Tristans Tod

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Sari: Lindemanns #278
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„Ich muss weg von hier. Vater tötet mich“, stellt Karl, noch immer am Fenster stehend, fest. „Fort, nur fort, das ist mein Wunsch an jedem Tag. Hier ringe ich nur um Atem und kämpfe um mein Leben. Jeder meiner Hustenstöße ist ein Wehren gegen diesen Tod, in dessen Arme mich einmal tatsächlich dieser faulige Gestank der Gerberei treiben wird. Wenn ich leben will, so muss ich fort. Wenn ich malen will, so muss ich unter meinesgleichen. Und ich kann malen, das weiß ich ganz genau, haben mir dies doch der Lehrer und der Pfarrer gesagt. Wie lobten sie begeistert meine Studien nach der Natur!“

Kapitel 3

Nachdem Maman wie jeden Tag nach dem Souper die Tafel mit einem freundlichen Wink zum Salon hin aufgehoben hatte, zerstreuten die Gäste sich nebenan. Ich setzte mich in eine gemütliche Sofaecke und gab vor, an meiner Stickerei zu arbeiten. Ich hatte Lust den Gesprächen der anderen zuzuhören, ohne gezwungen zu sein, mich mit irgendetwas Klugem daran beteiligen zu müssen. Es war viel unterhaltsamer, die Sprechenden zu beobachten.

Maman und Tante Anna hatten sich in den Wintergarten zurückgezogen und wollten beim Mokka nicht gestört werden. Dort hinüber konnte man dem Gespräch nicht folgen. Schade. Die Schwestern spielten mit dem Fräulein „Dame“. Papa hatte sich mit der Notwendigkeit, einige wichtige Akten studieren zu müssen, entschuldigt. Das bedeutete, dass es ein recht langweiliger Abend werden würde.

Von fern konnte ich das Profil meiner Mutter und das der Tante sehen. Die Gesichtszüge von Maman waren noch immer von klassischer Schönheit und wurden durch ihr volles, tiefschwarzes Haar noch weiter zur Geltung gebracht. Dagegen wirkte das runde Gesicht der fast gleichaltrigen Tante ermattet und verschwommen. Sie musste wohl schwere Sorgen haben, die gute Tante, und wirklich, gerade jetzt zog sie ihr Batisttuch aus dem Ausschnitt des Kleides und betupfte ihre Augen. Maman hatte tröstend ihre Hand auf den Arm der Tante gelegt und beider Blicke wanderten hinüber zu Rudolf, der in einem Sessel saß und in einer illustrierten Zeitung blätterte. Er schien sich auch zu langweilen – schön, dann hatten wir endlich einmal etwas gemeinsam. Die Ähnlichkeit der Gesichtszüge zwischen der Tante und Rudolf war auffallend. Wie wohl sein älterer Bruder Karl aussehen mochte, auch so drall und rund, so rosig und auch mit einem den Betrachter herausfordernden frechen Blick? Mochte er auch wie Rudolf diesen, von militärischer Strammheit und Akkuratesse erzählenden Seitenscheitel im pomadisierten Haar tragen? Der schien seit dem letzten deutschen Krieg modern zu sein.

Im Übrigen war Rudolf ein mäßiger Angeber und in Wirklichkeit gar nicht so schlimm, wie er nach außen scheinen wollte. In der vergangenen Woche, so lange waren die Gäste jetzt schon bei uns, hatte er drollige Ansichten gezeigt und diese sogar mit Witz und mit Charme vertreten. Es war uns allen klar, dass er seine Mutter um den kleinen Finger wickeln konnte. Sie schien ihn wahrhaftig anzubeten.

Ich seufzte und streckte mich lässig nach hinten in die Polster des Sofas. Dabei betrachtete ich mit einem zufriedenen Glucksen die überaus schmale Form meiner Füße in den schwarzen Knöpfstiefelchen. Sie repräsentierten dies auf angenehme Weise, was ich unter „Leder“ verstand: Luxus und Verführung. Ich war in diesem Moment sehr zufrieden mit mir und dachte kokett, dass diese Füßchen sich sehen lassen konnten. Da fing ich auch schon den warnenden Blick Mamans auf. Ihre tiefbraunen Augen brannten vor Entrüstung. Schnell änderte ich meine bequeme Haltung, richtete mich gerade und nahm zierlich und graziös meine Stickerei wieder auf, ganz die höhere Tochter und so, wie es Maman von mir erwartete. Sie hasste die Koketterie und jede Art der Zurschaustellung.

