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Designerwein und Selbstoptimierung

In den USA hat sich die Unterscheidung zwischen Business- und Life-Coaching eingebürgert. Es gibt einige Anzeichen dafür, dass die Anliegen des Business, verbunden mit der Trainermentalität des »höher-weiter-schneller« einen Trend zur Selbstoptimierung eingeläutet haben, der – wie die Fitnesswelle – allen Beschäftigten offen oder unausgesprochen nahelegt, Leistungssteigerung in allen nur denkbaren Bereichen zu praktizieren. Einige Autoren sprechen schon von einer neuen Ersatzreligion – mit den Coachs und Fitnesstrainern als neuen (Hohe-)Priestern (z. B. Linke 2018). Und in der Tat folgen sehr viele mit den leuchtenden Augen der Bekehrten einer versprochenen Win-win-Situation, die dem Individuum und der Firma gleichermaßen zukommen soll. Die Grundbedürfnisse des Menschen nach Kompetenz und Autonomie (Selbstoptimierung) sowie nach sozialer Zugehörigkeit (im Betrieb) scheinen auf ideale Weise getriggert zu werden. Coachs berichten bereits, dass Kursangebote zu Stressabbau, Achtsamkeitsintensivierung und Wellness von den Mitarbeitern nur dann angenommen werden, wenn sie im Gewande der Selbstoptimierung auf der nach oben offenen Coachingskala daherkommen.

Und wie die Merkmale des Business-Coaching (ausgehend von US-amerikanischen Tendenzen) nach und nach in das Life-Coaching übernommen werden, hat die Nachfrage nach Selbstoptimierung nun den gesamten Coachingbereich erreicht. Gesundheitscoaching entfernt sich von einer gesunden Lebensführung wie die Erfüllung im Beruf von der Selbstausbeutung. Lern- und Elterncoaching läuft Gefahr, die unendliche Selbstoptimierung so früh wie möglich zu implantieren. Tante Klaras mit reichlich Entbehrungsgeschichten begleitete Aussage: »Ihr sollt es später einmal besser haben« verändert sich in die implizite Grundannahme: »Es ist nie zu früh, aus unseren Kindern Spitzensportler mit Nobelpreishoffnungen zu machen.«

Nun hat Darwin ja nie behauptet, dass der allseitig Kompetenteste und Tüchtigste die besten Überlebenschancen hat. »Survival of the fittest« bedeutet bekanntermaßen, dass derjenige gute Zukunftschancen hat, der sich den sich ändernden Umweltbedingungen am ehesten anpassen (to fit) kann. Und hiermit ist nicht die wahnwitzige Anpassung an Modetrends gemeint. Und auch nicht das Sich-Versammeln in einer nivellierenden Mitte. Dies wird dankenswerterweise in den Präambeln und Menschenbildannahmen einiger Beratungs- und Coachingverbände reflektiert.

Die Deutsche Gesellschaft für Beratung (DGfB) beispielsweise betont auf ihrem Wege zur Qualitätsentwicklung die reflexive Funktion von Beratung, die nicht nur davon ausgeht, dass der Mensch ein rationales, reflektierendes Wesen ist, sondern dass eine angemessene Beratung auch immer Reflexion der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beinhalten sollte. Verhalten heißt immer, sich in ein Verhältnis setzen zu etwas, und diese Verhältnisse, zu denen auch der Coach und die expliziten und impliziten Auftraggeber gehören, sind naturgemäß Inhalte eines Beratungs- oder Coachinggesprächs.

Und es lohnt sich für den Coach auch, bereits im Vorfeld der Weiterbildung und in der professionellen Supervision die gegenwärtig bevorzugten Konzepte der lösungs-, kompetenz- und ressourcenorientierten Grundannahmen und Methoden zu reflektieren (Illouz 2019). Analytische, behavioristische, nondirektive, humanistische, systemische u. a. Therapiemodelle haben immer auch die jeweiligen gesellschaftlichen Produktionsbedingungen widergespiegelt und bis in pädagogische Konzepte ausgestrahlt. Man könnte vermuten, sie trafen auf eine entsprechend aufnahmebereite und aufgeklärte Gesellschaft. Nun könnte man aber auch darüber spekulieren, ob die Modelle nicht die psychologische Begleitung und Befriedung gesellschaftlicher Konflikte widerspiegelten. Ob Therapeuten wie Coachs nicht aufkommende gesellschaftlich bedingte Konflikte stromlinienförmig handhabbarer machen sollten.

