Grundlagen der Kunsttherapie

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

1.5 Der kreativ- und gestaltungstherapeutische Ansatz

Ein kreativ- und gestaltungstherapeutischer Ansatz hat sich im Laufe unseres Jahrhunderts entwickelt. Er hat eine ähnliche zweckfreie bzw. zweckgebundene Orientierung erfahren, wie wir dies im Falle der Arbeits- und Beschäftigungstherapie gesehen haben. Tardieu (1872), Lombroso und du Camp (1880), Morcelli (1881), Simon (1888), Kiernan (1892), Hospital (1893), Mohr (1906), Réja (1907), Morgenthaler (1918; 1919; 1921), Prinzhorn (1919; 1922; 1927), BürgerPrinz (1932), Dubuffet (1949), Binswanger (1955), zusammenfassend Bader (1975), Navratil (1965; 1969; 1979; 1983), Benedetti (1984) und Gorsen (1980, 1984) haben sich in den letzten 100 Jahren einer Denktradition angenommen, welche sich in zwei entgegengesetzten Positionen formulieren lässt:

Die einen behaupten, dass Kinder, „Wilde“, Geisteskranke und Genies sich in einem originalen, zivilisatorisch unverstellten und unbeeinflussten Gefühlsdrang unmittelbar-kreativ auszudrücken vermögen. Im Gestaltungsausdruck erscheine unbewusst Vorgebildetes, das unbeeinflusst von aller Kultur sei und sich triebhaft entäußere. Diese Position wird in der Kunst von Surrealisten wie Max Ernst, Paul Klee, André Breton, Alfred Kubin und anderen geteilt: Sie sehen in der Kunst der Primitiven eine besondere Kulturform, in der sich das unzensierte und vielgestaltige Ich naturhaft ausdrückt. Seit Dubuffet wird eine solche künstlerische Ausdrucksform unter dem Stichwort „art brut“ behandelt.

Die kritischen Gegenstimmen unterscheiden bildnerischen Betätigungsdrang – beispielsweise des psychotischen Menschen – und künstlerische Kompetenz: Sie verweisen darauf, dass die gefeierte Ursprungs- und Naturmythologie des Kindhaften und Kranken kaum apologetisch gegen derzeitig entfremdete Verhältnisse gesetzt werden dürfe (Günter 1989). Psychotische Kunst könne kaum das richtige Abbild einer ganzen falschen Zivilisation sein, wohl aber sei sie in der Lage, die pathologischen Formen neuzeitlicher Subjektzerstörung zu demonstrieren.

Künstler der Moderne wie Joseph Beuys in seiner Rauminstallation „Das Ende des 20. Jahrhunderts“ (1983) oder in seiner Zeichnung „selbst im Gestein“ (1955), oder Walter Dahn in seinem Bild „Selbst doppelt“ (1982) bestätigen: Die Spaltung, die Zerrissenheit, die Exkorporalisierung des Menschen der Moderne ist allenfalls in ihrer Unversöhnlichkeit zu illustrieren (Menzen 1990a). Die ursprungsmythologische Tendenz, Kunst- und Naturausdruck des Menschen gleichzusetzen, wird von den Kritikern da zurückgewiesen, wo die Eigenständigkeit des Kulturellen, des spezifisch Künstlerischen verloren geht.

Seit den 1960er Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich eine Version tiefenpsychologisch und analytisch orientierter Gestaltungstherapie aufgetan (Kramer 2014; Franzke 1977; Wellendorf 1984; Schrode 1989; Schottenloher 1989). Sie versteht sich „als Therapie mit bildnerischen Mitteln auf tiefenpsychologischer Grundlage“ (so der Titel von Schrode 1989) und hat vor allem in die klinisch-stationäre Gruppenpsychotherapie Eingang gefunden (Petzold 1987). Gestaltungstherapie solcher Art sieht sich als Ergänzung verbal orientierter Psychotherapie durch den bildnerischen Ausdruck. Sie beabsichtigt die spontane Ausdrucksgestalt als eine Synthese von Innerem und Äußerem und intendiert die Vermittlung zwischen Bewusstem und Unbewusstem in der symbolisch sich entwickelnden Äußerung (Jung 1958 / 1916). Gestaltungstherapeutische Verfahren werden beispielsweise bei Menschen mit Borderline-Syndrom, mit posttraumatischen Störungen und unterschiedlichsten psychoneurotischen und psychovegetativen Störungen angewandt, sowohl in privater wie in klinisch-stationärer Praxis, besonders in der medizinisch-stationären Rehabilitation.