Eine Dame, so betonte sie oft, habe so etwas nicht nötig. Weiber dagegen – das Wort „Weiber“ sprach sie dann immer verächtlich aus, als schmeckte es faulig – bräuchten dies, damit man sie überhaupt wahrnehme. „Damen“ bestächen ausreichend durch ihre Werte und ihre gesellschaftliche Position und nicht durch den bloßen, hohlen Schein. Ich glaube, Maman glaubte damals wirklich, was sie da sagte. Ich blinzelte diskret zu Rudolf hinüber. Der zwinkerte mir verschwörerisch zu. Diesmal wurde ich wieder rot und war sogar selbst schuld daran.

Kapitel 4

Heute ist Tante Anna wieder nach Baden abgereist. Sie müsse jetzt endlich wieder daheim nach dem Rechten sehen, sagte sie.

Die Tante ist einfach famos. Sie drückte zum Abschied Rudolf noch einmal ganz fest an ihre Brust, natürlich nicht ohne ein paar Tränen und einen Schwall Ermahnungen über ihn zu ergießen. Papa dankte sie immer wieder dafür, dass er sich nun ein Jahr lang um Rudolfs Erziehung kümmern würde. Dann küsste sie Maman und die Schwestern zärtlich zum Abschied. Mich schloss sie liebevoll in ihre Arme und tätschelte mir die Wange.

„Lass dich nicht anstecken von Rudolfs verrückten Ideen“, ermahnte sie mich.

Ich nickte überzeugt: Dieser Lederjunker konnte mir nichts anhaben. Ganz bestimmt nicht.

Dann stieg die Tante in eine Mietdroschke, die draußen auf der Kiesauffahrt vor dem Portal wartete, und fuhr davon. Langsam gingen wir wieder ins Haus zurück.

Rudolf aber verharrte noch eine Weile auf dem Platz vor dem Haus und sah der Droschke nach, bis sie völlig aus seinem Blickfeld verschwunden war.

„Armer Kerl“, dachte ich, „jetzt wird Papa das Ruder übernehmen.“

Von nun an gehörte Rudolf bei uns zur Familie. Schnell verwandelten sich unter der Strenge Papas und in unserem Kreis seine bäurischen „Herrenjahre“ in echte Lehrjahre. Und Rudolf, so zeigte es sich schon bald, vermochte schnell und gut zu lernen, denn er musste ja in den Unterricht bei Papa. Der ließ zusätzlich noch einen jungen Sprachlehrer kommen, welcher Rudolfs holpriges Französisch verfeinerte. Unser gesellschaftlicher Umgang tat ein Übriges, kurz – schon nach einem halben Jahr wurde aus unserem badischen „Kraut- und Lederjunker“ ein ganz passabler junger Mann. Ab und zu prahlte er noch von „Gäulen“ und der Jagd oder zog einmal wieder Helene am Zopf, aber größtenteils konnte man sich über ihn kaum beklagen. Für mich wurde er zum idealen Sportpartner beim Tennis, zum sicheren Begleiter auf Ausritten, zum verlässlichen Führer bei Einkäufen – mit Rudolf konnte man jetzt eine Menge anfangen. Mit Papa durfte er zum Segeln und Maman zeigte ihn wie ein Souvenir vom letzten Urlaub auf dem Lande bei ihren Bekannten vor. Nur eine schlechte Gewohnheit hatte Rudolf nicht ablegen können, seinen scharfen, musternden und abschätzigen Blick, der mir stets das Gefühl gab, unter diesen Augen als Ware klassifiziert zu werden. „Mein Gott, wie der glotzt!“, entrüstete sich einmal Lucille und bekam vom Fräulein sofort eine Ermahnung. Dabei, das hatte ich schon bald herausgefunden, war Rudolf eigentlich von sensibler Natur, trotz oder sogar wegen seines Dranges, uns allen als verwegener und fescher Soldat und Mann zu erscheinen.

„Träumst du wieder, Philli?“, fragte er mich einmal, als ich gedankenverloren, den Kopf auf den Arm gestützt im grünen Lehnsessel am Fenster saß.

„Träumst du nie, Rudolf?“, gab ich müde und träge zurück.