Mainstreaming ist überschaubarer, schränkt aber die Vielfalt menschlicher Darstellungsmöglichkeiten und Ausdrucksformen ungemein ein. Führen die Beihilfen zur Selbstoptimierung mit ihren impliziten Annahmen von vorhersehbaren, optimal designten Persönlichkeiten nicht zu einer Verarmung sozialen Zusammenlebens und unbefriedigter Neugier auf die Vielfalt menschlicher und damit kulturell bedeutsamer Ausdrucksformen?

Wobei wir mit einem conferencemäßigen Übergang schon bei den Designerweinen wären.

Der Ausbau des Weins im Keller ist zumeist die Begleitung eines prinzipiell unvorhersagbaren Ergebnisses, ein nur mittelbar zu beeinflussender Prozess, um die Entwicklung eines lebenden Organismus in einigermaßen geregelten Bahnen zu halten.

Wie schon bei der Erziehung der Reben im Weinberg hat auch der Weinbauer in Analogie zum Pädagogen eine didaktische Struktur, die er – wie ein professioneller Lehrer – praxisorientiert gelernt hat und mit seinem persönlichen Stil und seinen Wahrnehmungen über die bisherige Entwicklung in Einklang bringen will. Wohl dem, der die Vielfalt seiner Zöglinge im Auge behält, er erspart sich viele Enttäuschungen – schon gar, wenn er zunehmend häufiger feststellt, dass seine Schüler im Wesentlichen doch nur das tun, was sie wollen.

Auch hier gilt: Der Wein ist – im Sinne systemischer Denkmodelle (z. B. Maturana und Varela) – ein autopoietisches Wesen, das Informationen von außen zwar aufnimmt, dann aber eigenständig entscheidet, was ihm angemessen erscheint.

Der Winzer sollte also Angebote machen – und das schon ab Beginn der Pflanzung – und den Wein so in seiner Entwicklung begleiten. Der Versuch, ihm über ein strenges Korsett eine bestimmte Entwicklung instruktiv zu verordnen, muss scheitern. Kein zufriedener Pädagoge möchte die Erfahrung mit den Schülern missen, die sich im Rahmen günstiger Lernbedingungen zu individuellen Persönlichkeiten – mit Ecken und Kanten – entwickeln. Und es wäre gut für die Gesellschaft, wenn sie diese Ergebnisse gegenüber einer uniformen Zurichtung auf Numerus-clausus-Kriterien angemessen honorieren würde.

Ohne die Analogie zu pädagogischen Bemühungen allzu sehr strapazieren zu wollen: Auch im Weinbau gibt es natürlich zusätzliche Hilfen bis hin zu »sonderpädagogischen« Maßnahmen, wenn Entwicklungsprozesse aus dem Ruder laufen oder die individuellen Entwicklungspotenziale und Vorschädigungen besondere Maßnahmen nahelegen.

Stets ist der Winzer Lernbegleiter, der Hilfen anbietet, wenn Entwicklungsprozesse nachhaltig gestört erscheinen. Aber auch hier gibt es Kellermeister, die sofort mit massiven Maßnahmen reagieren, um die allgemeinen Geschmackserwartungen zu bedienen, und andere, die Verhaltensstörungen als herausforderndes Verhalten oder als eigenständige Lösungsversuche zugrunde liegender Schwierigkeiten deuten, entsprechend moderat reagieren und neugierig auf den weiteren gemeinsamen Entwicklungsprozess sind.

Zu den besonderen Maßnahmen im Weinbau gehören etwa Kryoextraktion, Umkehr-Osmosen, Crossflow-Filtration oder Vakuumverdampfung, man kann die riskanten Eigenhefen durch Reinzuchthefen ersetzen, man kann auf die traditionelle Maischegärung verzichten. Kein Lehrer wird das Risiko eingehen, vor versammelter Elternschaft einzugestehen, dass er einen ganzen Jahrgang unzureichend auf das Leben vorbereitet hat. Kein Winzer kann es sich erlauben, einen ganzen Jahrgang aus dem Verkehr zu ziehen. Und doch merkt man: Ein solchermaßen geretteter Wein ist trinkbar – manchmal sogar ohne Fehl und Tadel –, wird von vielen aber als langweilig oder ausdrucksarm zurückgewiesen.

