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Bei der Beratung und beim Coaching gelingt es mir schon recht gut, diese Variablen einzubeziehen. Bei den Weinverkostungen scheitere ich häufig daran – und meine Frau erklärt mir dann im Nachhinein: »Du hättest nicht so viel über dich und deinen Wein erzählen sollen, deine Gäste wollten lieber probieren und auch mal über ihre Eindrücke und Erfahrungen mit ähnlichen Weinen berichten. Du hättest Fragen stellen sollen und nicht Antworten geben.«

Sicherlich ist eine angemessen zurückhaltende Kommunikation Teil der Ausbildung von Weinverkäufern und Sommeliers. Aber gibt es eigentlich Supervisionen für sendungsbewusste, aber unglückliche Weingastgeber?

Wie teuer darf ein Wein sein? Was darf Coaching kosten?

»Es gibt keine teuren Weine, nur schlechte«, pflegte Tante Klara zu sagen. Diese Aussage könnte man auch so verstehen, dass gute Weine in nahezu allen Preiskategorien auftauchen können. Wenn wir unsere Überlegungen des vorigen Kapitels über die Definition guter Weine einbeziehen, ist dies nachvollziehbar.

Die Frage lässt sich auch so spezifizieren: Kann ich vom Preis eines Weines etwas über dessen Qualität erfahren? Ja und nein: Es wird Untergrenzen geben, die keinen seriösen Produktionsprozess vermuten lassen. Ausnahmen hiervon deuten auf einen ruinösen Preiskampf im Verkauf zulasten des Winzers und der Arbeitskraft von Erntehelfern hin. Nach meinen Erfahrungen kostet eine Glasflasche mit Korken und Etikett ca. 0,75 €, dann muss ja noch abgefüllt und verpackt werden, Erntehelfer, Düngemittel, Werbung, Produktionsstätten, Steuern kosten ein Übriges, sodass ich die gesamten Produktionskosten mal mit mindestens 3,50 € veranschlagen würde. Ein 5 €-Wein ist demnach kein großer Gewinn für den Erzeuger, der zum Teil wahrscheinlich dann durch EU-Subventionen kompensiert wird. Es gibt Hochrechnungen anderer Autoren, die für anspruchsvolle Weine von einem Selbstkostenpreis von ca. 15 € ausgehen.

Darüber hinaus wird ein sorgfältiger Ausbau des Weines je nach Qualität auch noch kostenintensiver sein: Die Beschäftigung eines Önologen, die Auswahl qualitativ hochwertiger Holzfässer, die Umstellung auf biologische Anbauweise usw. sind weitere Faktoren, die zur Preissteigerung beitragen. All diese Überlegungen lassen mich zu dem Schluss kommen: Ein nach den Regeln der Kunst, d. h. unter Berücksichtigung nicht nur sorgfältiger, sondern auch gediegener Ausbaumethoden produzierter Wein lässt eine vertretbare Obergrenze von ca. 35 € erkennen. Für diesen Preis kann man einen interessanten und individuell bemerkenswerten Wein herstellen. Natürlich kann man auch für 7 oder 10 € hervorragende, ansprechende Weine finden.

Weinproben zeigen aber häufig, dass solche Weine uniform und gefällig, aber austauschbar sind. Sie sind von guter Qualität, entsprechen weitestgehend einem gepflegten Publikumsgeschmack. Sie sind Wein, wie er sein sollte, aber häufig nicht, wie er sein könnte. Aber es gibt – der Wein ist ein höchst lebendiger Organismus – auch Ausnahmen.

