat es gar keinen Eindruck gemacht.«

»Das hat den Generälen aber mal gutgetan, so eine kleine Abreibung!«

»Und die alte Adila mit ihrer Krücke, die auch mit dreingeschlagen hat!«

»Na klar, der Alten, der darf man nicht in die Quere kommen.«

»Die versteht keinen Spass!«

»Das hätte ich mal sehen wollen!«

Zwar stimmt Mohamed ins Gelächter seiner Freunde mit ein, denn er will ja Haltung zeigen, aber insgeheim macht er sich langsam Sorgen um seinen Sohn, der noch immer nicht heimgekommen ist. Er ist ihm nicht nachgelaufen, wütend, wie er war, über das Benehmen des jungen Mannes, aber je mehr Zeit verstreicht, umso weniger optimistisch sieht er den kommenden Dingen entgegen.

Hat man in Algerien je Generäle erlebt, die einer Revolte mit Wohlwollen begegnet wären?

5

Wie ist es passiert? So sollten die Gattinnen der beiden Generäle fragen, als diese wütend und gedemütigt nach Hause kamen. Und die Frage regte sie nur noch mehr auf.

General Saïd antwortete nicht gleich und ging erst mal in den Garten, ein paar Zigaretten rauchen. Seine Frau lief ihm nach und wartete brav auf der steinernen Bank, dass ihr Mann sich beruhigte. Doch der schäumte vor Wut, während er durch den Garten seiner grossen Villa tigerte und »diese Rowdys, diese Schufte, diese Terroristen« verfluchte.

General Athman dagegen trommelte seine Gattin und alle fünf Kinder im Wohnzimmer zusammen. Er wollte die ganze Familie um sich haben, bevor er berichtete, was passiert war. So machte er es immer.

Und irgendwann begannen sie dann beide zu erzählen.

Nach einstündiger Fahrt waren sie schliesslich auf dem Grundstück angekommen, einer Stunde Fahrt für eine Strecke, für die man normalerweise dreissig Minuten brauchte, aber dieser elende Regen, dazu der Schlamm und vor allem die Unfähigkeit der Algerier, anständig Auto zu fahren, das hatte halt alles verzögert. »Scheissland!«, rief General Saïd. Seine Frau nickte zustimmend. Als sie dann auf ihrem Grundstück eintrafen, und jeder General betonte mit Nachdruck: »auf MEINEM Grundstück«, achteten sie weder auf die alte Dame, die mit ihrem Krückstock um sie herumschlich, noch auf die zwei ins Gespräch vertieften Spaziergänger weiter hinten und noch viel weniger auf die Jugendlichen, die rauchend unter dem Vordach eines Hauses sassen, nur ein paar Meter von ihnen entfernt, doch die sie kaum wahrnahmen.

»In Wahrheit« – nüchtern gab Saïd es zu – »waren wir leichtsinnig. Wir haben uns reinlegen lassen wie blutige Anfänger.«

»Das kommt aber selten vor, dass du so wenig wachsam bist«, wunderte sich die Ehefrau.

»Ja, das soll mir eine Lehre sein, Pack versteckt sich überall, selbst bei den Kindern hoher Offiziere.«

Wenn die Generäle sich so in Sicherheit gewiegt hatten, dann auch, weil die meisten Häuser rings um die Freifläche ja im Besitz von Armeeangehörigen sind. Hier leben sie, zusammen mit ihren Kindern und Kindeskindern. Und hat einer mal sein Haus verkauft, dann an Ärzte, Architekten, Firmenchefs.