„Natürlich träume ich. Ich träume von Pferden, von den Dragonern und vom Militär und immer wieder davon, endlich Soldat zu werden. Wirst schon sehen, wie sich dieser Traum schon bald erfüllen wird. Und wovon träumst du?“

„Ich, ich träume von allem Möglichem. Aber, Rudolf, denkst du auch an Tante Anna? Du wirst doch die Fabrik übernehmen müssen. Und dein Vater, Rudolf, wird er es denn erlauben? Dein Bruder Karl wird das Werk doch nicht übernehmen können und dann musst du doch einspringen.“

„Karl, immer wieder Karl! Karl kann das nicht, Karl braucht dies nicht. Alles dreht sich um Karl. Der ist gar nicht so krank, wie er ausschaut. Es ist ein Getue um den Karl. Weißt du überhaupt was er macht, unser armer Karl? Der schreibt sich jetzt mit einem „C“ statt einem „K“ und genießt sein Leben in der Residenzstadt. Von wegen krank, unser „armer“ Carl. Im Atelier in Karlsruhe sitzt er bis in die Nacht. Vorher hat er seine Pinsel in der Akademie geputzt. So, jetzt weißt du alles über unseren Carl.“ Rudolf war bei seinen Worten sehr laut geworden.

„Was sagst du da, Rudolf?“, fragte ich überrascht.

„Gerade, dass du es weißt und weil es keiner wissen soll. Der Carl studiert die Schönen Künste in Karlsruhe. Gegen den Willen des Vaters hat er sich ein Zimmer und ein Atelier in Karlsruhe genommen. Die Mutter hat ihm dabei geholfen fortzukommen. Er malt ja so schön, unser Carl, hatte sie dem Vater gesagt und der feige Carl hat dazu noch kräftig eins gehustet“, erzählte Rudolf mit Häme.

„Und was ist mit Onkel Heinrich?“, fragte ich neugierig. „Der tobt wohl noch immer. Als er von der Sache erfahren hatte, hatte er so in den Ofen geblasen, dass der Ruß und die Asche das ganze Speisezimmer schwärzten. Das Tischtuch auf dem Tisch war grau. Die Mutter hat geweint, als er die Terrine vom Tisch nahm und an die Wand warf. Dann kamen Tante Elise und Onkel Louis angefahren und haben mit dem Vater stundenlang geredet. Dabei hat er noch einen teuren Stuhl an die Wand geworfen. Auch der Onkel Greiff hat ihn vergeblich zu beruhigen versucht. Dann hat der Vater seine Flinte an sich gerissen und hat nach dem Hund gepfiffen. Die ganze Nacht war er im Wald und hat auf alles geschossen, was ihm vor das Gewehr kam. Und Carl? Der ist am nächsten Morgen mit Hilfe der Mutter in aller Ruhe mit Sack und Pack mit der Eisenbahn nach Karlsruhe gefahren. Da ist er jetzt noch immer, auch wenn der Vater jetzt ruhiger wird und er eigentlich wieder nach Hause könnte.“

„So ist das also mit der Krankheit des Vetters Carl“, resümierte ich kopfschüttelnd und dachte mir, dass dies wohl ein Skandal zu nennen sei. Ein dicker, fetter Skandal. So etwas gab es wohl nur dort unten in Baden.

 

„Ja, so ist das. Mein Bruder ist in der Residenzstadt und ich komme auch dorthin!“, entgegnete Rudolf zornig und ballte entschlossen seine Faust.

Mir tat Vetter Rudolf wirklich leid, denn ich glaubte, dass dieser Wunsch sich für ihn niemals erfüllen würde, denn der Onkel würde kaum einen zweiten Sohn nach Karlsruhe lassen. Den brauchte er ja für die Fabrik. Es war gut, dass Rudolf jetzt hier bei uns in Lausanne war. Das verhinderte fürs Erste weitere Auseinandersetzungen mit dem Onkel.

Kapitel 5

„Ich kann jetzt wirklich stolz auf mich sein“, denkt Karl, „denn gerade habe ich die Aufnahmeprüfung für die Akademie bestanden. Ich werde ein Künstler! Fremde haben mir bescheinigt, dass ich zum Malen Talent habe. Wie kritisch musterten sie meine Mappe mit den Zeichnungen. Die Mutter freute sich sehr, ihre Augen haben geleuchtet. Ihr Ältester, so sagte sie stolz, könne tatsächlich auf die Akademie in der Residenzstadt. Ich käme nach der Montafoner Linie unserer Familie.“

Doch dann verfinsterte sich ihre Miene. „Was wird bloß der Vater dazu sagen?“, murmelte sie.