Ist dann nun alles, was über 35 € kostet, überzogen und nur den großen Namen geschuldet? Nicht unbedingt. Auf der Suche nach gehobenen Käuferschichten haben einige Weingüter versucht, ihre Weine noch interessanter auszubauen. Das betrifft zum einen die aufwändige Selektion der Trauben, z. B. beim Château d’Yquem. Ferner wurden u. a. Weinbau-Spezialisten angeheuert, die individuelle und raffinierte Weine kreierten und sich dafür natürlich auch gut bezahlen ließen. Als Urahn dieser Tradition kann der »Weinbau-Guru« Giacomo Tachis gelten, der vor über 50 Jahren für das Weingut Antinori den Sassicaia schuf – zu einer Zeit, als der andere Kultwein der Toscana, der Brunello di Montalcino, zu einem edlen Geheimtipp der aufstrebenden Toscana-Fraktion wurde (und eine Menge durchschnittlichen Wein gleichen Namens nach sich zog). Die Erfolgsgeschichte solcher Weine war legendär, solange die Individualität und nahezu künstlerisch gestaltete Eigenart aufrechterhalten werden konnte.

Bei all den Preissteigerungen: Die Chance, einen außergewöhnlichen Wein für 20–35 € zu erwerben, ist groß. In diesem Preissegment können Spitzenwinzer mit der nötigen Ausstattung bemerkenswerte Weine herstellen. Und das sind nicht nur die großen Namen. Es gibt unzählige vin de garage – von kleinen Weingütern und Tüftlern hergestellte Garagenweine – die großartig sind und den Kreativ-Nimbus der Napa-Valley-Garagen fortsetzen. Auf der anderen Seite gibt es noch die großen Namen, die dann aber auch mitbezahlt werden.

Tante Klara würde sagen: »Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.« Eine gediegene Ausbildung kostet etwas, aber sie zahlt sich auch aus. Tante Klara war einem guten Tropfen gegenüber nicht abgeneigt. Gegen Ende ihres Lebens wollte sie aber gesünder leben und sprach gut und gerne dem Melissengeist zu. Die Erfahrung und die gesundheitlichen Versprechungen der Klosterfrauen begleiteten sie bis zum Schluss.

Wie sieht es nun bei den Coachs aus? Auch hier dürfte kein Meister vom Himmel gefallen sein, aber auch hier gibt es neben den Garagen-Coachs noch diejenigen, die einen gesteigerten Werbeaufwand und ein gediegenes Ambiente in ihre Gehaltsvorstellungen einpreisen und ihren Status als Gurus versilbern möchten.

Sprechen wir also von den Coachs, die eine gediegene Ausbildung und eine professionelle Anbindung an qualitätssichernde Berufsverbände haben. Wie lassen sich hier die Scheibletten von den würzigen Comtés und Tome de Pyrenées abgrenzen?

Noch haben die Anzahl der Coachs nicht die Anzahl der Weingüter und die unterschiedlichen Coachingprofile nicht die Anzahl französischer Käsesorten erreicht, aber wenn die Ausbildungsangebote in gleichem Maße wachsen, wird sich das Verhältnis bald umdrehen. Einige befürchten sogar, dass bei dem gegenwärtigen exponentiellen Anwachsen des Marktes in einigen Jahren mehr Coachs als Einwohner vorzufinden sind. (Wein ist demgegenüber eine schneller verderbliche Ware, auch wenn die häufig zitierten Weinseen hier einiges befürchten lassen.)

Auch auf dem Coaching-Markt sind die Preisvorstellungen sehr unterschiedlich. Kolportiert wurden im Jahre 2015 Tageshonorare von durchschnittlich 1.200 €, bei einer Spanne von 180 € bis 15.000 € (deHaan 2015). In einer kürzlich durchgeführten Untersuchung, bei der geschulte, berufserfahrene Testkäufer im Rhein-Main-Kreis bei 794 Coachs anonym nach dem Preis für eine private Coachingstunde nachfragten (Maurer 2020), ergaben sich Preisspannen von 45 € bis 446 €. 57,4 % der Coachs verlangten Honorare zwischen 51 € und 150 € für 1 Stunde, lediglich 2,3 % ließen sich die Sitzung mit mehr als 250 € vergüten. Die Preissteigerung in den letzten 4 Jahren lag bei 18,9%, d.h. einem jährlichen Zuwachs von 4,7%. Alle befragten Coachs gehörten überregionalen Coachingverbänden an, 88,4% davon den Verbänden, die dem qualitätsorientierten Round Table der Coachingverbände (RTC) angeschlossen waren.

