Schüler mit geistiger Behinderung unterrichten

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2 Spannungsfeld: Bildung und (schwere) geistige Behinderung


Abb. 4: Theoretische Grundlagen und Ausgangspunkte einer Unterrichtsplanung

Georgens / Deinhardt (1861) legten den Grundstein für die professionelle Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung und somit für die Disziplin der Allgemeinen Heilpädagogik. Lindmeier verweist darauf, dass bereits Georgens und Deinhardt davon ausgingen, Bildung sei für Kinder mit kognitiven Beeinträchtigungen nur gemeinsam mit nicht behinderten Kindern sinnvoll. Aufgrund dessen nahmen sie in ihre Wiener Anstalt Levana behinderte und nicht behinderte Kinder auf und waren der Meinung, dass eine „schlechthin abgesonderte Erziehung unzulässig“ sei (Georgens / Deinhardt 1858, 34, zit. nach Lindmeier 2001, 410 f).

„Denn zur Genesung gehört notwendig eine gesunde Umgebung, zur geistigen Genesung eine Sphäre geistiger Gesundheit, und wenn Kinder füreinander überhaupt unentbehrliche Erzieher sind, so gilt dies für idiotische Kinder insbesondere (…): [Idiotische Kinder, C.L.] sind kindliche Erzieher, d. h. des lebensweckenden und überall vermittelnden Einflusses gesunder Kinder bedürftig, ohne diesen zurückgeben zu können, was sie empfangen. Dennoch lässt sich nicht behaupten, dass die gesunden Kinder in dem Verkehre mit den schwachen und idiotischen (…) verlieren; sie gewinnen vielmehr wesentlich in sittlicher und intelectueller Beziehung dadurch, dass sich besondere Verhältnisse des Schutzes und der Fürsorge bilden, und alle die Schwäche schonen und unterstützen lernen. In den gemeinsamen Spielen (…) tritt besonders frappierend hervor, wie sich die Schwachen durch die Theilnahme an einer Bewegung oder Handlung, die sie als zusammenhängende und bedeutende empfinden, ohne noch das Verständnis derselben zu haben, gehoben fühlen, und wie die gesunden Kinder ganz von selbst gewöhnt und befähigt werden, den Schwachen fast unmerklich und ohne Beeinträchtigung der eigenen Spiellust nachzuhelfen […]“ (Georgens / Deinhardt 1858, 36, zit. nach Lindmeier 2001, 410 f).

Spezialisierung

Auch wenn die aktuellen sozialen Auswirkungen des gemeinsamen Unterrichts von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung differenzierter betrachtet werden, zeigt das Zitat jedoch, dass seit über 150 Jahren das Spannungsfeld zwischen Gemeinsamkeit und Besonderung bzw. speziellem und allgemeinem Unterricht die Diskussion prägt. Seit der Gründung der Schulen für Geistigbehinderte in den 1960er-Jahren blickt die fachrichtungsspezifische Didaktik auf eine kurze, aber abwechslungsreiche Historie zurück. Die letzten 50 Jahre der organisierten institutionellen Angebote schulischer Betreuung und Bildung wurden durch unterschiedliche Strömungen geprägt.

Ausgehend von einer medizinischen Sicht auf Behinderung, durch welche die Aufmerksamkeit auf die ,besonderen Bedürfnisse‘ beim Lernen gelenkt wurde, hat sich ein hoch spezialisiertes Angebot (Konzepte, hochqualifiziertes Personal, spezielle Medien, eigenes Curriculum etc.) entwickelt. Der Blick auf die ,Defizite‘, der aus heutiger Sicht negativ bewertet wird, führte in den Anfängen der Disziplin (als Teilbereich der Erziehungswissenschaft) durchaus zu einem positiven Ertrag. Dieser lag darin, dass die Lernmöglichkeiten von Menschen mit geistiger Behinderung überhaupt wahrgenommen und in der Institution Schule berücksichtigt wurden.