Kommen wir noch einmal auf die Optimierungsidee des amerikanischen Business-Coaching zu sprechen. Hier bewegt man sich ja nicht im »unteren« sonderpädagogischen Bereich, hier sollen ja nicht Lerndefizite ausgeglichen werden: Angestrebt wird vielmehr »Hochbegabung« in möglichst vielen Kompetenzbereichen und für möglichst viele. Auch hierzu muss man zunächst einmal eine Analyse der Kompetenzen machen, die dem Anforderungsprofil entsprechen, und dann werden diese verstärkt ausgebaut.

Was Anklänge an die Schöne neue Welt hat, findet sich wieder in der Tendenz, Designerweine zu produzieren. Ausgehend von einer Analyse des zahlungskräftigen Publikumsgeschmacks werden Weine in die einzelnen Bestandteile zerlegt, physikalisch und biochemisch bearbeitet und dann wieder optimiert zusammengesetzt. Es ist das Schicksal von Barbiepuppen und Erdbeerjoghurt: So sehen die perfektionierten Produkte aus, und verzweifelte Eltern stellen fest, dass weder andere handgemachte Spielzeuge noch richtige Erdbeeren im Joghurt die Kids von ihren Präferenzen abbringen.

Unter Designerweinen verstehen wir hier also nicht die begradigten, mit sonderpädagogischen Maßnahmen, evtl. sogar mit Holzspänen statt mit Fassreife ausgebauten Weine. Es sind besonders gestylte Weine, die sich vor allem deswegen als raffiniert bezeichnen lassen, weil sie wie das Rohöl in einer Raffinerie in ihre Bestandteile zerdampft und zerschleudert werden. Der komplexe Ausbauprozess in der Wechselwirkung aus Estern, Terpenen und Pyrazinen wird in die einzelnen Substanzen zerlegt und dann in einer optimalen Abstimmung wieder zusammengefügt. Hinzu kommt nur so viel Alkohol (bis zu 14 %), dass der Wein steuerlich günstig bleibt, nicht zu sehr nach Sprit schmeckt und mit der ebenfalls dosiert zugesetzten Säure optimal harmoniert. Die dazu benötigten Geräte, die »Schleuderkegel-Kolonnen« kosten ein paar Millionen, sie sollen einem Gerücht zufolge den Uran-Isotopen-Schleudern entlehnt worden sein, die man für den Bau von Wasserstoffbomben konzipiert hatte.

Die Eigenschaften eines Weines, die dem gehobenen Weingeschmack entgegenkommen, werden solchermaßen optimiert – besser geht’s nicht. Aber auch hier arbeitet man daran, auch diese Optimierung noch weiter zu optimieren.

 

Ich habe Freunde, auf deren ausgewogenes Weinurteil und Neugier eigentlich Verlass ist, und deren Persönlichkeitsstruktur ich nicht mit der einiger fitnessbewusster Halbmarathonläufer gleichsetze, die von diesen Weinen schwärmen.

Was noch nachzutragen wäre: In der sonderpädagogischen Fachliteratur gibt es den Ausdruck der »erlernten Inkompetenz«: Reaktionen der Umwelt auf eine frühe Diagnose der »Behinderung« – genauer müsste es heißen: einer vermuteten Schädigung – führen dazu, dass die Eigenständigkeit der so bezeichneten Kinder nicht angemessen, weil immer durch eine vermeintliche Schon- und Unterstützungseinstellung beeinträchtigt, gefördert wird und sich so erst zu einer Behinderung auswächst (vgl. Holtz 1994). Hier werden also erst durch das Wirken der relevanten Bezugspersonen Inkompetenzen und Defizite generiert.

Darüber hinaus werden im Mainstream definierte Inkompetenzen auch als solche wahrgenommen, obwohl sie für die Bewältigung von Schwierigkeiten und die Bedürfnisbefriedigung von Individuen häufig die angemessene Reaktion darstellen, um eine befriedigende Entwicklung zu gewährleisten. Watzlawick und andere haben in der Tradition Milton H. Erickson darauf hingewiesen, dass als Symptome oder Probleme bezeichnete Verhaltensweisen häufig individuelle Problemlösungsversuche kennzeichnen, die es wertzuschätzen und zu unterstützen gilt. Beim Coaching werden diese Ideen bereits berücksichtigt, »Probleme« werden als Hinweise auf individuelle Lösungsversuche gesehen, die vielleicht noch nicht erfolgreich sind, die man aber als Ressourcen unterstützen und zielgerichteter gemeinsam ausrichten kann. Außerdem kann es für das Selbstkonzept und die Selbstwerterhöhung von Individuen äußerst hilfreich sein, dass man von außen definierte Inkompetenzen als kompetente Strategien ansieht, die eigene Entwicklung glaubwürdig und viabel voranzubringen.