Nun ist es schwierig, die Aus- und Weiterbildungskosten der Coachs in ein vergleichbares Verhältnis zu setzen, da diese bei den ca. 300 Weiterbildungseinrichtungen in unserem Sprachraum zwischen ca. 300 € und 17.000 € liegen und demgemäß die fachlichen Voraussetzungen und Anforderungen sehr unterschiedlich sind.

Rechnen wir aber einmal die Ausbildungs- und Nebenkosten, ähnlich wie bei unserer Wein(mädchen)rechnung, mit ein, dürfte das in der Untersuchung festgestellte durchschnittliche Honorar von ca. 130 € inkl. MwSt. angemessen sein. Das wäre – analog zum Wein zu 35 € – etwa das anzupeilende Coachinghonorar ohne Kreativ- und Guru-Zulage.

Aber wie in der Weinbranche ist der geforderte Preis auch hier von anderen Bedingungen abhängig. Auch hier sind Angebot und Nachfrage, das vermutete Renommée sowie weitere Faktoren von Bedeutung.

Da ist zum einen die Feldkompetenz: Je nach Fragestellung sind im Coaching – eher als in allgemeinen prozessorientierten Beratungen – die jeweiligen Vorkenntnisse gefragt. Im Sportcoaching wird wie beim Training eine erfolgreiche Karriere des Coachs in der jeweiligen Sportart die finanziellen Vorstellungen beeinflussen. Im Persönlichkeitscoaching dürfte auf die Feldkompetenz in psychologischen oder psychotherapeutischen Feldern geachtet werden. Wenn ein Frisurencoach Prominente berät, nehmen wir als Beispiel die Bundeskanzlerin, dann erhöht sich dadurch die finanzielle Attraktivität des Urhebers, vor allem, wenn – wie in unserem Beispiel – deutlich sichtbar ist, wie erfolgreich das Coaching war. Der Erfolg mag auch noch auf die direkten Schüler des Meisters abstrahlen. Und die Strahlkraft der Meisterschüler finden wir auch in den »Master«-Auszeichnungen in aufbauenden Weiterbildungen wieder. Oftmals ist es wie bei den alten Weingütern: Wenn einmal der große Name etabliert ist, dann werden auch einige Rückschläge und Fehlentwicklungen nur langsam die Nachfrage zurechtrücken. Auch bei einigen Guru-Coachs hat sich gezeigt, dass die von ihnen behaupteten Qualifikationen eher den eigenen Wunschvorstellungen als den tatsächlich erbrachten Vorleistungen entsprachen. Geschadet hat es ihnen nicht, weil sie u. a. von einem System gestützt wurden, das der Maxime huldigt: Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg. Und das ist einer der wenigen Fälle, wo Tante Klaras Sprüche mal nicht zutrafen. Bei gegebenem Anlass pflegte sie zu sagen: »Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, aber schon mancher vom Gerüst.«

Fassen wir zusammen. Ein herausragender Wein kann für ca. 35 € produziert werden, von einer Coaching-Stunde zu ca. 130 € kann man eine qualifizierte Beratung erwarten.

Höhere Preisvorstellungen können in beiden Bereichen zu außergewöhnlichen Erfahrungen führen, und vielleicht sollte man sich mal auf das Abenteuer einlassen, sich im oberen Preissegment zu bewegen. Meine bisherigen Erfahrungen waren eher ernüchternd. Einmal hätte es beinahe geklappt, als wir uns mit Freunden zum Jahrtausendwechsel eine Flasche Château d’Yquem Jahrgang 1970 gönnen wollten. Alle schwärmten von dem Geschmackserlebnis. Nur ich schmeckte wegen einer starken Erkältung so gut wie gar nichts und konnte nur gläubig zuhören

 

Wie alt darf ein Wein sein? Und wie alt ein Coach?