1.6 Der tiefenpsychologische Ansatz

Ein spezifisch tiefenpsychologischer und psychotherapeutischer Ansatz der Kunsttherapie stimmt mit dem zuletzt beschriebenen teilweise überein: Er fußt auf Freuds These, dass sich im jeweiligen symbolischen Ausdruck ein Triebschicksal offenbare. Ebenso greift er Jungs Antwort auf, dass diese These allzu leicht auf die kindliche Triebgeschichte reduziert werden könne und komplexer gesehen werden müsse. Mit Jung wird angenommen, dass der Sinn des Symbols in dem Versuch besteht, das noch gänzlich Unbekannte und Werdende analogisch zu verdeutlichen. Die Erkenntnis von Freud und Jung war, dass sich im Vorgang des Symbolisierens seelische Konflikte ästhetisch-bildnerisch dokumentieren können. Beide vermuteten, dass sich hinter dieser Stellvertretung ein affektbeladener, verhientnderter seelischer Vorgang verbirgt, der eine andere Entladung (Konversion), eine Umleitung und ein Abschwellen der Erregung sucht (Katharsis). Der symbolisch angedeutete Sinnzusammenhang weise auf einen abgewehrten Ausdruck zurück. Und das Unbewusste, so Jung, entwerfe im Symbol eine Vorstellung dessen, was eigentlich gemeint sei und was nach Bewusstwerdung, nach Gestaltung dränge (Dieckmann 1972).

Freudianische und jungianische Positionen haben das Dokument des Unbewussten unterschiedlich diskutiert: Freuds Anhänger konzentrieren sich auf die Semantik, die Bedeutung des symbolischen Ausdrucks, und suchen die Ursachen in der frühen Triebgeschichte. Vertreter der jungschen Auffassung rücken den Sinnzusammenhang des individuellen Lebenswegs insgesamt in den Mittelpunkt. In der Nachfolgediskussion sind die Ziele des ästhetischen Produzierens, des ästhetischen Gestaltens entsprechend unterschiedlich: Es soll zur Regression anregen und ermöglichen, auf eine frühere, unzensierte, emotionalere Stufe der psychogenetischen Entwicklung zurückzugehen (Kris 1977). Die Differenzierung von Denk- und Bewusstseinsstrukturen soll außer Kraft gesetzt werden (Müller-Braunschweig 1964; Ehrenzweig 1974). Die ästhetische Produktion soll verdrängte Affekte freisetzen, eine Bewältigung von Konfliktspannungen durch Reduktion und Abfuhr von Triebenergie (Katharsis) in die Wege leiten und solchermaßen eine libidinöse Entlastung herbeiführen (Müller-Braunschweig 1977). Angstbesetzte Vorstellungen sollen in eine äußere bildnerische Realität überführt werden (Fenichel 1983). Das ästhetische Gestalten ermöglicht den Austausch des Triebobjekts bei Beibehaltung der Triebziele (Sublimation) und hilft dadurch, nicht-sozialisierte Impulse zu bewältigen (Schmeer 1995). Es soll im Sinn narzisstischer Regulation zum affektiven Gleichgewicht, zur Erweiterung der Ich-Grenzen beitragen (Henseler 1974; Benedetti 1979). Und es soll u. U. ein Probehandeln sein, um das, was sonst nicht möglich, nicht erlaubt ist, zu agieren (Müller-Braunschweig 1974; Schuster 1997).

Der tiefenpsychologische Ansatz der Kunsttherapie wird in privater und klinischer Praxis verwandt und ist dabei, sich mit anderen, beispielsweise verhaltens-, familien- und systemtherapeutischen Ansätzen zu liieren (Schmeer 1995; Menzen 1999; Schmeer 2006 a, b).

2 Zur Aktualität der künstlerischen Therapieformen

Die Kunsttherapie unserer Tage wird im klinisch-psychologischen und im rehabilitativen Bereich eingesetzt, und zwar stationär, ambulant und komplementär. Sie macht sich die innerpsychischen Prozesse bei der Betrachtung und bei der Herstellung von bildnerischen Ausdrücken zunutze. Ihr Zweck besteht darin, die Orientierungs- und Gefühlslagen der Patienten wiederherzustellen und Problem- wie Leidenssituationen bildnerisch zu bearbeiten. Ihr Mittel besteht darin, jenen psychischen Ausdrücken, jenen Bildern, Vorstellungsmustern, die Leiden verursachen, eine andere Ausrichtung zu geben. Im Ergebnis sollen die Bewusstseins- und Erlebnisweisen, aber auch die Verhaltensabläufe mit bildnerischen Mitteln so konstelliert werden, dass es möglich wird, das Alltagsleben neu zu sehen und zu bewältigen.