Mehr Mut zur Inkompetenz! Wer will mir einreden, dass ich bestimmte Kompetenzen unbedingt brauche? Vielleicht sind Übergewicht und die zu dessen Erhalt bevorzugten Nichtaktivitäten doch gesünder, als uns die Verkäufer von Fitnessuhren nahelegen wollen. Vielleicht sind schweijksche Demonstrationen kognitiver und sozialer Inkompetenz doch überlebenswichtiger als eine bedingungslose Kompetenzorientierung (schon Tante Klara wusste aus Erzählungen ihres Mannes aus dem Kriege 70/71 zu berichten, in denen der Spieß mit der Frage »Wer kann Klavier spielen?« Freiwillige für Sonderkommandos aussuchte).

Fritz Simon hat vor einigen Jahren die Vorzüge eigener Inkompetenzorientierung aufgezeigt (Simons systemische Kehrwoche), Gunther Schmidt hat plausible Argumente dafür, Burn-out – wie auch andere Symptome und Probleme im Sinne des Ansatzes von Milton H. Erickson – als kompetente Entwicklung des Organismus anzusehen (Schmidt 2011), die es zu unterstützen gilt.

Wie weit sollte also der Eingriff in die Entwicklung des Organismus Wein gehen?

Wollen wir hier die Schöne neue Welt oder sind uns die Anklänge an Fehlentwicklungen und ungewöhnliche Untertöne eine willkommene Gelegenheit, die Persönlichkeit des Weins und des Winzers gebührend zu feiern?

Natürlich müssen wir uns nicht alles bieten lassen.

Wir werden darauf zurückkommen, wenn wir weiter unten über Weinfehler nachdenken. Und schon im nachfolgenden Kapitel werden wir den Umgang mit Paradoxien im Gesundheitssystem am Beispiel des »French paradox« unter ähnlicher Perspektive diskutieren.

1 Deutsche Gesellschaft für Beratung e. V.

2 Deutscher Bundesverband Coaching e. V.

3 Institut für lösungsorientierte Beratung und Supervision.

4 Europäischer Qualitätsrahmen für lebenslanges Lernen.

5 Deutscher Qualifikationsrahmen.

6 Roundtable Coaching e. V.

Wein, Coaching und Gesundheit
The French paradox

Trotz all der kalenderspruchaffinen Lebensweisheiten ist es meiner Tante Klara doch nicht gelungen, ein sehr hohes Alter zu erreichen. Vielleicht hing es mit ihrem unerschütterlichen Glauben an die Wirksamkeit von Melissengeist zusammen, der »im Prinzip« schon zutreffend, von der Dosierung her, zumindest in Klaras fortgeschrittenem Alter, aber wohl kontraindiziert war. Es war ja nicht nur die unnachahmliche Mischung aus (Heil-)Kräutern, sondern auch der unvergleichlich hohe Anteil an Alkohol, der kurzfristige Linderung von manchen Beschwerden versprach, mittelfristig aber Nebenwirkungen zeitigte, die man besser mit Arzt oder Apotheker abgesprochen hätte.

Auch in der Coaching- und Weinbranche gibt es so manche Gesundheitstipps, die »im Prinzip« wohl zutreffend, in der oft marktschreierisch vorgetragenen Verallgemeinerung bestenfalls Bullshit (Frankfurt 2014; Wirl u. Ebert 2017), schlimmstenfalls aber Aufruf zur Körperverletzung sind. Und damit meine ich nicht nur einige misslungene Aufstellungs- und NLP-Angebote, die zumeist von wenig professionellen Adepten durchgeführt werden.