Sollte es sich bewahrheiten, dass in unserer Gesellschaft die leistungsoptimierte Jugend den Erfahrungen und der Abgeklärtheit des Alters vorgezogen wird, dann ist die Entwicklung im Weinsektor deren Spiegelbild. Weine werden eher für den frühen Verbrauch produziert. Den Vorstellungen alter Weinhasen, sich von edelfirnen und ausgereiften Weinen begeistern zu lassen, begegnet man zunehmend mit Unverständnis. Und die tagtäglichen Erfahrungen bestätigen diese Erkenntnis. Einige Weinliebhaber haben sich vor Jahren einen Weinkeller angelegt, Geburtsjahrgänge und Weine für bestimmte Gelegenheiten zurückgelegt und müssen nun feststellen, dass diese Weine leider ihre besten Jahre im Keller zugebracht haben. Die ursprünglich violett-rote Farbe präsentiert sich in einem undurchsichtigen Braun, der Wein schmeckt schal, nach Frucht oder Säure sucht man vergebens.

In der Tat gibt es Weine, die für einen alsbaldigen Verbrauch produziert werden, und Weine, die auch heute noch tunlichst gelagert werden sollten. Die Lagerfähigkeit hängt von verschiedenen Faktoren ab, z.B. von den Rebsorten oder der Art des Ausbaus. Wein ist ein lebender Organismus, und auch in der Flasche verändert sich die Qualität in die eine oder andere Richtung. Säuren und Tannine werden abgebaut, einige Rebsorten (z. B. Cabernet Sauvignon und Mourvedre) scheinen ihr volles Potenzial erst in der Flasche zu entfalten. Das einzigartige Zusammenspiel von Säuren, Alkohol, Luftzufuhr, Schwefel und unterschiedlichen anderen natürlichen Inhaltsstoffen lässt Weine reifen und führt bisweilen erst nach Jahren zu einem optimalen Genuss. Weine werden dadurch komplexer, bauen Ecken und Kanten ab und entwickeln Aromen, die zu grandiosen Geschmackserlebnissen führen können. Weinkenner behaupten, dass ganz große Weine ihr Potenzial und ihre Komplexität auch schon in der Jugend erkennen lassen.

Analogien zur menschlichen Entwicklung legen aber nahe, dass je nach »Reife« sehr unterschiedliche Aromen im Vordergrund stehen können, die primären (fruchtbetonten) Aromen der Jugend, die sekundären (würzigen) des mittleren Lebensalters und die tertiären (balsamischen) Aromen des Vorruhestands mit ihren Anklängen an Waldboden, Unterholz und Leder. Und nicht bei allen läuft die Entwicklung – wie im richtigen Leben – immer glatt und geradlinig. Einige pubertieren früher oder später, beginnen sich wieder zu verschließen, werden sperrig und wenig genießbar, und man tut gut daran, sich mit ihnen auf später zu vertrösten. Aber all das sind Weine, die eine Veranlagung zur Komplexitätsentwicklung mitbringen, und auch hier gilt Tante Klaras Maxime: »Man ist immer so alt, wie man sich fühlt.«

Ich habe es auch damals schon so verstanden, dass es weniger auf das chronologische Alter als vielmehr auf das biologische und psychologische Alter ankommt. Sicher gehört zum biologischen Alter auch die genetische Grundausstattung in ihrem Wechselspiel mit Umweltbedingungen. Auch bei den Weinen gibt es Exemplare, die ihr Potenzial in der Jugend, und andere, die es erst im reifen Alter entfalten. Und es gibt ganz große Beispiele, gewissermaßen die Goethes und Beethovens unter den Weinen, die auf jeder Altersstufe eine gewaltige Komplexität erkennen lassen und die man, je nach Vorlieben und Stimmung, auf unterschiedlichen Stufen genießen kann.