Drei praktische Perspektiven der Kunsttherapie haben sich herausgeschält – eine klinisch-neurologische und heilpädagogische-rehabilitative, eine psychosomatisch-tiefenpsychologische und eine psychiatrisch orientierte Kunsttherapie. Alle drei Perspektiven werden derzeit in der sozial- und heilpädagogisch- wie psychotherapeutisch-medizinischen Rehabilitation angewandt.

Die klinisch-neurologische und heilpädagogische-rehabilitative Kunst-therapie sucht vor allem die Selbsterlebens- und Erfahrensformen des geistig und körperlich behinderten oder dementen Menschen zu restituieren oder zu kompensieren; und dazu bedarf es einer langwierigen Wiederaneignung der unterbrochenen Sozialisation. Jeder, der täglich mit geistig behinderten und / oder neurologisch geschädigten Menschen zu tun hat, kennt die Etikettierungen, denen diese ausgesetzt sind. Was der Therapeut über diese Menschen denkt, wie er sie wahrnimmt und wie er ihre Kompetenzen und Defizite einschätzt, das bleibt den Betroffenen in der Regel verborgen. Sie scheinen in ihrer eigenen Welt zu leben, die den Außenstehenden eine terra incognita ist. Der therapeutische Prozess, der in den Umkreis dieser Welt eindringt, entwickelt sich in bildnerischen, psychologisch und physiologisch angemessenen Schritten. Er knüpft dabei mit den Mitteln der Kunst an den Facetten der bildnerischen Material-, Form- und Farbgebung an, deren je eigene Psychodynamik aus den erstarrten, zuweilen nie erlebten Verhaltens- und Bewusstseinsformen herausführen soll (Menzen 2007, 355–368).

 

Die psychosomatische, zunehmend traumatherapeutisch orientierte Kunsttherapie will helfen, dass das Selbsterleben des beschädigten, des regressiven Bewusstseins, das sich leidvoll am Körper zeigt, bildnerisch ausgedrückt und dadurch aus Erstarrungen gelöst werden kann. Setting und Interventionsformen gleichen zuweilen noch denjenigen der Psychoanalyse, werden aber immer mehr von den explorativen Imaginationsverfahren und der Verhaltenstherapie geprägt. Ihr geht es einmal um die innere wie die äußere Form des Erlebten und dessen bildnerische Darstellung. Das Erlebte soll beispielsweise in der traumatherapeutischen Behandlung nach einer Phase der Stabilisierung in der sog. Traumaexposition eine Form, eine Gestalt erhalten – und so anschaubar, reflektierbar, auf die nicht mehr leiden machenden Seiten, eher auf die den Patienten eigenen Ressourcen hin ausgerichtet werden. Ihr geht es einerseits darum, die leiden machenden, immer wiederkehrenden Bilder, die schädlichen Erlebens- und Verhaltensmuster transparent, fassbar zu machen, andererseits die Selbstheilungskräfte zu aktivieren. Die psychosomatisch orientierte Kunsttherapie hat viel von der Gestalttherapie gelernt, die die inneren Beweggründe, die krankmachend sind, nachzuvollziehen, auszugestalten sucht, um sich schließlich der eigenen Kompetenzen bewusst zu werden.