Ähnlich verhält es sich mit dem sogenannten French paradox:

Ende der Siebziger-Jahre entdeckten Forscher in Frankreich (!), dass die Bewohner südlicher Regionen, obwohl sie sich fettbetont und kalorienreich ernährten und intensive Zigarettenraucher waren, weniger Herzinfarkte erlitten als die Bewohner anderer Regionen und Länder. Dies wurde vor allem auf ein Merkmal französischer Lebensweise zurückgeführt: das regelmäßige, jedes Essen begleitende Gläschen Rotwein.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Rotweinvermarktung in Frankreich zum damaligen Zeitpunkt in einer tiefen Krise steckte – allein schon deswegen nicht, weil die Weinvermarktung in Frankreich nach Aussagen der Interessenverbände schon seit mindestens 100 Jahren in einer tiefen Krise steckt. Weinproduzenten freuten sich, Weinfreunde nahmen die Argumente gerne auf, und Wissenschaftler beantragten Fördermittel für weitergehende Studien. Theoretisch erklärbar war die gesunde Wirkung des Weines anhand seiner Inhaltsstoffe, vor allem der Polyphenole, und hier insbesondere solche aus der Schale der Trauben, die bei der Rotweinbereichung ja während der Gärung länger in der Maische verbleiben.

Wie andere pflanzliche Stoffe, man denke an Tante Klaras Melissengeist, sollte auch das beispielsweise identifizierte Resveratrol die Blutfettwerte verbessern, einer Arteriosklerose vorbeugen und somit das Infarktrisiko senken.

Auf dem Europäischen Kardiologenkongress 2008 wurden die Befunde von Forschungsergebnissen an mehr als 200.000 Teilnehmern präsentiert: Ein maßvoller Weinkonsum sollte das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen um ca. 30 % reduzieren.

Ich weiß nicht, ob die Forscher schon damals in ihren Veröffentlichungen angeben mussten, von wem sie Fördergelder und andere materielle Unterstützung bezogen. Auch ohne diesen Hinweis ist offenkundig, dass es selbst in der strengen Wissenschaft keine »unbefleckte Erkenntnis« geben kann. Die Auswahl der vom Forscher als relevant erachteten Variablen und die Vorannahmen möglicher Wechselwirkungen bestimmen ja schon das Forschungsdesign. Und so mehrten sich bald auch die Stimmen, die das Wohlergehen der mediterranen Völker auf andere Variablen zurückführten: die spezifischen genetischen Besonderheiten, die sonstigen Ernährungsgewohnheiten, die durch das mediterrane Klima geförderten häufigeren sozialen Kontakte an frischer Luft usw.

Ein Befund ließ sich jedoch nicht relativieren: Alkohol ab einer gewissen Menge schadet der Gesundheit. Er beeinflusst das Immunsystem, schädigt die Verdauungsorgane und erhöht das Krebsrisiko für Mundhöhle, Rachen, Kehlkopf und Speiseröhre. Darüber hinaus ist er eine Kalorienbombe, die u. a. den Fettabbau beeinträchtigt. Eine Flasche Wein entspricht ungefähr dem Kaloriengehalt einer Tafel Schokolade. (Apropos Schokolade: Gibt es nicht auch Untersuchungen über die heilsame Wirkung stark kakaohaltiger Schokolade?)

Und so nimmt es auch nicht Wunder, dass nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 6.9.2012 Pfälzer Winzer ihren Wein nicht mehr als »bekömmlich« anpreisen dürfen. Und ehe nun hämische Gedanken aufkommen: Auch Winzer anderer Regionen dürfen so nicht werben. Kein Getränk mit mehr als 1,2 Volumenprozent Alkohol darf derartige »gesundheitsbezogene Aussagen« enthalten - also eigentlich auch nicht Melissengeist.

Aber was heißt »bekömmlich«? Empfohlen wird ein Trinken in Maßen. Wenn es denn stimmen sollte, dass Weintrinker gesellige Menschen sind, welche die vielfältigen Genusserlebnisse in Verbindung mit abwechslungsreichen Speisen genießen und ihre positive Grundeinstellung nicht vornehmlich zu Zeiten des Vollrauschs pflegen, dann stärken sie auch auf diesem Wege ihr Immunsystem und reduzieren, bei moderatem Genuss, ihre Anfälligkeit gegenüber alkoholtypischen Erkrankungen. Ein »Prosit« oder »Wohl bekomms« in angenehmer sozialer Atmosphäre könnte auch vom biopsychosozialen System positiv wahrgenommen werden.

»Es gibt mehr alte Trinker als alte Ärzte«, pflegte Tante Klara zu sagen. Den zumeist in ziemlicher Einsamkeit konsumierten Melissengeist hat sie wohl nicht als diesbezügliches Getränk wahrgenommen.