Angst haben wir doch alle vor dem Vater und vor seinem Zorn. Noch weiß er nichts davon, was ich plane, er ist noch drüben im Kontor der Fabrik. Heute, am Mittag, wird er es aber erfahren. Und morgen schon werde ich endlich das Haus und diese Stadt verlassen und schon übermorgen werde ich in Karlsruhe eingetroffen sein. Dort wird sich schon ein Unterkommen für mich finden. Die Koffer habe ich gerade eben fertig gepackt. – Noch ist im Haus ruhig. In einer Stunde kommt der Vater zum Essen heim. In einer Stunde ... So bald schon wird er kommen.

Ich habe soeben meinen Vornamen abgelegt. Von nun an heiße ich nicht mehr Karl. Ich sei nicht mehr sein Sohn, schrie der Vater vorhin im Speisezimmer mir zu. Rudolf fand dies wohl ungemein erfreulich, denn nun ist er ja wirklich Vaters einziger Stolz. Dann hat der Vater in seiner Wut das Zimmer verwüstet. Das Tischtuch ist nun nicht mehr weiß, sondern schwarz, das Porzellan – Mutters geliebtes Porzellan! – ist ein Scherbenhaufen. Nicht nur das Geschirr ist zu Bruch gegangen, es zerbrach auch unsere Familie, in ganz kleine Stückchen ist sie zersplittert.

In all seiner Wut hat der Vater auch noch gelacht.

„Mein Sohn ein Künstler! Ein Farbenkleckser!“, brüllte er. „Mein Sohn ein Taugenichts!“

Dann machte er mit seinem Körper eine scharfe Wendung und stand der Mutter nun gegenüber. Ganz nah rückte er an sie heran und sagte bedrohlich leise: „Du!“, fauchte er, „du hast ihm geholfen!“

Er war jetzt noch leiser und gefährlicher geworden und fasste ihr mit einem schnellen Griff in den Haarknoten und zog ihr mit einem Ruck den Kopf tief in den Nacken. „Du!“, zischte er noch einmal und ließ dann unvermittelt und mit einem Ruck ihren Nacken los, so dass sie zu wanken begann und auf den beschmutzten Teppich fiel.

So lag sie dann zu Füßen des Vaters am Boden, ausgebreitet wie eine dunkle, welke Blüte und in heftigen Stößen schluchzend.

Rudolf war bestürzt in eine Ecke des Zimmers zurückgewichen und ich selbst stand dabei und konnte der Mutter nicht helfen. Gerade schüttelte mich ein heftiger Hustenanfall.

Ohne weitere Worte stürmte Vater aus dem Zimmer und kurz darauf fiel unten die Haustüre krachend ins Schloss. Zögernd kam Rudolf aus seiner Ecke und half der Mutter aufzustehen. Ich hustete noch immer und presste mir das Taschentuch auf den Mund. Als ich es dann herunternahm, sah ich, dass ein wenig Blut daran klebte.

Es ist das Blut meiner Mutter, dachte ich. Ich konnte Mutter nicht helfen, konnte sie vor der Wut des Vaters nicht schützen.

Seltsam ruhig war dann die Mutter, als sie wieder Worte fand. Bestimmt war ihr Ton, als sie Franz befahl, nach Onkel Louis und Tante Elise in der Hauptstraße zu schicken. Onkel Louis ist Vaters Bruder und ebenfalls Gerbereibesitzer. Trotzdem ist der viel vernünftiger und hilft der Mutter oft, wenn Vater wütet.

Schon nach kurzer Zeit trafen die beiden bei uns im Haus ein. Sofort suchte der Onkel Vater in dem Kontor auf und blieb lange bei ihm unten in der Fabrik. Tante Elise legte Mutter tröstend den Arm um die Schultern.

Gerade als Mutter empört sagte: „Ich bin eine Greiff und muss mir das nicht bieten lassen!“, betrat Onkel Louis unser Zimmer.

„Er ist jetzt wieder ruhig und gefasst“, sagte er. „Noch in dieser Nacht wird er auf die Jagd gehen, du sollst nicht auf ihn warten.“

„Auf die Jagd!“, schnaubte Tante Elise verächtlich. „Was jagt er denn diesmal?“ „Schweig!“, unterbrach sie Onkel Louis mit einer scharfen Handbewegung. Die Mutter sagte nach einigen Minuten des Schweigens: „Die zwei Buben müssen weg von hier! – Ich will, dass Rudolf so bald als möglich zu den Verwandten in die Schweiz fährt. Karl geht schon morgen nach Karlsruhe. Ich will nicht, dass die beiden nach ihrem Vater geraten. Sie sollen ein anderes Leben führen. Ich selbst kann nicht gehen, ich muss hier bleiben und ausharren. Ich, die Tochter des Posthalters Greiff, kenne meine Pflicht!“

An diesem Mittag habe ich beschlossen, ab sofort den Namen Karl abzulegen. Ich nenne mich nun Carl und habe mit dem Vater nichts mehr gemeinsam.