Der psychiatrisch orientierten Kunsttherapie geht es noch ausdrücklicher als den psychosomatischen Verfahren um die Formen misslingender sozialer Alltagsgeschichten angesichts einer erschütterten und gefährdeten Ich-Instanz. Wo die sozialen Beziehungen nur noch verwirrend und gewaltförmig erlebt werden, da sucht diese Art der Kunsttherapie Beziehung wieder fassbar zu machen, zu gestalten. Ausgangspunkt der Therapie ist das leidvolle dissoziative und identitätsgestörte Erleben des Patienten. In der Folge wird die strukturierte Beziehung, die den Therapeuten und den Patienten durch das Medium der Kunst hindurch miteinander verbindet, zur Basis für eine therapeutisch dokumentierte Relation. Das Setting soll Verhaltensformen so reproduzieren, dass ihr therapeutisches Produkt sinnlich angeschaut und bildnerisch gestaltet werden kann, damit es als das Eigene verinnerlicht werden kann. In der Psychiatrie wird die kunsttherapeutische Methode zunehmend als Gruppenpraxis angewandt. Hierbei zeigt sich, dass die psychiatrische Kunsttherapie die Zeit- und Raumbestimmungen des Alltags, die alltäglichen Wahrnehmungen und Erlebnisse, die im Zuge der Verwirrungen psychotischer Schübe aus der Fasson geraten sind, rekonstituieren kann. Hierin ist die psychiatrische Kunsttherapie den neueren Therapien verwandt: Sie will wie die Verhaltenstherapie mit dem Patienten ein adäquates Verständnis für dessen Vulnerabilität und Stressfaktoren herstellen; sie will wie die Systemische Therapie mit dem Patienten dessen erstarrte Denk- und Handlungsmuster rekontextualisieren, beispielsweise „resonanzbildhaft“ (Schmeer 2006) anschaubar machen; sie will wie das Psychodrama und die Klinische Bewegungstherapie angesichts der verunklarten Ich-, Körper- und Rollenfunktionen mit dem Patienten ein neues Selbstgefühl, eine neue Definition von sich selbst konstruieren, die bildhaft verfügbar ist.

Wenn wir versuchen, eine zusammenfassende Beschreibung derzeitiger kunsttherapeutischer Tätigkeit zu geben, kommen wir zu folgendem Fazit: Die klinisch-neurologische, die psychosomatische und die psychiatrische Kunsttherapie haben sich weitestgehend in einem Bereich des Gesundheitswesen angesiedelt, den wir allgemein den Rehabilitationsbereich nennen. Im sozialrechtlichen Sinne sind die ambulanten wie klinisch-stationären Fördermaßnahmen in der Sozialen Vorsorge der Kranken- und Rentenversicherungskassen wie in der rehabilitativ orientierten Sozialhilfe verortet; diese Maßnahmen sind rechtlich im Sozialgesetzbuch (SGB) grundgelegt.

Angesichts eines Psychotherapeutengesetzes, das den Kunsttherapeuten als eigenständigen Berufsstand nicht in den Bereich der psychotherapeutischen Versorgung einbezieht, haben die künstlerischen Therapieformen schwerpunktmäßig also ihren Ort in den Feldern der sozialen Wiedereingliederungs- und Rehabilitationshilfe. Da deren Maßnahmen nicht unwesentlich mit den psychosomatisch-psychotherapeutischen und neurologischen einhergehen, finden wir KunsttherapeutInnen zunehmend in dem Feld der psychosomatischen, psychotherapeutischen und neurologischen Medizin und deren rehabilitativen Einrichtungen – was einer hohen Wertschätzung des Berufsstandes seitens der im klinischen Bereich Verantwortlichen entspricht. Explizit werden neuerdings Kunsttherapeuten für die stationäre Versorgung der Psychotherapeutischen Medizin vorgeschlagen, und es wird konstatiert, dass die „psychotherapeutischen Ansätze . . . verbale und nonverbale (körperbezogene Therapie, Musik- und Kreativtherapie) Methoden“ umfassen (Sozialministerium Baden-Württemberg 1998b, 32).

Explizit hat die Expertenkommission der „Deutschen Rentenversicherung Bund“ in der KTL 2006 (Klassifikation Therapeutischer Leistungen), verordnet allen Rehabilitationseinrichtungen, den Kunsttherapeuten / -innen mit den Berufsgruppen der Klinischen Psychologen und Neurologen eigene Leistungs- und Abrechnungsziffern zugewiesen (F 15, F 16), sie sogar im Delegationsverfahren bei psychotherapeutischen Verfahren zugelassen (G 04). (Deutsche Rentenversicherung Bund 2006)

Das Psychotherapeutengesetz bedeutet also für die kunsttherapeutisch Tätigen nicht, dass sie auf ihr psychotherapeutisches Know-how verzichten müssen. Nach wie vor arbeiten sie u. a. damit, innerpsychische Einstellungen und sich ausdrückende Verhaltensmuster in der bildnerischen Formgebung und Dynamik eines ästhetischen Mediums zu spiegeln und die sich dabei abbildenden Lebensverhältnisse bearbeitbar und neu zentrierbar zu machen, so dass sich neue Lebensperspektiven bieten.

Die künstlerischen Therapien wollen rehabilitieren und wiedereingliedern. Sie wollen die Ausdrucksformen eines gehemmten, gestörten soziokulturellen Austauschs wieder sozial zugänglich machen. Mit bildnerischen, mit abbildenden Mitteln suchen sie die behinderten, die gestörten, die krank gewordenen Äußerungen aus den Einbahnstraßen des Lebens herauszuführen.

