Kriminologie

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16 Die neuronale Hirnforschung gilt als eines der zukunftsträchtigsten und spektakulärsten Forschungsgebiete. Dabei zeigt sich, dass das Gehirn ein höchst komplexes biologisches System ist, in dem bestimmte Hirnregionen – besonders solche des limbischen Systems – arbeitsteilig spezifische Aufgaben der Verhaltenssteuerung wahrnehmen. Das untere, über den Augen liegende Stirnhirn, der präfrontale Cortex, funktioniert als Kontrollinstanz, welche die in limbischen Hirnbereichen entstehenden Gefühle und Impulse im Zaum hält. Beobachtungen an erwachsenen Patienten mit frontalen Hirnverletzungen durch Schädel-Hirn-Traumata belegen, dass sich diese Verletzungen häufig in erhöhter Reizbarkeit niederschlagen. Nach retrospektiven Untersuchungen an Gewalttätern soll der präfrontale Cortex bei aggressiven Erwachsenen deutliche Auffälligkeiten aufweisen, welche entweder durch Verletzungen hervorgerufen oder angeboren und genetisch bedingt seien. Gewalttätiges Verhalten hänge ferner mit männlichem Geschlecht, Alter und persönlichen Gewalterfahrungen in der Kindheit zusammen. Zusätzlich wird eine Abhängigkeit der Gewalt von einem hohen Testosteron- und niedrigen Serotoninspiegel angenommen. Hirnanomalien sollen vor allem dann zu Gewalt führen, wenn sie von Kindheit an bestehen und psychosoziale Risikofaktoren wie massive Störungen der frühen Mutter-Kind-Beziehung, inkonsequente Erziehung, Misshandlung und Missbrauch im Kindesalter hinzukommen.139

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Über diese Fälle beobachtbarer Auffälligkeiten und Defekte des präfrontalen Cortex hinaus zeigt die Hirnforschung, dass geistig-psychische Zustände nicht jenseits der physikalisch-physiologischen Materie des Gehirns angesiedelt sind, sondern sich innerhalb dieser Materie vollziehen. Damit ist die auf René Descartes (1596-1650) zurückgehende Annahme einer substantiellen Verschiedenheit von menschlichem Körper und Geist widerlegt. Bewusstseinszustände, Gedanken und Gefühle werden [70] durch körperliche Gehirnprozesse verursacht; das Mentale ist vom Gehirnsystem biologisch produziert.

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Schaubild 2.2: Hirn mit präfrontalem Cortex (hier dunkel)


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Als eines der bekanntesten Belege dafür gilt das Libet-Experiment140, welches nach der Interpretation seines Erfinders zeigt, dass die Gehirnaktivität, welche zu einer Handbewegung führte, vor dem Moment einsetzte, in welchem sich die Person zu der Bewegung entschloss. Aufgrund solcher experimentell erlangter Befunde bezweifeln zahlreiche Hirnforscher die Möglichkeit menschlicher Willensfreiheit: Was man als vermeintlich autonome Willensentscheidung wahrnehme, sei tatsächlich das Ergebnis sich unwillentlich vollziehender Gehirnaktivitäten. Damit werden angeblich auch der strafrechtliche Schuldvorwurf und die Legitimität der staatlichen Strafe infrage gestellt: Da der Entschluss zum Rechtsbruch neuronal gesteuert werde, könne das strafbare Verhalten nicht zum Vorwurf gemacht werden. Anstatt Strafen seien demnach nur rein präventive, also auf die Sicherung oder Besserung des Täters abzielende, Maßnahmen der sozialen Verteidigung zulässig.141

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Mit Hinweisen auf Zusammenhänge zwischen Aggressionsneigungen und pathologischen Auffälligkeiten der Struktur bzw. der Aktivitäten des präfrontalen Cortex behauptet die neuronale Hirnforschung eine biologische – und damit moralisch [71] standpunktfreie – Bestimmbarkeit des Bösen in der Anlage. Von humanistischen Ansprüchen befreit, wird das Individuum in einem naturwissenschaftlichen Rigorismus ohne Wahlfreiheit konzipiert.142 Insofern führt der Fortschritt der Biowissenschaften zu einer Rückkehr zu kriminologischen Positionen, die seit Lombroso in dieser Ungeschminktheit nicht mehr eingenommen wurden: Es scheint dem zu Folge „gefährliche“ Menschen zu geben, die sich naturwissenschaftlich nachweisbar in ihrer individuellen biologischen Ausstattung von Ungefährlichen und Gesetzestreuen unterscheiden.143

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Mit der Anzweiflung der Willensfreiheit beansprucht die neuronale Hirnforschung, das über Jahrhunderte in der Philosophie des Geistes umstrittene Verhältnis von menschlichem Körper und Geist geklärt zu haben. Die neuronale Hirnforschung präsentiert sich damit wie die Evolutionstheorie von Charles Darwin als universelle Leitwissenschaft, die grundlegende bislang umstrittene Fragen der menschlichen Existenz beantwortet.144 Wie zu Zeiten Darwins wird das Zusammenspiel von Körper und Geist naturwissenschaftlich monistisch gedeutet und auf Körperfunktionen zurückgeführt: In Verwerfung des Cartesianischen Dualismus wird das Geistige als mit den Aktivitäten der Physis des Gehirns identisch begriffen.