Und noch eins: Ich habe den Eindruck, dass unter den Schöpfern tröstlicher Kalendersprüche und auch gehaltvollerer Aphorismen deutlich mehr Weintrinker sind als etwa bei den Entwicklern und Übersetzern von Gebrauchsanweisungen. Auch wenn Tante Klara mein Favorit ist: Die meisten zitierwürdigen Sprüche kenne ich von begnadeten Trinkern – Shakespeare und Goethe, z.B. der wohl bekannteste Spruch aus seinem Götz von Berlichingen: »Der Wein erfreut des Menschen Herz.«

Nun ist es nicht so, dass die Coachingbranche von Paradoxien verschont bliebe. Vielleicht kann sie besser damit umgehen, zumindest die systemisch orientierten Fachleute. Fritz Simon hatte in der Tradition von Luhmann auf den angemessenen Umgang mit paradoxen Situationen vorbereitet. Schon vorher waren einige Standesvertreter regelrecht vernarrt in die Möglichkeiten paradoxer Interventionen. Und dennoch kamen, gewissermaßen durch die Hintertreppe, einige Paradoxien in das nicht sonderlich theoriengestählte Denkgebäude, deren Ambiguität nicht sofort wahrgenommen wurde. Es waren u. a. das Hawaii-Paradoxon (Werner) sowie das Israelische Paradoxon (Antonovsky), dem sich bald das Angloamerikanische Paradoxon (Seligman) beigesellte.7

Sehr vereinfacht gesagt schien sich folgende Gesundheitsmaxime durchzusetzen: Es kann einem so dreckig gehen wie nur möglich, der Mensch verfügt »von Haus aus« über individuelle protektive »Eigenschaften«, die ihn dazu befähigen, trotz allem ein erfülltes und glückliches – und somit gesundes – Leben führen zu können. Um es mit dem Weinkonsum zu vergleichen: Auch die körperlichen und psychischen Gefahren eines intensivierten Alkoholkonsums sind vernachlässigbar im Vergleich zu den sozio-psychologischen und physiologischen Vorzügen von Geselligkeit und Phenolen unterschiedlicher Provenienz. Der protektive Anteil der letztgenannten Variablen überwiegt bei Weitem den möglichen Schaden – ja, sie können sogar kompensatorisch, gesundheitsförderlich wirken.

Im von mir so genannten Israelische Paradoxon postulierte Antonovsky aufgrund der Überlebensgeschichten von Holocaust-Opfern die überlebensförderlichen Variablen des Kohärenzgefühls, d. h. der subjektiven Wahrnehmung von Traumatisierten, ihr Leben als verstehbar, bewältigbar und bedeutsam zu beurteilen. Diese Befunde bildeten die Grundlage der sog. Salutogenese, eines Theoriegebäudes, das nun nicht die traumatisierenden Prozesse und die damit verbundenen Schädigungen – wie in der klassischen Pathogenese –, sondern die gesundheitsförderlichen Bedingungen in den Fokus der Interventionen stellte. Es war weniger ein Krankheits- als vielmehr ein Gesundheitsmodell. Die Frage war: Was hält Menschen trotz widriger vergangener oder gegenwärtiger Bedingungen gesund? Und Antonovsky stellte fest: Krankheit und Gesundheit sind keine Gegensätze, sondern beide Begriffe sind auf einem Kontinuum anzusiedeln, mithilfe dessen sich die Befindlichkeit eines Menschen beschreiben lässt. Die Frage lautet also nicht mehr wie im klassischen Krankheitsmodell: Wie lassen sich Defekte lindern oder beseitigen, sondern auch: Wie lassen sich darüber hinaus die Gesundheitsanteile – als Ressourcen gesunder Lebensführung – stärken?

Ein weiteres Paradoxon, nennen wir es das Hawaii-Paradoxon, wurde ein wenig später heftig diskutiert. Emmy Werner (2006) stellte in einer Längsschnittstudie bei unterprivilegierten und verarmten Ureinwohnern Hawaiis fest, dass sich einige trotz massiver Beeinträchtigungen in der Kindheit zu erfolgreichen, im Sinne amerikanischer Kriterien lebenstüchtigen Menschen entwickelten. Deren Fähigkeit, sich – von allen negativen Erfahrungen relativ unbeeindruckt – im vorherrschenden Gesellschaftssystem zu behaupten, nannte sie Resilienz. Dieser Begriff war vorher vornehmlich Zahnärzten und Materialprüfern vertraut, bezeichnete er doch die Fähigkeit von Materialien, sich bei Belastungen wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurückzubilden. Resilienz war nach diesem Verständnis also die Fähigkeit, von massiven Eindrücken der Umwelt möglichst unbeeinflusst zu bleiben.