Kapitel 6

Rudolfs Aufenthalt hier bei uns am schönen Lac Lemone war nun nach einem Jahr schließlich doch abgelaufen. Jetzt würde er uns in einigen Tagen wieder verlassen, um heim nach Baden zu reisen. Er und ich sind beide älter geworden. Ob wir zwei vernünftiger geworden sind, weiß ich nicht.

Ja, Rudolf vielleicht, denn er passt jetzt eigentlich richtig zu uns. Deshalb stimmte mich seine drohende Abreise traurig, ich hatte mich so an seine Lebendigkeit und an seinen Witz gewöhnt. Ich hatte mir doch immer einen Bruder gewünscht und diesen in Rudolf gefunden.

Eines Tages im April kam dann auch Tante Beate Thalheimer aus der bayerischen Residenzhauptstadt angereist, um Rudolf mitzunehmen. Tante Beate ist eine Tochter aus der Greiff’schen Familienlinie und ist mit uns eigentlich gar nicht direkt verwandt. Auch sie war damals noch recht jung, zu jung, um eine echte Tante zu sein, hatte zu der Zeit aber schon Mann und Kind. Sie hatte von Tante Anna und Onkel Heinrich den Auftrag erhalten, Rudolf von Lausanne nach München zu begleiten.

Ich denke, der Onkel hatte Angst, dass Rudolf auf der weiten Fahrt allein wieder allerlei Unsinn anstellen könnte, obwohl dieser nun fast 17 Jahre alt war und hier bei uns ein richtiger junger Mann geworden war. Der Onkel ging eben wie alle älteren Leute nicht mit der Zeit. Also nahm ihn die hübsche Tante Beate unter ihre Fittiche. Ich glaube aber, Rudolf wäre viel lieber allein gereist.

Der Tag seiner Abreise und des Abschieds war schließlich gekommen.

„Nicht weinen, kleine Philli“, tröstete er mich, obgleich er selbst traurig wirkte. Nun war es an mir, Selbstbeherrschung zu zeigen. So schluckte ich meine Tränen hinunter, lächelte und winkte zum Abschied, als die Eisenbahn mit Beate und Rudolf unseren Bahnhof Richtung Norden verließ. Das war es dann mit den lustigen Zeiten, dachte ich.

Daheim kam es mir vor, als wäre unser Haus viel stiller geworden.

„Glück auf die Reise, lieber Rudolf!“, flüsterte ich im Garten traurig in den blauen Frühlingshimmel. Weiße Wölkchen zogen frisch über das hoffnungsvolle Frühlingsblau.

Viele Monate kam keine einzige Nachricht von Rudolf, außer jener, von Beate aufgegebenen, die meldete, dass er wohlbehalten zuhause eingetroffen sei. Auch Tante Anna hatte nach geraumer Zeit meinen Eltern nochmals brieflich für die an Rudolf erwiesene Fürsorge gedankt. Onkel Heinrich sei mit dem Ergebnis überaus zufrieden. Mich lud sie mit warmen Worten in die Ferien zum Gegenbesuch nach Baden ein. Maman hatte mit diesen Brief zu lesen gegeben.

Ich sollte nach Baden reisen? Niemals! Was sollte ich jetzt, gerade jetzt, dort machen in diesem langweiligen Landstädtchen mit der stinkenden Lederfabrik und dem brüllenden Onkel Heinrich? Dort sagten sich doch Fuchs und Hase „Gute Nacht“.

Nein, danke! Ich hatte anderes vor, denn in wenigen Wochen, wenn die Wintersaison mit ihren Bällen und Vergnügungen begann, wollte ich zum ersten Mal in der feinen Lausanner Gesellschaft glänzen. Ich malte mir Tag für Tag aus, welche Genüsse dann auf mich warten würden. Dann gehörte ich gewissermaßen endlich „dazu“. Vielleicht würde ich auch ganz schnell endlich einen zu mir passenden Kavalier finden.

Ich sah in meiner Fantasie allerlei pikante Szenen der Liebschaft und Liebelei. Oh lá lá, die Liebe ..., ja von der wusste ich schon aus Romanen, ohne ihr allerdings je in Wirklichkeit begegnet zu sein. Und da sollte ich in die badische Provinz reisen? Keinesfalls würde ich das tun. Baden konnte warten, die kommenden Bälle und Soireen nicht.