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Die Zusammenhänge von neuronalen Hirnaktivitäten und menschlichem Verhalten sind vielfach und sorgfältig belegt. Es erscheint auch plausibel, dass menschliches Verhalten durch die biologische Befindlichkeit des jeweiligen Individuums beeinflusst werden kann, speziell, wenn diese Befindlichkeit ungewöhnlich oder gar pathologisch auffällig ist. Entscheidend ist, was solche Zusammenhänge bedeuten: Folgt daraus wirklich, dass menschliches Verhalten durch Gehirnprozesse kausalgesetzlich determiniert wird? Dass sich menschliche Subjektivität auf neurobiologische Prozesse reduzieren lässt?

23 Dies wird häufig mit großer Vereinfachung und in reißerischer Sprache behauptet. „Tatort Gehirn“145, „Die Gene des Bösen“146, „Das Verbrechergehirn“147 und ähnlich lauten durchaus seriös gemeinte Schlagzeilen und Buchtitel. Der dem zu Grunde liegende Reduktionismus, wonach alle Manifestationen unseres Geistes ausschließlich eine Konsequenz der Aktivität physiologischer Prozesse im Gehirn seien, beruht auf einer unzutreffenden Überinterpretation empirischer Befunde. In eigentümlicher Verdrehung wird dabei das Gehirn zum Subjekt erklärt, das den [72]Menschen als ausführendes Werkzeug benutzt, die neuronalen Prozesse zur Quelle von Gedanken. Nur durch diese Redeweise wird der Eindruck eines die Eigenheit des Mentalen verdrängenden biologischen Determinismus erweckt.148 Was die Hirnforschung als neuronale Prozesse benennt, sind im Alltagsverständnis schlicht unsere Gedanken, und die vermeintliche Subjektstellung des Gehirns schrumpft in diesem Verständnis zu der Annahme, dass wir davon zumeist unbewusst und unwillentlich Gebrauch machen. Die Annahme, dass „das“ (nicht etwa unser!) Gehirn unser Verhalten steuert149, lässt sich schwerlich dahin erweitern, dass das Gehirn seine neuronalen Prozesse selbst neuronal steuert. Also muss der eigentlich bekämpfte Freiheitsgedanke wieder erweckt und nun dem Gehirn zugeschrieben werden, das als autonomes Subjekt nicht anders kann als „seine Freiheit“150 wahrzunehmen.

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In ähnlicher Weise wie bei der Hypostasierung des Gehirns als steuerndes Subjekt wird bei der Antwort auf die klassische kriminalitätstheoretische Frage nach den Ursachen des Verbrechens die in genetischen und neurobiologischen Strukturen und Funktionen ausgedrückte menschliche Natur zur Produktionsstätte des gewalttätigen kriminellen Verhaltens stilisiert.151 Der Kriminelle mag durch seine veranlagten Triebe gesteuert sein – aber was sind seine Triebe anderes als er selbst?

IV. Gemeinsame Probleme und Defizite

Lektüreempfehlung: Strasser, Peter (2005): Verbrechermenschen. Zur kriminalwissenschaftlichen Erzeugung des Bösen. 2. Aufl., Frankfurt a. M., 127-154, 229-245.

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Die Biokriminologie beschränkt ihr Augenmerk auf Kriminalität, die mit Gewaltbereitschaft und Gewaltausübung zu tun hat. Sie wählt den zu untersuchenden Personenkreis zumeist aus der Gefängnispopulation oder aus biologisch auffälligen Menschen, die aggressiv wurden. Die Untersuchungseinheiten sind klein, die Untersuchungen meist retrospektiv, Vergleichsgruppen werden kaum herangezogen.

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Jeder Entwicklungsschub der Humanbiologie scheint die alte Frage nach dem „geborenen Verbrecher“ aufs Neue zu beleben. Nicht wissenschaftliche Indizien, sondern die schauerliche Faszination der Vorstellung, dass es Menschen mit „bösen“ Genen oder Hirnen gibt, ist die Antriebsquelle der Biokriminologie. Offenbar assoziiert der Alltagsverstand unbegründete Gewaltausbrüche, die durch Erziehung und [73]Behandlung nicht gezügelt werden konnten, hartnäckig mit einer abartigen biologischen Veranlagung. Die Biokriminologie „bedient“ dieses Vorurteil mit ihrem aktuellen wissenschaftlichen Repertoire und erhält dafür im Gegenzug eine ansonsten in der Kriminologie kaum erzielbare Öffentlichkeitswirkung.