 

Auch diese Befunde mehrten die Hoffnung, geeignete Bedingungen bereitstellen zu können, um präventiv oder kompensatorisch gegenüber belastenden und schädlichen Umwelterfahrungen aktiv zu werden.

Sie passten hervorragend in Theoriengebäude, die in der Entwicklungspsychologie etwa von Cicchetti im Rahmen einer Entwicklungspathologie, vorher vom Piaget-Schüler Kohlberg und Mitarbeitern, in der Soziologie sowie in der Psychotherapie von Verhaltenstherapeuten (Ullmann u. Krasner 1969; Keupp 1974) und vor allem von Milton H. Erickson postuliert wurden.

War es notwendig und zielführend, bei psychischen Verhaltensbesonderheiten, die von der Gesellschaft als störend angesehen wurden, das klassische medizinische Modell zugrunde zu legen? Aus der Tradition heraus, die Psychopathologie in den klassischen medizinischen Kanon aufzunehmen, war das nachvollziehbar. Aber vor allem die Orientierung an zu behandelnden Defekten schien vielen Fürsprechern eines alternativen Pathologiemodells nicht nachvollziehbar. War es nicht eher die unzureichende Ausstattung mit entwicklungsförderlichen Ressourcen, ein ungünstiges Verhältnis von schädigenden und protektiven Faktoren, welches zum Zustandsbild eines entwicklungsbeeinträchtigten Individuums führte? Und war die Etikettierung eines solchen Prozesses als abweichend nicht auch und vor allem einem gesellschaftlichen Erwartungshorizont und spezifischen gesellschaftlichen Interessen geschuldet? War die Verhaltensauffälligkeit vielleicht sogar die beste Möglichkeit eines Individuums, im Rahmen seiner einschränkenden Bedingungen mit den vorfindbaren »objektiven« Schwierigkeiten umzugehen?

Auf diesen fruchtbaren Boden alternativer Pathologie und Entwicklungsmodelle fielen die Befunde von Antonovsky, Werner und deren Mitarbeitern. Es waren Modelle, die Anlass boten, die zum Teil postulierten Paradoxien zugunsten eines angemessenen Gesundheitsmodells auflösen zu können. Auch diese alternativen Ansätze eröffneten ein erfolgversprechendes Forschungsfeld, das in der Abkehr vom »medizinischen Modell« nicht nur sozialwissenschaftlichen Zugangsweisen, sondern bald auch dem ganzen Spektrum alternativer Denkmodelle und deren vorschnellen Gesundheitsempfehlungen den Weg ebnete. Um bei unserem French paradox zu bleiben: Aus der Empfehlung, die Inhaltsstoffe des Weines auf seine gesundheitsfördernde Wirkung hin zu analysieren und in die Gesundheitsempfehlungen aufzunehmen, wurde die von Weintrinkern etwas zu schnell und umso bereitwilliger verstandene Empfehlung: »Trinkt mehr Rotwein, und ihr bleibt gesund.«

Meines Erachtens war es einer der größten Fehler, das kritisierte medizinische Defektmodell (d.h., es wird ein quasi-organischer Defekt postuliert) in ein Defizitmodell (mit dem Fokus auf Minusvarianten von Kompetenzen) umzuwandeln (s. auch die Diskussion in der Sonderpädagogik, Holtz et al. 1984). Es galt von nun an als angesagt, nur noch die vorhandenen Kompetenzen und Ressourcen eines Individuums in den Blick zu nehmen und Kataloge von optimal ausgeprägten Merkmalen zu erstellen. Ein Credo der Beratungslandschaft war: Die erforderlichen Ressourcen und Kompetenzen sind ja eigentlich vorhanden, aber durch widrige gegenwärtige Umstände blockiert oder verschüttet. Aufgabe eines Coachs war es dann nicht, Ratschläge zu geben, wie man diese erwerben oder stärken könne, sondern durch geeignete Interventionen, zumeist Fragen, diese Blockaden zu überwinden und den Klienten mit dem guten Gefühl zu entlassen, dass er es ja eigentlich selbst gewesen sei, der seine vorher nicht zur Verfügung stehenden Ressourcen freigeschaufelt habe.