Dies machte ich allen zuhause deutlich. Maman würde mich in ihrem Antwortbrief an Tante Anna schon charmant entschuldigen. Jetzt galt es erstmal für die kommenden Monate an die passenden Roben und Toiletten für alle möglichen Anlässe zu denken. Bereits morgen war die Schneidermamsell bestellt, um Maß zu nehmen.

Ich träumte da von cremefarbenem Seidentaft mit „sooo einem Ausschnitt“ vorne und einer langen Schleppe hinten. Diese Farbe würde so gut zu meinem dunklen Haar passen. Maman würde mir allerdings wieder einmal davon abraten, denn sie sagt, Taft sei etwas für alte Jungfern oder für Gouvernanten. Aber Papachen würde ich schon überzeugen, mir dies zu spendieren.

Nach Baden reisen? Nie und nimmer! Jetzt würde es hier erst einmal richtig spannend werden.

Kapitel 7

Ich bin Anna Greiff, Tochter des ehrenwerten Posthalters zu Wiesloch. Meine Wiege stand in dem Haus an der Langen Gasse, mein Wiegenlied war das Geklapper der Pferdehufe und das Rollen der Räder. Das Haus meines Vaters, das hinter dem Torbogen mit dem goldenen Wappen der Thurn und Taxis auf dem Schlussstein ist, war für die Reisenden Herberge, Zufluchtsort und Station. Die Reisenden kamen mit der Extrapost von da und wollten weiter mit der Kutsche nach dort. Dabei machten sie Halt hier bei uns. Ankommen, Abspannen, Umspannen, Antraben, fort. Dazwischen eine Pause für die Jause.

Man sagt Goethe, man sagt Napoleon hätten hier Halt und Rast gemacht. Ankommen bedeutete damals wieder aufbrechen.

Die kleine Anna stand am oberen Fenster und sah sie alle. Die Damen, die Kavaliere, die Kaufleute, die Offiziers. Kutschen, Kaleschen, Wagen, Extrapost. Die einen her, die anderen fort. Dazwischen die Stallburschen mit den gehalfterten Pferden, die Schänkleute mit fetter Brühe und saurem Wein, die Burschen und Knechte mit Koffern, Schachteln und Mantelsäcken. Reisen, ruhen, rasten. Alles unter diesem Torbogen, auf dem der goldne Adler pramgt. Dazwischen der Vater, der alte Greiff, er gibt Befehle, macht Verbeugungen, schneidet die Cour. Die Mutter wirkt im Haus, der Vater hat draußen das Sagen.

Speisen zubereiten, feine Handarbeiten, den Katechismus und ein wenig Konversation, das reiche für ein Mädel, sagte der Vater.

Das andere macht schon das Kapital. Es umstrahlt die Jungfer wie ein Strahlenkranz den Christus, und die brave Jungfer beugt sich züchtig. Widerspruch wäre Gotteslästerung, sagt der Vater.

Und die Jungfer beugt ohne Widerrede demütig den Nacken. Sie beugt sich fremdem Willen, denn der Vater weiß es ja doch besser. Nachts aber träumt die Jungfer von der Liebe. Von der einzigen, einen Liebe. Aber sie kennt ihren Platz in der Welt, sie ist doch die Tochter des ehrenwerten Posthalters Greiff.

Dann kommt er, endlich, der Freier, Heinrich ist sein Name. Die Jungfer lässt errötend den Nacken gebeugt.

Liebe? Was wusste ich davon?

Dieser Heinrich, ein schmucker, ein tollkühner Jäger und der Sohn des Schultheißen, der hat so wilde Augen, welche schnell der Jungfer heiße Ströme versetzen. Dieser Heinrich weiß, was er will. Der Vater weiß auch, was er sich von mir erhofft. Er ist ja schon nicht mehr allein der Posthalter hier am Ort, er nennt auch eine Gerberei sein Eigen.

Auch Heinrich hat den Beruf des Gerbers. Was liegt näher, als beides und beide miteinander zu vereinen?

„Wenn Acker dicht an Acker grenzt, so stellt die Liebe sich hernach schon ein“, sagte der Vater stets zu mir. Dabei hielt er mahnend den Schwurfinger in die Höhe.

Die große Liebe? Ach ja, diesen Heinrich wollte ich schon lieben, hatte ich ihn doch schon herzlich gern. Kannte ja auch keinen anderen. Obgleich der Vater mit anderen Bewerbern auch verhandelte.

Dieser Heinrich hatte so wilde, braune Augen. In die schaute ich hinein wie in ein großes Abenteuer. Es kam, wie es kommen musste. Nach kurzer Verlobungszeit heirateten wir und die Betriebe vermählten sich auch.