»Wir dachten, dass wir hier ganz unter unseresgleichen sind«, erklärte Athman seinen Kindern, »das soll uns eine Lehre sein. Traut niemandem, selbst dem nicht, der euch ähnlich ist. Saïd und ich hatten gedacht, dass wir dort in einem absolut sicheren Viertel sind.«

Beide Generäle waren ehrlich überrascht von dieser Attacke, gegen die sie so gar nicht gewappnet gewesen waren. Vielleicht hatte genau das sie am meisten schockiert. Was für ein Glück, dass der Chauffeur gleich den Sicherheitschef erreicht hatte und die Gendarmen so schnell vor Ort waren, aber den Jugendlichen blieb trotzdem noch genug Zeit, über sie herzufallen. Der Griff nach der Waffe war purer Selbstschutzreflex, aber rückblickend hat das die Jungs natürlich nur noch mehr aufgebracht.

 

In den rund fünfzig Jahren, die sie im Dienst ihres Landes verbracht hatten, hatten beide Generäle Zeit genug gehabt, sich eine grosse Zahl von Feinden zu machen, die sämtlich polizeilich erfasst sind, sämtlich abgehört, überwacht, beschattet werden. Unter ihnen politische Gegner, ganz klar, dazu ein paar Militärs, Minister, Kleinkriminelle, Journalisten, Nachbarn und sogar Mitglieder der eigenen Familie oder jener ihrer Frau.

Saïd und Athman empfangen regelmässig Berichte über ihre Feinde und die Lage im Land. Überzeugt, in Gefahr zu schweben, verwenden sie nur selten ihr verschlüsseltes Telefon, lassen Ermittlungen anstellen über jede Person, die Kontakt zu ihren Kindern hat, und kontrollieren regelmässig, ob ein Freund, ein Familienmitglied oder ein Hausangestellter ihnen nicht vielleicht eine Wanze ins Haus geschmuggelt hat. Müssen sie miteinander oder mit ihrer Frau über Geld, Transaktionen, Geschäfte oder ihre Auslandskonten reden, dann gehen sie in den Garten und verständigen sich im Flüsterton.

Nur die wenigsten wissen, wer General Saïd wirklich ist. Geburtstag, Geburtsort, Studium Fehlanzeige, man weiss einfach gar nichts über ihn. Selbst die engsten Kollegen wissen so gut wie nichts über diesen kleinen Mann, der ein Meister der Geheimhaltung ist. Und so weiss auch kein Mensch, dessen ist er sich sicher, dass er als Kind davon träumte, Tänzer zu werden, dass er null religiöse Prinzipien besitzt und ein Liebhaber der russischen Literatur ist, die er während seiner von der algerischen Armee finanzierten Ausbildung an der Seekriegsakademie in Leningrad kennenlernte, wo man ihm übrigens den Spitznamen »Knirps« verpasste.

General Saïd war einer der Drahtzieher der Säuberungen in den Neunzigern. Er hat verbissen jede Form von Islamismus bekämpft und darüber gewacht, dass alle Studenten mit Bart beschattet, belauscht, vorgeladen und durch die Mangel knallharter Verhöre gedreht wurden. Nie kamen ihm Zweifel an Sinn und Zweck der ihm von weiter oben anvertrauten Mission: den islamistischen Bewegungen im Land den Garaus zu machen.

Er ist ein überaus eleganter, immer gutgekleideter Mann. Seine Massanzüge lässt er in Italien schneidern, seine drei Kinder leben dank staatlicher Stipendien in Frankreich.

Es wird gemunkelt, dass General Saïd Anteile an mehreren Unternehmen des Landes hält. Dass in puncto Business in Algerien kein Weg an ihm vorbeiführt und dass jeder in der Entourage der Minister und des Präsidenten ihm auf die eine oder andere Art verbunden ist. Doch das am besten gehütete Geheimnis betrifft seinen Gesundheitszustand: Seit fast einem Jahr nagt der Krebs an ihm, und er erwägt den baldigen Wechsel in den Ruhestand. Dann wird er seine grosse Dienstvilla für den Nachfolger räumen müssen.

Und General Athman hat früher mal in England Jura studiert, finanziert von der algerischen Armee. Er ist eine stattliche Erscheinung, jemand, der seinen Charme mit Erfolg einzusetzen weiss, das genaue Gegenteil von seinem Freund, General Saïd.