TEIL II

METHODEN DER KUNSTTHERAPIE

Jede Methode ist „eine Form, mit deren Hilfe der Inhalt einer gegebenen Wissenschaft, ihre Bedeutung für die Praxis, ihr Zusammenhang mit anderen Wissenschaften und ihre erzieherische Wirkung dargestellt werden“ (Schtraks / Platonow 1973, 20). Daher bezeichnet sie die „Vorgehensweise bei der theoretisch-erkennenden und praktisch-gegenständlichen Tätigkeit des Menschen einschließlich der diesem Vorgehen zugrundeliegenden Gesetze, Regeln und Normen sowie deren erkenntnistheoretisch-logische Struktur“ (Friedrichs 1980, 13). Der Versuch, die Methoden der Kunsttherapie darzulegen, muss folglich darauf bedacht sein, alle ihre Vorgehensweisen in Theorie und Praxis, in Erziehung und Therapie aufzuzeigen.

1 Sinneskompensation und Sinnesförderung

1.1 Die Entwicklung der Methode im 19. Jahrhundert: ästhetisch-bildnerische Ansätze

Schon die Aufklärung kannte die Wirkung der Ästhetik auf die Anschauungsweisen, das Verhalten und das Leben des Kindes. „Die Darbietung ästhetischer Ideale“, so der einflußreiche Psychologe und Pädagoge Johann Friedrich Herbart (1776–1841), „das Herzeigen ästhetischer Gegenstände“, all dieses „veredelt die Gemütsbestimmungen, erzieht zu Geschmacksurteilen, betont gefühlshaft das sittliche Urteil und entwickelt Typen des Geschmacks“ (1841 / Ed. 1850–52, Bd. 3, 173). Bereits der Titel seiner Schrift „Über die ästhetische Darstellung der Welt als Hauptgeschäft der Erziehung“ von 1804 demonstriert, worum es Herbart ging: Die Kinder sollten mit Hilfe der Kunst Moral, Sitte und Anstand lernen. Denn die Vernunft zeige sich, so Kant, vor allem in der Praxis, d. h. in ihrem öffentlichen Gebrauch. Damit eröffnete Herbart die erste Perspektive auf die Verwendung der Kunst als Erziehungs- und Heilmittel.

Das 19. Jahrhundert war die große Zeit der Natur: Die Natürlichkeit des Menschen stand im Zentrum, und die Landschaftsmalerei, etwa eines Watteau, arbeitete am Kult der befreiten Natur. Aber es war doch eine Natur, die gesellschaftlichen Kriterien zu gehorchen hatte. Diese Unterordnung, die sich z. B. im Kunstunterricht als direktiv gelenktes Zeichnen nach der Natur demonstrierte, wurde etwa im sog. „Naturzeichnen“ Rousseaus sichtbar. Daraus ergab sich eine Kollision, die folgenreich sein sollte, ein Widerspruch zwischen der abstrakten, der gesellschaftlichen Natur und der wirklichen, der empirischen Natur des heranwachsenden Menschen. Im Namen der Natur wurde die seine zum Gegenstand von Dressur und Manipulation. Und dagegen erhob sich, im Namen der wirklichen inneren und äußeren Verfasstheit des Kindes, der Protest vieler Pädagogen.

So entwarfen die Heilpädagogen Deinhardt (1821–1880), Georgens (1823–1886) und Gayette-Georgens (1817–1895) um 1860 ein Konzept des Gebrauchs „ästhetisch-erzieherischer Heilmittel“, das in seiner Radikalität bis heute besticht. Ihre Behandlungspläne nehmen die Freiheit der kindlichen Natur ernst:

„So muß man sie zum Beispiel üben, Gegenstände verschiedener Form und ziemlicher Größe, Würfel und Säulen, Kegel, Stäbe, Scheiben mit einem Griff zu erfassen, ihnen verschiedene Stellungen zu geben, sie zu drehen etc., man muß die Gegenstände mit glatten und rauhen Oberflächen aneinander und an den Händen und Wangen reiben lassen, man läßt bei geschlossenen Augen einen Gegenstand aus anderen hervorsuchen, man hat ihr Auge durch Farbenspiele zu beschäftigen, indem man ihnen zum Beispiel abwechselnd die verschiedenartigen Seiten von Scheiben zukehrt, sie nach Fähnchen verschiedener Farben langen oder weglaufen läßt, später verschiedenartige Täfelchen in gleichfarbige Häufchen aufeinanderlegen läßt und zu den Legeübungen einen Übergang macht.“ (Deinhardt / Georgens 1863 / 1979, 362 f.)