Und spätestens hier wurde das in der Paradoxie enthaltene Dilemma deutlich: Im Prinzip war es richtig, auch an die eigenen Kompetenzen und Ressourcen zu erinnern. Aber bei jeder Thematisierung solcher Eigenschaften und Fähigkeiten musste ja auch damit gerechnet werden, dass es innere wie äußere Bedingungen gab, die nur zu einer schwachen und unzureichenden Ausprägung führen konnten. Und es gab sicher auch Gewohnheiten und Verhaltensbesonderheiten, die sich nicht in Kompetenzen und Ressourcen umformulieren ließen (Holtz 2006). Ferner waren Wechselwirkungen anzunehmen, welche je nach vermuteter Transaktion die eine oder andere Auswirkung haben konnten.

Begünstigt wurde diese optimistische Aufforderung zur ausschließlichen Benutzung der »sunny side of the street« dann endgültig durch das angloamerikanische Paradox der Positiven Psychologie, welches all die genannten Vorarbeiten auf unnachahmliche und konsequente Weise aufgriff. Schon in der amerikanischen Verfassung war das Streben nach Wohlergehen und dem Glück der Freiheit ein erklärtes Ziel. Mit dem Gründungsmanifest Seligmans und seines Mitstreiters Csikszentmihalyi (den Eingeweihten als Erfinder des Flow-Konzepts bekannt) zur Positiven Psychologie (Seligmans u. Csikszentmihalyi 2000) – das sich für einen an wissenschaftlichem Denken orientierten Leser mehr wie ein Offenbarungsmanifest liest – begann mit diesem Jahrtausend die wissenschaftliche Erforschung und Propagierung menschlichen Glücks als Voraussetzung allseitigen Wohlergehens.

Ich will hier nicht auf all die Auswüchse eines erbarmungslos positiven Denkens für die helfenden Berufe eingehen, hierzu empfehle ich das ausgezeichnete Buch von Cabanas und Illouz (2019). Festzustellen ist jedoch, dass die hilfreichen Modelle der Salutogenese und der Resilienzforschung in den Strudel einer glückstrunkenen Psychoszene gerieten, die auch die Coachingszene nicht verschonte, ja, sich ihrer sogar ausgiebig bediente. Glück war nun nicht mehr ein bisweilen aus paradoxen und unvorhersehbaren Wechselwirkungen innerer und äußerer Bedingungen entstehender Prozess, zumeist in einer intensiven Auseinandersetzung mit menschlichem Leid. Glück wurde eine quantifizierbare Eigenschaft menschlicher Lebensverwirklichung, die somit nicht nur zu einer ökonomischen Wirkgröße wurde, sondern auch zu einer Kompetenz, die trotz aller widriger Umstände und sozialer wie finanzieller Ungleichheiten in den Schulen als Lernfach angeboten wurde. In seinem Buch Wie wir aufblühen wandte sich Seligmann (2015) explizit an all die »Persönlichkeitsentwickler«, wie Elaine Swan sie nannte – all diejenigen, die nicht in Heilberufen tätig waren und sich somit noch ein wenig dem medizinischen Denkmodell verpflichtet fühlten, sondern diejenigen, die sich in einem falsch verstandenen salutogenetischen Ansatz z.T. der Methoden der Psychotherapie bedienten, um Menschen dabei zu unterstützen, optimaler, arbeitsfähiger und glücklicher zu werden.

»Make coaching great again« – Seligmann sprach explizit den riesigen Coachingmarkt an:

»Die Positive Psychologie in der Praxis als Coach oder Therapeut anzuwenden, Schülern in der Schule Übungen der Positiven Psychologie zu geben, kleine Kinder mit Positiver Psychologie zu fördern, Feldwebel in der Hilfestellung zur Überwindung Posttraumatischer Belastungsstörung zu schulen, andere Positive Psychologen zu treffen und einfach nur über Positive Psychologie zu lesen – all das macht Menschen glücklicher. Die Menschen, die in dieser neuen Disziplin arbeiten, gehören zu den Personen mit dem größten Maß an Wohlbefinden, die mir je begegnet sind« (zit. nach Cabanas u. Illouz 2019, S. 32).

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