Dennoch gilt: Angebot und Nachfrage im Spiegel unserer gesellschaftlichen Vorstellungen haben dazu geführt, dass gegenwärtig mehr Weine produziert werden, die schon in der Jugend ihr volles Potenzial entfalten und denen man im Alter nichts sehnlicher wünscht, als dass sie baldmöglichst in den wohlverdienten vorgezogenen Ruhestand gehen.

Da viele Weine jedoch nach der Abfüllung in einen schockähnlichen Ruhezustand verfallen, empfiehlt es sich, die meisten zumindest ein paar Monate liegen zu lassen. Es ist wie bei einer zu flotten Geburt, bei der ein neuer Erdenbürger erst noch eine gewisse Zeit mit einer ausreichenden Sauerstoffsättigung zu kämpfen hat und ein Verbleib auf der Intensivstation zu erwägen ist.

Gibt es aber Kriterien, um beim Erwerb eines Weines dessen Lagerfähigkeit und Entwicklung im Keller vorherzusehen?

Ein burgundischer Winzer hat mir einmal seine Daumenregel verraten:

 ▸ Unter der Voraussetzung eines dunklen und genügend feuchten (ca. 60–70 %) Weinkellers, der erschütterungs- und geruchsfrei relativ konstante Temperaturen von 10–16° C bietet, empfiehlt sich folgendes Vorgehen:

 ▸ Man öffnet die gekaufte Flasche nach den Regeln der Kunst und probiert ca. 0,1 l.

 ▸ Dann verkorkt man die Flasche leicht und stellt sie in den wohltemperierten Keller.

 ▸ Am nächsten Tag verfährt man ebenso und prüft die Geschmacksveränderung gegenüber dem Vortag. So verfährt man auch an den Folgetagen, bis man den Eindruck hat, der Höhepunkt des Genusses sei erreicht und werde nun überschritten. Die Anzahl der Tage bis zu diesem Zeitpunkt soll nun der Anzahl der Jahre entsprechen, in denen der gelagerte Wein sich wie verkostet entwickelt.

Meine bisherigen Erfahrungen mit dieser Methode lassen mich annehmen, dass man so zumindest Hinweise darauf bekommt, ob ein Wein über einen überschaubaren Zeitraum hinweg Entwicklungspotenzial hat.

Die Frage, ob nun der junge oder der alte Wein der angemessenere ist, lässt sich also aufgrund der Komplexität der Bedingungen nicht einfach beantworten.

Lässt sich die Frage nach dem optimalen Alter eines Coachs nun leichter und eindeutiger beantworten? Wohl kaum. Auch hier haben wir eine gewisse Tradition und implizite Vorannahmen. Da Erfahrung wohl mit dem Alter korreliert, Feldkompetenzen erst mal erworben werden müssen und die erfolgreich Innovativen zumeist eine längere Odyssee bis zur Anerkennung hinter sich gebracht haben, gehen viele Ratsuchende davon aus, dass Kompetenz etwas mit Alter zu tun hat. Auch die Coachingverbände scheinen, zumindest implizit, dieser Meinung zu sein. Erstrebenswert ist die Ausbildung als »Senior-Coach«, die Anforderungen an eine solche Qualifikation sind zumeist ein Mehr an Praxiserfahrung und zusätzliche, auf die vorherigen Weiterbildungsgänge aufbauende Kriterien. Die bereits oben erwähnte jugendorientierte Leistungsgesellschaft goutiert zwar die jungen, dynamischen Shooting-Stars. Aber es ist wie bei den jungen enthusiastisch aufgebauten Fußballtrainern, die viel kreatives und motivationsförderndes Potenzial mitbringen, bei denen das mehr oder weniger sachkundige Umfeld jedoch mahnend darauf hinweist, doch erst mal die ersten Krisen nach anfänglich euphorischen Erfolgen abzuwarten.