Integration / Inklusion

Neben dem Trend der Spezialisierung der sonderpädagogischen Fachrichtungen wurden parallel bereits in den 1970er-Jahren die Normalisierung des Lebenslaufes und der Lebenssituation sowie die Integration / Inklusion dieses Personenkreises in die allgemeinen institutionellen Angebote diskutiert. In der Debatte um ,eine Schule für alle‘ wird auf die Einlösung des Bildungsrechts von Menschen mit geistiger Behinderung durch einen uneingeschränkten Zugang zu allen Bildungsinstitutionen und einer grundlegenden Veränderung des Bildungssystems Bezug genommen. Die Diskussion zur Umsetzung dieser Vorstellungen verläuft jedoch politisch teilweise kontrovers und scheint bisweilen ins Stocken zu geraten.

Zu Beginn einer Reflexion über systematische Unterrichtsplanung für Schülerinnen und Schüler mit einer geistigen Behinderung sowie im Kontext der gerade beschriebenen Überlegungen stellt sich die Frage, worin im Hinblick auf schulisches Lernen das Spezifische der Fachrichtung liegt:

● Verlangt die Unterstützung von Bildungsprozessen im Kontext geistiger Behinderung eine spezielle Didaktik? Oder anders gefragt:

● Inwiefern können Konzepte aus der allgemeinen Didaktik für den Unterricht im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung und im gemeinsamen Unterricht genutzt werden?

Spannungsfeld der Disziplin

Die Disziplin der Geistigbehindertenpädagogik steht angesichts dieser Fragen in mehrerlei Hinsicht in einem Spannungsfeld, das sich an den folgenden Themen festmachen lässt:

● die Sichtweise auf Behinderung zwischen sozialen und medizinischen Aspekten (→ Kap. 2.1),

● die historische und aktuelle Entwicklung und Ausgestaltung des Förderschwerpunktes geistige Entwicklung zwischen Bewahrung und Bildungsanspruch (→ Kap. 2.2),

● die Öffnung des Förderschwerpunktes mit Blick auf den gemeinsamen Unterricht in der Integration / Inklusion – zwischen sonderpädagogischer Spezifikation und allgemeiner Didaktik (→ Kap. 2.2),

● das Verständnis von Bildung und Lernen zwischen Lebenspraxis und fachbezogenen Bildungsinhalten (→ Kap. 2.3).

2.1 Internationale Sicht auf Behinderung (ICF)

Internationaler Behinderungsbegriff

2001 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein international gebräuchliches Instrument zur Erfassung von Funktionsfähigkeit und Behinderung veröffentlicht.

In der „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF) wird Behinderung als biopsychosoziales Phänomen beschrieben, das sich aus dem Zusammenwirken unterschiedlicher Komponenten ergibt. Die ICF-CY (Weltgesundheitsorganisation 2013) ist speziell für Kinder und Jugendliche in der Altersspanne von der Geburt bis zu 18 Jahren entwickelt worden.

Diese Klassifikation bietet ein breites Spektrum von Informationen zur Gesundheit und verwendet eine standardisierte allgemeine Sprache, welche die weltweite gemeinsame Kommunikation über Gesundheit und gesundheitliche Versorgung in verschiedenen Disziplinen und Wissenschaften erleichtert.

Funktionsfähigkeit

Behinderung wird im Kontext der ICF nicht als ein Merkmal einer Person betrachtet, sondern situationsabhängig, d. h. mit Blick auf die gesamte Lebenssituation des Individuums. In der ICF fungiert der Begriff Funktionsfähigkeit als Oberbegriff für alle Körperfunktionen und Aktivitäten sowie für die Partizipation einer Person. Dementsprechend dient Behinderung als Oberbegriff für Schädigungen der Strukturen und Funktionen des Körpers, Beeinträchtigungen der Aktivität und der Partizipation (Weltgesundheitsorganisation 2005, 9). Daher ist die ICF grundsätzlich zur Beschreibung des Gesundheitszustandes oder von Gesundheitsproblemen nutzbar und somit auf alle Menschen – nicht nur auf Menschen mit Behinderung – anwendbar (2005, 13). Grundlegend ist die Auffassung, dass sowohl die Funktionsfähigkeit als auch die Behinderung eines Menschen eine dynamische Interaktion zwischen dem Gesundheitsproblem (Krankheiten, Gesundheitsstörungen, Verletzungen, Traumata etc.) und den Kontextfaktoren, auf die wir noch gesondert eingehen, darstellt.