Die Spiele, die Georgens, Deinhardt und Gayette-Georgens vorschlagen, sollen „ästhetische, [. . .] notwendige Heilmittel“ sein (1863 / 1979). Damit ist der erste Schritt in Richtung einer Kunsttherapie gemacht, die der Sinnesentwicklung entspricht. Denn hier finden sich schon deutliche Anklänge an die Theorie der „Zone der nächsten Entwicklung“ von Lew Wygotsky (1896–1934) und Jean Piaget (1896–1980), die es erlaubt, haptische, optische, akustische und psychomotorische Fördermaßnahmen entwicklungsgemäß mit allen Mitteln der Kunst einzuleiten. Eine der ersten Anstalten für geistigbehinderte Menschen, die damals noch „blöd-sinnig“ und „idiotisch“ hießen, die Heilpflege- und Erziehungsanstalt Levana in Baden bei Wien (Deinhardt / Georgens 1858), wird von Georgens, Gayette-Georgens und Deinhardt geleitet und verbindet im Sinne der neuen Entwicklungs- und Förderlehre medizinische, pädagogische und ästhetische Methoden. Die drei Heilpädagogen verwerfen das bisherige Dogma, „idiotische“ Menschen müssten prinzipiell gesondert erzogen werden, und sie plädieren für eine spezielle Heilpädagogik.

Im Rückgriff auf die schillersche Ästhetik, die Sinnlichkeit und Verstand in Einklang bringen möchte, will man in der Levana der Erkrankung des Kindes mit naturwissenschaftlich-medizinischen und ästhetisch-sinnlichen Mitteln begegnen. Nach Georgens u. a. kann eine naturgemäße Erziehung nur eine sinnlich-ästhetische sein: Es geht um kompensatorische Wiederherstellung, Aufbau, Stabilisierung und Entfaltung der sinnlichen und geistigen Natur (Schiller 1975 / 1795). Ihre Idee des vollkommenen Menschen impliziert eine Ausbildung zur „Genußfähigkeit“ und zur „Arbeitsfähigkeit“:

 

„Als notwendige Ansprüche an die ästhetische Erziehung, die uns mit der wahrhaft naturgemäßen Erziehung gleichbedeutend ist, haben wir direkt und indirekt hervorgehoben, daß sie die Betätigung allseitig zu entwickeln und harmonisch ins Spiel zu setzen, die Genußfähigkeit in die Arbeitsfähigkeit und die letztere [. . .] als Darstellungs- und Herstellungsvermögen auszubilden, die einzelnen durch die Gemeinsamkeit der Arbeit und des Genusses innerlich und lebendig zu verknüpfen, und hierdurch, das heißt durch die prototypische Verwirklichung der Gemeinschaft die sittliche wie die dynamische Gemeinschaftsfähigkeit zu erzeugen hat.“ (Georgens / Deinhardt 1861 / 1979, 167)

Deinhardt und Georgens betonen, dass ihre „Kulturförderung“ dem Spiel, der Leibpflege, der Geschmacksbildung sowie der Arbeit besondere Bedeutung beimisst (1858, 6). Und jede ästhetische Erziehung bedürfe der pädagogisch geregelten Spielübung (1863 / 1979, 4 f.). Nur so sei das Zusammenwirken der Sinne und der Bewegungsorgane sowie die Ausbildung der Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Empfindungsfähigkeit zu fördern. Es gehe um die Entfaltung des Vorstellungsvermögens und der Kombinationsfähigkeit, der praktisch-ästhetischen Produktivität, des ästhetischen Darstellungsvermögens.

Dieses Konzept wandte sich nicht zuletzt gegen die mittlerweile arrivierte Experimentalpsychologie, deren Protagonisten Johann Friedrich Herbart, Gustav Theodor Fechner (1801–1887) und Wilhelm Wundt (1832–1920) sich allenfalls der Unterrichtung, der Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Kindes verschrieben hatten. Von einer derartigen Zurichtungspraxis waren Deinhardt, Georgens und Gayette-Georgens nicht nur meilenweit entfernt, ihr Ansatz stand dazu sogar in scharfem Gegensatz – ein halbes Jahrhundert vor der Erfindung des Taylorismus, der totalen physischen und psychischen Vermessung des Menschen im Interesse der industriellen Verwertung und mehr als über ein halbes Jahrhundert vor der faschistischen Vernichtung, die den Taylorismus nationalistisch und rassistisch noch radikalisierte und überbot.