Und doch ist es wie beim Wein: Junge wie alte haben ihre spezifischen »Aromen«, und die Konsumenten haben bestimmte Erwartungen und Anlässe, die nicht allgemein mit der komplexen Strukturiertheit des Gegenübers, die sich ja erst im Alter zu voller Blüte entfaltet, bedient werden können.

Wir hatten bereits gehört, dass bei außergewöhnlichen Weinen diese Komplexität ja auch schon in sehr jungen Jahren aufscheinen kann. Und komplexe Strukturiertheit kann auch zum Selbstzweck werden, wenn etwa der Senior-Coach vor lauter selbstgefälliger Komplexität die ebenso komplexen Bedürfnisse seines Gegenübers gar nicht angemessen wahrnehmen kann.

Andererseits gibt es auch junge Shooting-Stars – ich denke da an einige sogenannte Motivationscoachs, die ihren Mangel an fundiertem Wissen lautstark mit Binsenweisheiten und Bullshit aus dem Esoterikkästchen der Psychologie und Neurowissenschaften kaschieren. Wenn ein Weinkenner einen Wein als laut oder zu laut bezeichnet, dann meint er damit häufig, dass statt Komplexität etwas im Vordergrund steht, das auf den allerersten Blick Aufmerksamkeit erheischt, dann aber die Unausgewogenheit des Gesamtkonzepts sehr schnell deutlich werden lässt.

Auch hier also das Fazit wie beim Wein: Es gibt gute und sehr gute junge wie alte Coachs. Aber neben dem Methodenrepertoire tragen ja nun auch noch andere Variablen zur Veränderungsvarianz bei. Je nach Fragestellung und persönlichen Vorlieben ist eine gelingende Beziehungsgestaltung von sehr vielen Bedingungen abhängig. Erlebte Authentizität und wahrgenommene Empathie, das subjektive Gefühl, dass die wahrgenommene Beziehung tragfähig sein kann, wird nur mittelbar vom Alter beeinflusst.

Vor Jahren machte ich eine Weiterbildung bei Frank Farelly, dem Begründer der provokativen Therapie. Ich war neugierig auf die Workshops, da mir humorvolle Provokationen eine Bereicherung meiner Interventionen versprachen. Zunächst war ich jedoch enttäuscht und fand keinen Bezug zu den Beispielen in den Therapiegesprächen. Bisweilen hatte ich den Eindruck, dass die in die Therapien eingestreuten Provokationen platteste und derbe Witzchen waren, die vielleicht Klienten aus dem mittleren Westen goutierten. Es war nicht mein Humor, und ich war trotz allem überrascht, wie diese Direktheiten bei den »mitteleuropäischen« Klienten zu Veränderungsprozessen führten. Kurz: Ich habe mich nach einiger Zeit aus dieser Art Provokation ausgeklinkt, aber es war auch etwas für mich dabei. Auf meine Frage nach der Qualifikation eines erfolgreichen Therapeuten sagte Farelly (pers. Mitteilung):

» Als ich meine grauen Haare bekam, wusste ich, dass ich die zwei wesentlichen Eigenschaften hatte, die einen guten Therapeuten auszeichnen: Die grauen Haare für das würdevolle und die Hämorrhoiden für das sorgenvolle Aussehen.«

Nun muss eine langjährige sitzende Lebensweise nichts mit Kompetenzsteigerung zu tun haben, Psychotherapie ist ja auch nicht Coaching. Dennoch geistert der etwas unscharfe Begriff der Lebenserfahrung durch die Professionalisierungsdebatten der Coaching-Verbände. Es gibt sogar einen Fachbegriff dafür: die Seniorität (vgl. Migge 2011).

Aber nicht jeder sucht – wie oftmals die Führungselite selbsternannter Weinkenner – die Edelfirne der Großen Gewächse.