Struktur der ICF

Zu den zentralen Komponenten zählen (2005, 16)

● die Körperstrukturen (anatomische Teile des Körpers wie Organe, Gliedmaßen und deren Bestandteile),

● die Körperfunktionen (physiologische Funktionen von Körpersystemen),

● die Aktivitäten (Durchführung einer Aufgabe oder Handlung, z. B. im Bereich Lernen, Mobilität etc.),

● die Partizipation bzw. Teilhabe einer Person (Einbezug in eine Lebenssituation und eine Lebensgemeinschaft).

Diese Bereiche stehen in einem Wirkungszusammenhang mit den Kontextfaktoren. Die Kontextfaktoren werden wiederum unterteilt in Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren:

● Als Umweltfaktoren gelten materielle, soziale und einstellungsbezogene Einflussgrößen auf die Lebenssituation der jeweiligen Person.

● Personenbezogene Faktoren sind Eigenschaften oder Attribute wie Alter, Geschlecht, Bildung, Ausbildung, Erfahrung, Persönlichkeit und Charakter, Fitness, Lebensstil, Gewohnheiten, Erziehung, Bewältigungsstile, sozialer Hintergrund, Beruf sowie vergangene oder gegenwärtige Erlebnisse (2005, 22, 146).

In Abbildung 5 wird der Zusammenhang der verschiedenen Komponenten innerhalb des ICF-Modells dargestellt.

Ressourcen- und Defizitorientierung

Zentral in diesem Modell ist die Abkehr von einem monokausalen und eindimensionalen Begründungszusammenhang von Behinderung, der seinen Ursprung in einer medizinischen Schädigung findet. Vielmehr können auch Einschränkungen der Partizipation bzw. der Aktivitäten als Auslöser einer Behinderung gesehen werden. Damit ist eine Abkehr vom einseitig individualtheoretischen Behinderungsverständnis (die Behinderung liegt als Eigenschaft in der Person) vollzogen.

 

Abb. 5: Biopsychosoziales ICF-Modell (Weltgesundheitsorganisation 2005, 23)

Dennoch bleibt zu die ICF grundlegend ein Klassifikationsinstrument darstellt, das einerseits Schädigungen und Beeinträchtigungen in der Aktivität und Partizipation und somit Defizite erfasst, andererseits jedoch auch ressourcenorientiert die potenziell kompensatorische und unterstützende Funktion des Umfeldes zum Abbau potenzieller Barrieren in den Fokus nimmt.

Relevanz für die Unterrichtsplanung

Während die Arbeit an den Körperstrukturen und -funktionen hauptsächlich in das Aufgabenfeld von Medizinern und Therapeuten fällt, kann pädagogisch durch die Gestaltung des Unterrichtsumfeldes, der Bereitstellung von Hilfsmitteln und personeller Hilfe eine größtmögliche Aktivität und Partizipation angestrebt und begünstigt werden. In erster Linie helfen die Kategorien der ICF und ICF-CY (Version für Kinder und Jugendliche, erstmalig veröffentlich von der WHO 2011), einen differenzierten Blick für potenzielle Barrieren zur Aktivität und Partizipation im individuellen Fall zu entwickeln. Die Sichtweise der ICF auf Behinderung prägt nicht nur die deutsche Sozialgesetzgebung (z. B. SGB V und SGB IX), sondern beeinflusst außerdem die Ausrichtung der schulischen sonderpädagogischen Förderung.

Partizipationschancen

Anhand der Indikatoren der ICF-CY gilt es, Aktivitätsmöglichkeiten zu erfassen und Unterstützungsmaßnahmen zu planen, um Barrieren zu minimieren (→ Seite 114 ). Die Partizipationsmöglichkeiten von Schülerinnen und Schülern können einerseits auf die Klassenoder Schulgemeinschaft bezogen und andererseits im Kontext von gesellschaftlicher Integration und Inklusion betrachtet und erweitert werden. Die Sichtweise der ICF auf Behinderung prägt nicht nur die deutsche Sozialgesetzgebung (z. B. SGB V und SGB IX), sondern beeinflusst außerdem die Ausrichtung der schulischen sonderpädagogischen Förderung.