 

„Er ist von nun an Haus und Heimat!“, befahl mir der Vater und schickte mich aus dem Haus.

Ich ließ meinen Nacken weiterhin gebeugt. Heimat ist nun mal da, wo der Gatte weilt. Wie ich damals dastand, im neuen Heim, mit dem Brautkranz von Orangenblüten im dunklen Haar, bereits von der Magd halb zur Nacht entkleidet, dort in der Mitte der Schlafkammer. Zitternd mitten in der Kammer stand ich im weißen Unterkleid. Da knarrte die Türe und Heinrich kam hastig herein. Schnell löschte er wortlos das Licht und sein Atem ging lauter. Jetzt kam das, was die Mutter „die schmerzliche Pflicht der Gattin“ nannte. In dieser Nacht wurde mein Ältester, Karl, gezeugt. Am nächsten Morgen wusste ich zwei Dinge mehr als am Tag zuvor.

Heinrich, mein Mann, erwartete unbedingten Gehorsam. Und er erwartete völlige Hingabe zu seiner eigenen Lust. Ich gab ihm das, was er forderte.

Dann schenkte ich ihm noch einen weiteren hoffnungsvollen Knaben.

Als die Buben heranwuchsen, versiegte wie ein Rinnsal Heinrichs Liebe zu mir. Ich wurde einsam, aber frei. Und ich beschloss, von nun an nur noch meinen Kindern zu dienen.

Heinrich ging Nacht um Nacht auf die Jagd in den Wald, ich verharrte Tag um Tag in meiner unangestasteten Rolle als Hausfrau und Kindsmutter.

Dafür kamen draußen immer mehr Mägde in gesegnete Umstände. Heinrichs wilde, braune Augen loderten wilder und wilder, sein Zorn ergoss sich nun immer öfter über Haus und Hof. Seine Geschäfte aber blühten. Dennoch schlug er die Knechte, züchtigte die Mägde und trat mit den Stiefeln nach den Gerbern.

Schließlich schlug er nur noch, weil er hasste, immer schlagen zu müssen. Es hat lange gedauert, bis ich ihn verstand. Jetzt dauert er mich von Herzen.

Seine Knaben schlug er auch, selten mit den Händen, viel öfter aber mit seinen kalten Worten. Mich schlug er jedoch nie. Ich kenne meine Pflicht und er die seine. Dazu braucht es nicht mehr die Liebe.

Wenn er jetzt so vor mir steht, dieser Gatte mit den kohleglühenden Augen, wenn er zornig seine Hand zur Faust ballt und wütend die Flinte vom Haken an der Wand reißt, dann fühle ich tiefes Mitleid mit ihm. Wie einsam muss er sein, wie vergeblich ist sein Liebesspiel mit Lina, Trina oder wie sie alle heißen mögen, die Mägde und Arbeiterinnen seines kleinen Universums.

Mein Heinrich ist ein ewig Wandernder, der niemals Ruhe finden kann. Es wird ein schlimmes Ende nehmen mit ihm, das fühle ich beklommen. Es darf aber kein schlimmes Ende für meine Söhne geben. Hier beuge ich mich nicht. Dieses eine, einzige Mal beuge ich mich nicht.

Kapitel 8

Jetzt sind schon wieder einige Monate vorüber und seit gestern liegt auf den Bergen der erste Schnee. Bald wird Weihnachten kommen. Seit ein paar Wochen gehöre ich jetzt zu den „heiratsfähigen“ Mademoiselles in der Stadt.

Fast jede Woche besuche ich mit den Eltern einen Ball. Ich liebe es ganz besonders, Walzer zu tanzen. Es ist so schön im Arm eines Kavaliers zu liegen. Und sich immer und immer zu drehen. Wenn auch nur für einige Minuten. Das ist doch besser als überhaupt nicht, oder?

Maman sagt, ich käme in der Gesellschaft gut an. Was immer das auch heißen mag. Immerhin haben wir schon viele Einladungen erhalten und viele private Salons besucht. Die Damen sind recht nett zu mir, aber ab und zu kommen sie mir vor wie ein Schwarm zerrupfter Bergkrähen. Sie haben auch nur eines im Sinn, nämlich ihre heiratsfähigen Töchter in der Gesellschaft möglichst gut zu platzieren und sie meistbietend an den Mann zu bringen.

Manche von den Müttern tätscheln mir die Wange und sagen scheinheilig: „Ma petite.“ zu mir.