Was keinem klar ist: Athman hat nie ein Diplom gemacht. Er hat seine Universitätsjahre in den Londoner Pubs verbracht und damit, Mary, einer jungen Engländerin, nachzustellen, die ihn von heute auf morgen sitzenliess. Mitte der siebziger Jahre kam er nach Algerien zurück, und die Armee nahm ihn mit offenen Armen auf. Er zeigte ein gefälschtes Diplom vor und bekam einen Posten im juristischen Dienst. Er heiratete ein Mädchen aus seinem Dorf und hatte Mary und London im Nu vergessen. Seinem Bruder gab er den Rat, ein Tiefbauunternehmen zu gründen, und schanzte ihm dank seiner Kontakte die grössten Baustellen des Landes zu.

Heute nennt er eine Wohnung in Genf sein Eigen und ein Hotel in Spanien, das auf den Namen seiner Frau eingetragen ist, dazu Gemälde grosser Meister, die er in seiner Pariser Wohnung versteckt, die auf den Namen eines seiner Kinder eingetragen ist, und zwei gepanzerte Limousinen. Dank seinem Schwager, dem Zolldirektor, kann er problemlos alles, was er will, über die Grenzen bringen und kassiert regelmässig die beschlagnahmte Ware ein.

Seine fünf Kinder wohnen bei ihm, selbst wenn die Ältesten, seine drei Söhne, schon verheiratet sind und jeder ein eigenes Kind hat. Athman legt Wert darauf, dass die ganze Sippe zusammenbleibt. Und niemand beklagt sich darüber.

Einmal im Monat erhält der General Besuch von einer Seherin, die den Faden der Zeit vor ihm entrollt. Sie nennt ihm die Daten, an denen er aufpassen muss, die Tage, an denen er sorglos aus dem Haus gehen kann. Auch kontrolliert sie, ob sein Haus nicht etwa verhext worden ist, ob auch niemand hinter einem Möbelstück eine Kleinigkeit, wie ein Amulett oder einen Fetzen Papier mit einer magischen Formel, hat fallen lassen, die Unglück über den General und seine Familie bringen könnte.

Bei ihrem letzten Besuch hatte sie ihn gewarnt: »Ich sehe Schatten, eine wachsende Menschenmenge, eine Bedrohung, die zwar klein ist, aber sich ausweitet … Ich sehe Feinde, viele Feinde, deren Existenz Sie noch nicht einmal ahnen. Ich sehe auch etwas Rotes, ein sehr intensives Rot, das ich nicht identifizieren kann, aber es ist kein schönes Rot, also nehmen Sie sich in Acht, Herr General!« Er hat ihr gedankt, sie zur Tür begleitet und ihr einen fetten Schein in die Hand gedrückt. In jener Nacht hat er sehr schlecht geschlafen, aber am Morgen befand er, er sei ja bestens geschützt und müsse jetzt nicht in Panik verfallen.

Saïd und Athman lernten sich in den achtziger Jahren kennen, und es bahnte sich eine unglaublich enge Freundschaft an, gründend auf dem an Verfolgungswahn grenzenden Argwohn gegenüber ausnahmslos jedem, einschliesslich der eigenen Ehefrauen und Kinder, und dem von beiden geteilten Gefühl, dass ihre Mission, nämlich Algerien gegen innere und äussere Angriffe zu schützen, ihr Lebenssinn sei. Sie waren einander näher als ihren leiblichen Brüdern.

Und so kam es, dass General Saïd, als er von der Existenz dieses anderthalb Hektar grossen Brachlands erfuhr, das keinem wirklich gehörte, oder genau genommen dem Verteidigungsministerium, seinem Freund davon erzählte und sie gemeinsam beschlossen, es in Besitz zu nehmen, um dort Seite an Seite ihre Villen zu erbauen. Dort würden sie sich geborgen fühlen. Einer würde über den anderen wachen und über dessen Familie.

Es war einfach perfekt.

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