2.2 Spezielle oder allgemeine Didaktik?

Comenius hat bereits 1657 mit Blick auf die Unterrichtsinhalte die bekannte Forderung aufgestellt, dass man alle Kinder alles lehren sollte (Flitner 2008). Er hatte zu seiner Zeit sicherlich nicht Schülerinnen und Schüler mit Behinderung im Blick, sondern eher die Absicht, alle Bildungsgüter allen Kinder – unabhängig von Schichtzugehörigkeit und Geschlecht – zugänglich zu machen. Wird die Forderung von Comenius auch auf Schülerinnen und Schüler mit einer geistigen oder einer schweren und mehrfachen Behinderung übertragen und versucht, Unterricht in diesem Verständnis zu konzipieren, stellt dies eine besondere Herausforderung dar. Unserer Vermutung nach liegt diese darin, dass in den Lernvoraussetzungen Einschränkungen verortet werden, die oftmals als unzureichend für die Auseinandersetzung mit anspruchsvollen Bildungsinhalten gesehen werden (Janz / Lamers 2003, Janz et al. 2009). Diese Position lässt sich ggf. mit der Vorstellung erklären, dass für Wissens- und Kompetenzerwerb bestimmte Lernausgangslagen als Bedingung angesehen werden, die im Vorfeld der Lernangebote gegeben sein müssen. Ebenso kann ein Blick in die Historie des Wissenschaftsbereiches der Sonderpädagogik Anhaltspunkte für diese defizitorientierte Sichtweise liefern (→ Kap. 2.2.1).

KMK-Empfehlungen

Die pädagogische Arbeit im Unterricht wird durch verbindliche Vorgaben bestimmt. Diese finden sich in den Empfehlungen und Beschlüssen der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) und in den Bildungs- bzw. Lehrplänen der einzelnen Bundesländer. Während die KMK-Empfehlungen für alle Bundesländer eine einheitliche Orientierung darstellen, bieten die jeweiligen Bildungs- bzw. Lehrpläne der Bundesländer nur eine regionale Vorgabe der Bildungsinhalte und Kompetenzbeschreibungen, die als Legitimierungsgrundlage für Unterricht dienen (Stöppler / Wachsmuth 2010, 63 f). Beide Aspekte – die historische Entwicklung und die aktuellen Vorgaben im Förderschwerpunkt – werden im Folgenden genauer betrachtet, um die Entwicklung und die Ausgestaltung des Förderschwerpunktes geistige Entwicklung nachvollziehen zu können.

2.2.1 Von der ,Anstalt für Schwachsinnige‘ zum ,Förderschwerpunkt geistige Entwicklung‘

Stöppler / Wachsmuth weisen auf einen geschichtlichen Wandel der didaktischen Sichtweise im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung hin. Sie führen ein Beispiel aus dem Jahr 1885 an, in dem die zentralen Unterrichtsinhalte in der Funktionsschulung der Sinne und der Bewegung lagen (Stöppler / Wachsmuth 2010, 24). Die Autoren konstatieren, dass solche Vorstellungen und Lernziele auch noch heute einigen didaktischen Konzeptionen zugrunde liegen.

Im weiteren geschichtlichen Verlauf wurde durch die zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorgenommenen qualitativen Veränderungen der Hilfsschuldidaktik (Verzicht auf Kulturtechniken, Betonung des Musischen und der Handarbeit, Übernahme lebenspraktischer Übungen) die Grundlage für die Didaktik bei geistiger Behinderung gelegt und auch damals sogenannte ,schwer Schwachsinnige‘ miteinbezogen. Diese Bemühungen fanden zur Zeit des Nationalsozialismus und der auch danach noch starken Stigmatisierung von Menschen mit geistiger Behinderung ein abruptes Ende (Stöppler / Wachsmuth 2010, 23–29).

Aufbau Schule für Geistigbehinderte (1965)

Im Zusammenhang mit der Gründung der Elterninitiative Lebenshilfe für geistig Behinderte e. V. im Jahr 1958 wurde der Bildungsanspruch von Menschen mit geistiger Behinderung erneut diskutiert und gefordert. Zu Beginn dieser Bewegung wurden an Hilfsschulen einzelne Klassen für diesen Personenkreis eingerichtet. Das Sonderschulgesetz von 1965 ermöglichte dann die Einrichtung selbstständiger Schulen für Geistigbehinderte (Speck 2018, 36). In Abtrennung zur damals sogenannten Lernbehindertenschule und unter Überwindung der Unterrichtsfachbezogenheit wurde in diesem Kontext die Konzeption von Lehrplänen, die vor dem Krieg begonnen wurde, wieder aufgenommen. Die lebenspraktische und musische Bildung sowie funktionsbildende Übungen standen im Vordergrund. In den 1980er-Jahren wurden dann entwicklungs-, handlungs- und fachorientierte Lernbereiche und basale Förderangebote fokussiert. Ab 1978 wurde die Schulpflicht für alle Schülerinnen und Schüler unabhängig von der Schwere der Behinderung in den Schulgesetzen der Bundesländer festgeschrieben (Lamers / Heinen 2006, 148).

Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder der BRD hat 1980 Zielformulierungen bezogen auf Unterricht und Erziehung für die Schule für Geistigbehinderte aufgestellt, die den Schwerpunkt in der lebenspraktischen Erziehung hatte und Funktionsübungen (Wahrnehmung, Sensorik) und teilweise fächerorientierte Inhalte (Musik, Sport, Werken, Hauswirtschaft, Religion, Kulturtechniken) miteinbezog. Dieses Bildungsverständnis gilt heute als reduziert und defizitorientiert, da auf Fachdidaktiken verzichtet wird (Stöppler / Wachsmuth 2010, 25–28).

Diese Ausführungen zeigen deutlich, welchen geschichtlichen Hintergrund und welche Tradition lebenspraktische Inhalte in der Schule für Geistigbehinderte hatten und warum diese auch noch heute oftmals einen deutlichen Schwerpunkt einnehmen.

2.2.2 KMK-Empfehlungen

sonderpädagogische Förderung (1994)

Die Beschlüsse der Kultusministerkonferenz umfassen die Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen der Bundesrepublik Deutschland (1994), die fachrichtungsübergreifend, also für alle behinderungsbezogenen Schwerpunkte gelten und nach Hannig als „gemeinsame Orientierung bei der Weiterentwicklung sonderpädagogischer Förderung“ (2000, 41) dienen. Die innovative Ausrichtung dieser KMK-Empfehlungen liegt vorrangig in der Ablösung des Begriffs der Sonderschulbedürftigkeit durch den des sonderpädagogischen Förderschwerpunktes. Durch die Feststellung des Förderbedarfs eines Menschen wird nicht mehr gleichzeitig der Förderort festgelegt, sondern es werden die Schwerpunkte und Angebote der sonderpädagogischen Unterstützung spezifiziert (Kultusministerkonferenz 1994, 26).

„Die Erfüllung sonderpädagogischen Förderbedarfs ist nicht an Sonderschulen gebunden; ihm kann auch in allgemeinen Schulen (…) vermehrt entsprochen werden“ (Kultusministerkonferenz 1994, 26).

Diese Entscheidung erleichtert die Entwicklung des gemeinsamen Unterrichts (→ Kap. 2.2.3), wenn diese jedoch aufgrund des Empfehlungscharakters keine Umsetzungsgarantie in den einzelnen Bundesländern darstellt.

Förderschwerpunkte

Zu den übergreifenden Orientierungen werden auch Empfehlungen zu folgenden neun Förderschwerpunkten ausgesprochen: Hören, körperliche und motorische Entwicklung, Unterricht kranker Schülerinnen und Schüler, Sehen, Sprache, geistige Entwicklung, Lernen, emotionale und soziale Entwicklung, Erziehung und Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit autistischem Verhalten.

Die Begriffswahl Förderschwerpunkt impliziert die Annahme, die Förderung betreffe ausschließlich den vorgegebenen Entwicklungsbereich (in unserem Falle die geistige Entwicklung). Haupt sieht im Kontext der Körperbehindertenpädagogik (Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung) eine Analogie zur älteren defizitorientierten Annahme, durch die Förderung der Motorik die Gesamtentwicklung unterstützen zu können. Sie betont die Notwendigkeit des vernetzten Blicks auf die Gesamtentwicklung eines Menschen und die Sinnlosigkeit der Förderung von Einzelfunktionen (Haupt 2002, 46). Die spezifische Benennung einzelner Förderaspekte suggeriert, dass die nicht genannten Entwicklungsbereiche für die Förderung weniger oder gar nicht bedeutsam sind.

Wir verstehen den Begriff als besondere Fokussierung auf einen Förderaspekt, der jedoch gleichermaßen die ganzheitliche Entwicklung einbezieht. Die Verwirrung aufgrund der Betonung eines Förderschwerpunktes bleibt jedoch bestehen. Besonders eindrücklich wird dies bei dem Förderschwerpunkt Sehen, bei dem auch blinde Kinder und Jugendliche einbezogen sind, die trotz bestmöglicher Förderung nicht das Sehvermögen erlangen können.

Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (1998)

Der Beschluss der KMK zu den Empfehlungen zum Förderschwerpunkt geistige Entwicklung gibt zunächst grundlegende Aufgaben und Ziele des Unterrichts vor (in Drave et al. 2000, 266). Darin erkennen wir folgende drei Kategorien, die als Leitziele fungieren: praktische Lebensbewältigung, Selbstständigkeit und Selbstbestimmung, Handlungsorientierung.

Diese allgemeine Leitzielebene strebte unter Orientierung an der Lebenspraxis und Einbezug individueller Handlungskompetenzen eine größtmögliche selbstständige und unabhängige Lebensführung an. Stöppler / Wachsmuth betonen, dass in den 1960er-Jahren diese Vorstellung in der sonderpädagogischen Diskussion vorherrschend war und die Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen der Lebenspraxis deutlich untergeordnet wurden (2010, 64). Diese Argumentation stammt aus der Zeit, als das Recht auf Bildung der Schülerinnen und Schüler mit geistiger und schwerer mehrfacher Behinderung noch erstritten werden musste und die Voraussetzung für den Schulbesuch in der Orientierung an den Kulturtechniken bestand (2010, 26 f).

Aufgabenfelder des Förderschwerpunktes

Die Abkehr von diesen Ansichten wird mit dem Ziel gesellschaftlicher Teilhabe diskutiert (2010, 64 f). Dies spiegelt sich in den Revisionen der Lehr- und Bildungspläne wider (z. B. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2009, Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus 2008). Das komplexe Aufgabenfeld des Förderschwerpunktes geistige Entwicklung der KMK umfasst einerseits individuelle entwicklungsrelevante Aspekte und gleichermaßen Aufgabengebiete, die die Teilhabe an der Gesellschaft und somit an kulturell bedeutsamen Bildungsinhalten implizieren (1998 in Drave et al. 2000, 268 f). Die hier genannten Aspekte gelten für alle Schülerinnen und Schüler unabhängig von der Schwere der Behinderung. Es stehen die jeweils individuellen Kompetenzen im Mittelpunkt, für welche die Bildungsinhalte so aufbereitet werden müssen, dass sie für sie zugänglich werden können.

 

Förderbedarf

Doch worin liegt der potenzielle Förderbedarf begründet? Welche Aspekte im Kontext der geistigen Entwicklung erscheinen erschwert? Laut den KMK-Empfehlungen zum Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (1998) haben Beeinträchtigungen in der geistigen Entwicklung

„(…) insbesondere Auswirkungen auf

● das situations-, sach- und sinnbezogene Lernen,

● die selbstständige Aufgabengliederung, die Planungsfähigkeit und den Handlungsvollzug,

● das persönliche Lerntempo sowie die Durchhaltefähigkeit im Lernprozess,

● die individuelle Gedächtnisleistung,

● die kommunikative Aufnahme-, Verarbeitungs- und Darstellungsfähigkeit,

● die Fähigkeit sich auf wechselnde Anforderungen einzustellen,

● die Übernahme von Handlungsmustern,

● die Selbstbehauptung und die Selbstkontrolle,

● die Selbsteinschätzung und das Zutrauen (Drave et al. 2000, 267).

Anhand der genannten Aspekte wird deutlich, wie heterogen die Schülerschaft bezogen auf den Förderschwerpunkt sein kann. Ein zweiter Blick zeigt, dass in den einzelnen Aspekten nicht medizinische Schädigungen der Körperstrukturen beschrieben werden, sondern vielmehr die sich daraus potenziell ergebenden Einschränkungen im Bereich der Aktivität einer Person, d. h. die Möglichkeiten, Aufgaben oder Handlungen verschiedenster Art eigenständig ausführen zu können. Der Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung liegt darin, die Durchführung der Aktivität durch die Gestaltung der Lernumgebung oder der Hilfsmittel sowie personeller Assistenz zu begleiten und Barrieren im Hinblick auf die Lernaktivität zu minimieren. Für die Unterrichtsplanung ist daher ein grundsätzliches Verständnis von Bildungs- und Lernprozessen notwendig, um die Begleitung differenziert und personenorientiert gestalten zu können.