Die jungen Herren, die für mich in Frage kommen, sind im Großen und Ganzen eher eine Enttäuschung. Entweder sind sie linkisch oder treten mir am Buffet auf die Schleppe oder sie sind schauderhafte Angeber mit pomadisierten Haaren, kleinen Flaumbärtchen und schwitzenden Händen. Der „Richtige“ war bisher noch nicht unter ihnen. Ich denke aber, der wird schon noch kommen. Ich will doch keine alte Jungfer werden und einige meiner Altersgenossinnen sind sogar schon verlobt. Das ging ganz fix.

Maman kritisiert oft mein Verhalten. Sie sagt, ich solle zurückhaltender und gewinnender sein und nicht so kratzbürstig zu den Herren, die ich einfach dumm finde. Dabei bin ich doch für meine Verhältnisse sogar recht nett zu ihnen. Wenn allerdings einem in meiner Gegenwart ein Missgeschick passiert – und es passieren viele Missgeschicke auf diesen Bällen –, muss ich eben lachen. Maman behauptet aber, eine echte Dame dürfe nur hinter ihrem Fächer lachen.

Ich will mich aber nicht verstellen und die Ungeschicklichkeit der jungen Männer ist wirklich zum Lachen. Da muss ich eben dem anderen ganz ehrlich ins Gesicht lachen. Es soll ja keine Beleidigung sein, sondern ist nur gutmütiger Spott.

Gestern kam – endlich! – als verfrühte Weihnachtspost und nach über einem halben Jahr der ersehnte Brief von Rudolf aus dem matschig-nassen, germanischen und rauen Baden. Ich hatte ihn in dem Trubel schon fast vergessen.

Es war für uns alle, Maman liest ja prinzipiell meine Korrespondenz, eine große Überraschung, denn Rudolf ist jetzt im badischen Regiment zu Karlsruhe Fähnrich bei den Dragonern.

Wie hat er das wohl geschafft? Er hat eine Fotografie mitgeschickt, auf der er stramm und elegant zu Pferde sitzt. Musste Onkel Heinrich schließlich doch einwilligen oder hat er zuvor alles aus Zorn zertrümmert?

Rudolf schrieb, dass es tatsächlich vorher viele scheußliche Szenen zuhause gab. Einmal, so berichtet er, habe der Onkel vor Wut, kurz bevor eine Gesellschaft zum Souper kam, die Tischdecke mit dem ganzen Geschirr vom Esszimmertisch gerissen. Das muss ein Scherbenhaufen gewesen sein!

Na ja, ich denke, so etwas gibt es nur auf dem Land in Baden, da leben sie noch unzivilisiert. Bei uns in der Schweiz, und ganz besonders in Lausanne, wäre dies unmöglich, es wäre ein unverzeihlicher Faux-pas und deshalb würde dies hier auch keiner tun.

Rudolf kann froh sein, dass er nun aus dieser Kuhprovinz in die Residenzstadt entkommen ist.

Rudolf in badischer Uniform – das ist eine famose Vorstellung!

Als Papa davon hörte, zog er allerdings vor Ärger die Stirn kraus und Maman bekreuzigte sich, als sie den Brief las. Alle bedauern die arme Tante Anna, die das aushalten muss. Ich aber bewundere Rudolf und denke, dass die kluge Tante ihm bei seinem Abgang nach Karlsruhe sicher schlau geholfen hat.

Jetzt schaue ich aus dem Fenster und sehe den weißen Flocken zu, die im Moment auch hier unten im Tal vom Himmel fallen. Ich seufze. Heute gehe ich nicht aus und ich weiß gar nicht, was ich nun mit mir und meiner Zeit anfangen soll. Das allzu häufige Ausgehen ist zwar ziemlich anstrengend und kostet auch viel Zeit, aber ich bin doch gerne unter Leuten und nicht allein. Ich glaube, ich werde weiter den Schneeflocken zusehen und noch einmal über Rudolf nachdenken. Rudolf als strammer Fähnrich bei den Dragonern – ist das nicht wirklich grandios?

Kapitel 9

Es ist soweit, der Vollmond steht nun hoch am Himmel und ergießt sein fahles Licht über Stadt und Wald.

Das ist die richtige Zeit zum Jagen!

Dort oben, im Allmendwald, der jetzt so feucht vor sich hindampft wie ein Moor, bricht jetzt das Wild aus der Deckung, um auf der Lichtung zu äsen. Dieses Licht, das wie weiße Milch die Landschaft ins Unwirkliche beleuchtet, lässt weit hinaus in die Nacht sehen

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