1.2 Die Weiterentwicklung im 20. Jahrhundert: basale Stimulation

Das 20. Jahrhundert unterscheidet zunehmend zwischen geistiger Behinderung und Wahrnehmungs-, speziell Sinnesstörung. Zwar drücken sich die Formen geistiger Behinderung unter Umständen in gehirnfunktionalen Ausfällen aus, gehen mit ihnen parallel und lassen sich daher mit Intelligenztests erkennen. Aber das bedeutet nicht, dass sie in jedem Fall zu Verhaltensauffälligkeiten führen. Diejenigen Symptome geistiger Behinderung, die erst in der sozialen Interaktion auffällig werden, müssen nicht die logische Folge einer ursprünglichen Hirnschädigung sein. Zuweilen sind sie das Resultat von prä-, peri- oder postnatalen Störungen der Sinnesentwicklung oder von Wahrnehmungseinschränkungen in der frühen Kindheit. Die Anfälligkeit des Embryos für Störungen infektiöser (z. B. Viren), toxischer (z. B. Alkohol und Nikotin) oder stressbedingter (z. B. hohe Kortisolausschüttungen nach Ärger, Konflikt etc.) Art ist bekannt.

Hirnschädigungen können ganz verschiedene Ursachen haben wie z. B. Tumore (d. h. Gliome, die in die Hirnsubstanz einwachsen, Meningiome, die Druck auf die Hirnsubstanz ausüben, oder Metastasen, die durch Transport aus anderen Körperregionen im Hirn entstehen) oder Infektionen (z. B. Enzephalitis, d. h. eine Gehirnentzündung, bei der Nervenzellen in großer Zahl absterben). Andere Schädigungen können vaskulär bedingt sein (Hirndurchblutungsstörungen bis zur Embolie, z. B. Schlaganfall), traumatisch (z. B. Verkehrsunfall: Zerstörung von Hirnsubstanz durch Aufprall und nachfolgende Schwellung sowie durch Zerstörungen im Blutgefäßsystem), stoffwechselbedingt oder chromosomal (wie beim Down-Syndrom). Diese unterschiedlichen Ursachen einer Hirnschädigung, die eine gestörte Wahrnehmung und Informationsverarbeitung zur Folge haben, müssen in ihrer Ätiologie, also in ihrer Entstehung von den so genannten Sinneswahrnehmungs- und Teilleistungsstörungen unterschieden werden.

Wahrnehmungsstörungen können schon frühzeitig in Form von kindlichen Fehlreaktionen auffällig werden: Entweder reagiert das Kind nicht, und seine Sinne sind nicht stimulierbar, oder das Kind reagiert übertrieben und unverhältnismäßig. Im zweiten Fall scheinen seine Ausdrucksformen der Art, Stärke und Abfolge der Stimulationen nicht zu entsprechen.

Ein Beispiel: Die kleine Gisela reagiert auf kinästhetische Reize irritiert. Was heisst das? Wird sie in einer bestimmten Position im Arm gehalten, verhält sie sich ruhig, aber sowie sich die Mutter bewegt und die Raumlage der kleinen Gisela verändert, beginnt diese zu wimmern. Ihre kinästhetische Wahrnehmung, also ihr Muskelsinn und Bewegungsempfinden, gesteuert u. a. von den Gleichgewichts-, Körperlage- und motorischen Koordinationszentren des Gehirns, ist gestört. Daran liegt es, dass sie sich bei freier Bewegung im Raum unsicher orientiert: Dies betrifft ihr Gleichgewichtsvermögen ebenso wie ihre Statumotorik, ihr gesamtes taktiles, visuelles und motorisches Verhalten.

Tabelle 1 gibt eine Liste der Sinnes- und Wahrnehmungsstörungen sowie der aus ihnen resultierenden Einschränkungen und Lernbehinderungen. Dass die körperlichen und geistigen Störungen hier von den Sinnes- und Lerneinschränkungen unterschieden werden, geschieht nur aus Gründen der Darstellung, denn in der Realität treten sie oft gemeinsam auf und können oft auch nur gemeinsam behandelt werden.

Tab. 1: Übersicht der Sinnes- und Verhaltensbeeinträchtigungen


Tabelle 1 zeigt ein ganzes Repertoire gestörter Sinnesfunktionen auf basaler Ebene, aus denen soziale Kooperationsstörungen ableitbar sind. Sie lässt zugleich die Vermutung zu, dass auch eine hirnfunktionale Schädigung vorliegen könnte (die heilpädagogische Betrachtung ignoriert zunehmend weniger den möglichen organischen Anteil der Störung).