KMK 2011

Im Jahr 2008 hat die Ständige Konferenz der Kulturminister mit der Fortschreibung der Empfehlungen begonnen. Die zentrale Bezugsgröße stellt dabei die 2006 von den Vereinten Nationen verabschiedete Konvention zu den Rechten der Menschen mit Behinderung (VNBRK) dar (→ Kap. 2.2.3). Die Kultusministerkonferenz hat im Oktober 2011 einen Beschluss zur „Inklusiven Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in Schulen“ verabschiedet. Die KMK steht vor der Aufgabe, eine möglichst große Gemeinsamkeit unter den Ländern im Verhältnis von Sonderpädagogik und allgemeiner Pädagogik anzustoßen. Daher werden in den KMK-Empfehlungen (2011) pädagogische und rechtliche Aspekte der Umsetzung der VN-BRK in den Mittelpunkt gestellt. Die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf wird zur Aufgabe aller Schularten. Zugleich soll die optimale sonderpädagogische Begleitung gesichert werden (2011, 4 f).

Bereits erreichte Standards der sonderpädagogischen Unterstützung sollen an allen Lernorten abrufbar sein (2012, 3 f). Als Zielstellung des inklusiven Unterrichts wird das gemeinsame Lernen an gleichen Bildungsinhalten unter Berücksichtigung individueller Lernbedürfnisse formuliert. Dafür sind didaktische Fragen der Elementarisierung und Differenzierung sowie individuelle methodische Ableitungen daraus zu berücksichtigen (2012, 9). Inklusiver Unterricht stellt zudem Anforderungen an das lehrende und nicht lehrende Personal in Schulen. Die KMK hebt hervor, dass eine gemeinsame Abstimmung und Verantwortung für diagnostische, pädagogische und didaktische Fragen in den interdisziplinären kooperativen Teams unerlässlich sind (2012, 19 f).

2.2.3 Entwicklung der Integrations- / Inklusionspädagogik

VN-Behindertenrechtskonvention

In der 2006 von den Vereinten Nationen verabschiedeten Konvention zu den Rechten von Menschen mit Behinderung (VN-BRK) wird das Verbot der Diskriminierung von Menschen mit Behinderung in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen gefordert. In §24 wird dies zum Bereich Bildung konkretisiert und für alle Schülerinnen und Schüler – unabhängig von einer Behinderung oder deren Schwere – das Recht auf den Zugang zu einem unentgeltlichen allgemeinen Grundschulunterricht formuliert (Vereinte Nationen 2006, 18 f). Ein Ziel der VN-BRK ist es, Bildung als Menschenrecht zu definieren und die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung in diesem Bereich zu verhindern.

Auch die Bundesrepublik hat 2009 diese Konvention ratifiziert und arbeitet an deren Übertragung in geltendes deutsches Recht und einem Realisierungsplan der in der Konvention enthaltenen Forderungen. Dennoch ist die Realität von einem inklusiven Schulsystem, in dem wie selbstverständlich Kinder und Jugendliche mit ganz unterschiedlichen Lernvoraussetzungen – von hochbegabt bis schwerbehindert – gemeinsam lernen, noch weit entfernt.

Inklusionsbegriff

Der zentrale Begriff der Inklusion in der VN-BRK impliziert die Berücksichtigung aller Personen, ungeachtet einer Behinderung, in den rechtlichen Grundlagen und in der Bereitstellung von finanziellen und personellen Ressourcen im Bildungssystem sowie in der barrierefreien Zugänglichkeit von Bildungsinstitutionen.

Inklusion wird im Rahmen der VN-BRK zum unteilbaren Menschenrecht erhoben. Die Verwendung des Begriffes in der Literatur ist keinesfalls einheitlich. Sander hat drei verschiedene Verständnisweisen des Inklusionsbegriffs in der pädagogischen Diskussion herausgearbeitet: Inklusion als

● undifferenzierte Gleichsetzung mit Integration bzw. synonyme Verwendung,

● von Fehlformen bereinigte Integration,

● optimierte und umfassend erweiterte Integration (2004, 241 ff).

Im Kontext der dritten Variante wird mit dem Begriff ebenfalls die Veränderung des mehrgliedrigen Schulsystems und die Einrichtung ,einer Schule für alle‘ gefordert, die für alle Kinder ein gemeinsames und dennoch den individuellen Lernbedürfnissen angepasstes Lernen ermöglicht.

Zwei-Gruppen-Theorie

Hinz geht davon aus, dass im Rahmen der Inklusionsbewegung die Zwei-Gruppen-Theorie bzw. die Unterscheidung zwischen Menschen mit Behinderung und denen ohne Behinderung zugunsten des Bildes einer heterogenen untrennbaren Gruppe aufgehoben werden kann (2002, 357). Die Anerkennung von Heterogenität und deren Gewinn für die Gesellschaft, individualisiertes und gemeinsames Lernen sowie ein verändertes Selbstverständnis von Schule, die dies zu nutzen weiß, sind die zentralen Merkmale der Inklusion. Diese versteht Hinz als Grundlage und zugleich Ausgangspunkt einer radikalen Schulreform, die auch die Rolle der Sonderpädagogik kritisch hinterfragt (2002, 358 f). Mit der angestrebten ,Schule für alle‘ wird die Trennung der Schultypen aufgehoben. Sie gilt dann als neues System, in dem alle aufgenommen werden, voneinander lernen und dennoch individuell gefördert werden – ungeachtet ihrer Voraussetzungen.

Inklusion und Exklusion

Aus soziologisch systemtheoretischer Perspektive meint Inklusion das kommunikative Angesprochensein bzw. die Relevanz von Individuen für soziale Systeme. Exklusion wird als Nichtberücksichtigung von Individuen / psychischen Systemen in sozialen Systemen bezeichnet. Als soziale Systeme gelten

● die Gesellschaft mit ihren Teilbereichen, wie Erziehung, Recht, Wirtschaft etc.,

● eine Organisation wie z. B. eine Schule und

● Interaktionssysteme, wie z. B. Unterricht (Terfloth 2007a, 2008).

Inklusion und Exklusion werden auf drei Ebenen betrachtet: auf der Ebene der gesellschaftlichen Voraussetzungen, der Zugänglichkeit der Organisationen / Institutionen sowie der Interaktion in der konkreten methodischen Umsetzung in den jeweiligen Lerngruppen (Terfloth 2007a, Kap. 3). Zentral ist dabei die Frage: Wer gehört dazu? Inklusion und Exklusion bilden im Verständnis Luhmanns nicht den angestrebten Zustand der Gesellschaft oder einer Organisation ab, sondern können als ein zweiwertiges Beobachtungsschema eingesetzt werden. Dieses wird genutzt, um im Kontext von Interaktionssystemen, wie z. B. im Unterricht, zu prüfen, inwiefern dort Schülerinnen und Schüler tatsächlich berücksichtigt oder ausgeschlossen werden.

Exklusion

Was bedeutet dies für den gemeinsamen Unterricht? Mit zunehmender Schwere der geistigen Behinderung werden Personen weniger als Adressat oder Mitteilender in Gesprächen in Betracht gezogen. Alltagsbeobachtungen bestätigen dies: Nonverbales Verhalten wie Lautieren oder diffuse Gestik und Mimik werden häufig nicht als Mitteilung, sondern als auffälliges, störendes oder pathologisches und oft als behinderungsspezifisches Verhalten gedeutet und in der Folge ignoriert oder sanktioniert. Nicht sprechenden Menschen wird nicht selten eine fehlende kognitive Kompetenz unterstellt. Eine Konsequenz daraus kann besonders im Kontext geistiger Behinderung der Ausschluss (Exklusion) aus der Interaktion sein, z. B. durch die Reduktion des Menschen auf seinen Körper (Schroer 2001, 41). Der Körper der Person wird versorgt, sie selbst aber nicht als gleichwertiges Gegenüber betrachtet und daher auch kaum in Interaktion verwickelt. Dies ist beispielsweise bei Kindern und Jugendlichen im gemeinsamen Unterricht der Fall, die formal zur Klasse gehören, aber am Austausch und Kontakt innerhalb der Klassengemeinschaft nur bedingt teilhaben. Hier kann von Exklusion im inklusiven bzw. integrativen Setting gesprochen werden. Nicht die formale Zugehörigkeit allein eröffnet Inklusion, sondern das tägliche wiederkehrende Aushandeln der Relevanz der Person für das soziale System.