Ayres (1975, 1984), Fröhlich (1983), Affolter (1987) u. a. haben in den letzten Jahren in der Tradition der Entwicklungspsychologie Piagets die modalen, d. h. sinnesspezifischen Störungen des heranwachsenden Kindes analysiert. Anneliese Augustin (1986) hat beispielsweise die Störungen des taktil-kinästhetischen Wahrnehmens (Tast- und Bewegungsempfindungen), des vestibulären Systems (Gleichgewichtssinn), der visuellen (Gesichtsempfindung) und der akustischen Wahrnehmung (Gehör) sowie der gustatorischen (Geschmack) und der olfaktorischen Wahrnehmung (Geruch) untersucht. Sie hat all diese sinnesspezifischen Leistungen in den ersten Lebenswochen beobachtet und festgestellt, wie ab dem vierten Monat die Sinnesverbindungen intermodal verschaltet werden, z. B. die Koordination von Auge und Hand. Mit dem neunten bis elften Monat entwickelt das Kind sogenannte seriale Leistungen, d. h. es vermag nun Einzelleistungen in die richtige raum-zeitliche Reihenfolge zu bringen und nach Maßgabe seiner Erkundung der Lebenswelt zu integrieren. Nach eineinhalb Jahren ist das Kind sodann fähig, die Dinge miteinander in Bezug zu setzen und Handlungen zum Abschluss zu bringen, es vermag die Dinge zu benennen und sein Spiel mit Lautäußerungen zu begleiten.

Jean Ayres (1975, 1984) hat ein Konzept der „sensorischen Integration“ vorgelegt, das alle Störungen dieser Sinnesverschaltungen systematisiert (Abb. 1).

Daran anknüpfend hat Praschak (1992) eine Didaktik der „sensumotorischen Kooperation“ erarbeitet. Ihm zufolge bereitet das lutschende, strampelnde und kreischende Kleinkind unwissentlich „sensumotorische Handlungspläne für spätere Aufgaben“ (1992, 13 f.) vor. Praschak stellt diese sensumotorischen Aktivitäten als Anpassungsprozesse dar, die gleichsam von innen her die Kompetenzen aufbauen, erweitern und verändern. Wie schon die frühkindliche Entwicklung die Weichen für eine eventuelle spätere Behinderung mit all ihren emotionalen, kognitiven und sozialen Folgen stellt, so haben auch an den sog. normalen Handlungsentwürfen entwicklungspsychologische, neuropsychologische und auch biographische Bedingungen ihren Anteil. Sie konstituieren eine Art Koordinatensystem, das den Modus aller Handlungen bestimmt. Jede einzelne Bedingung kann für sich dafür verantwortlich sein, dass die sensumotorischen Praktiken gestört und die sozialen Interaktionen verzerrt werden, dass die sozio-kulturell üblichen Umgangsformen nur schwer erlernt werden können.


Abb. 1: Die Sinne – Integration ihrer Reizeinwirkungen (Ayres 1984, 84)

Diese Studien orientieren sich zwar an der Entwicklungslehre Jean Piagets, aber sie argumentieren – und das ist das Neue daran – mit der nicht altersgemäßen Störung. Sie forschen der unter- oder überempfindlichen und somit potentiell pathologischen Reaktion des Kindes nach. Denn wo der grundlegende Zusammenhang von Reiz und Reflex gestört ist, ist der Weg in die geistige Behinderung oder Retardierung offen. Derartige Störungen können aber auch ein Hinweis auf eine organisch bedingte geistige Behinderung sein. Die Symptome der Wahrnehmungsstörung einerseits, der geistigen Behinderung andererseits sind keineswegs eindeutig, was die Diagnose umso schwerer macht. Da beide Phänomene jedoch von Anfang an verschiedener Behandlung bedürfen, trägt die Diagnose eine enorme Verantwortung. Denn bei einer Wahrnehmungsstörung ist eine entwicklungsanbahnende Behandlung angebracht, während im Falle einer geistigen Behinderung entwicklungskompensatorische Schritte eingeleitet werden müssen und Hoffnungen auf grundlegende Veränderungen fehl am Platz sind. Warum sich an die entwicklungsanbahnenden Maßnahmen die größeren Hoffnungen knüpfen, zeigen Abbildung 2 und 3.