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Im Gegensatz zur beeindruckenden technologischen Entwicklung der Biowissenschaften ist der Diskurs um ihre kriminologischen Erträge bemerkenswert zurückgeblieben, ja fast auf der Position Lombrosos erstarrt. Auch die neuen biowissenschaftlichen Deutungen der Kriminalität leiden darunter,

■ die Menschheit nach einer binären Logik in Kategorien von Gute und Schlechte, Normkonforme und Abweichler zu scheiden,

■ einen Determinismus zu behaupten, der den Menschen und seine Handlungen als Objekt biologischer Steuerung versteht,

■ einen Diskurs zu führen, der Indizien für biologische Einflüsse dazu verwendet, Abweichung zu pathologisieren und dadurch die soziale Verteidigung naturwissenschaftlich zu legitimieren,

■ das Böse im Innern bestimmter Menschen zu lokalisieren, sie in dieser scheinbar unabänderlichen Eigenschaft zu definieren und eine lebenslange Persistenz der Neigung zu asozialem Verhalten zu unterstellen,

 

■ den mangelnden Erfolg therapeutischer Interventionen dem Individuum zuschreibend als Unbehandelbarkeit zu deuten,

■ auf Behandlungsangebote, welche Autonomie und Würde des Einzelnen respektierten, zu verzichten, um stattdessen einem Programm zur Unterdrückung von Charaktermängeln zu folgen,

■ im Übrigen auf Maßnahmen der Neutralisierung von menschlichen Risikoträgern zu setzen, die vom medikamentösen Ruhigstellen über die Sicherungsverwahrung bis zu dereinstigen eugenischen Neuzüchtungen der humanen Biomasse im „Menschenpark“152 reichen.

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Der geläufigste Einwand gegen biologische Verbrechenserklärungen beanstandet die allzu kurzschlüssige Verbindung zwischen biologischen Eigenschaften und kriminellem Verhalten, bei welcher der vermittelnde Einfluss des sozialen Umfeldes außer Betracht bleibt. Zwar werden Befunde der Biokriminologie nicht durch Belege für zusätzlich bestehende soziale Einflussfaktoren der Kriminalitätsentstehung entkräftet, da biologische Einflüsse durchaus neben und hinter sozialen Einflüssen bestehen mögen (→ § 7 Rn 3 ff.). Indessen gewinnt die Kriminalität immer erst [74] durch das Bindemittel Umwelt eine erfahrbare und wissenschaftlich zugängliche Form.

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Auch ausgeprägte statistische Zusammenhänge belegen mitunter nicht wirklich biologische Einflüsse. So ist in den USA die registrierte Kriminalität der afroamerikanischen Bevölkerung, und erst recht deren Inhaftierungsrate, um ein Mehrfaches höher als es eigentlich ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend zu erwarten wäre. Die Erklärung dessen mit einem durchschnittlich deutlich niedrigeren Intelligenzquotienten von Afroamerikanern im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt153 hat eine heftige Kritik entfacht154. Diese anrüchig simple Annahme dürfte nur durch das Zusammenspiel zweier Umstände Beachtung gefunden haben: Zum einen haben naheliegende soziale Deutungen, wonach die afroamerikanische Bevölkerung in Ausbildung, Einkommen, Wohnqualität und Ansehen benachteiligt ist und zudem einem überwiegend weißen Strafverfolgungsapparat mit entsprechenden strukturellen Problemen (Stichwort racial profiling) begegnet, an Überzeugungskraft verloren, weil die Bereitschaft zu breit angelegten – und entsprechend kostspieligen! – Programmen der affirmativen Stützung geschwunden ist. Zum anderen hat die geringe Beeinflussbarkeit dieses Befundes durch einen überproportional auf Afroamerikaner gerichteten abschreckungsorientierten Strafvollzug die Vorstellung genährt, dass die Verhaltensstabilität biologische Ursachen haben müsse. Bei geschwundener Bereitschaft zur sozialpolitischen Beförderung von Chancengleichheit drängt sich die biologische Erklärung geradezu auf, wenn Abschreckung durch Strafvollzug als unrealistisch eingeschätzt wird.

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Vollends triftig wird die Kritik an der Biokriminologie, wenn sie die gesellschaftliche Prägung der Kriminalität nicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse als Verhaltensursache, sondern auf die Gesellschaft als Aushandlungsinstanz der Inhalte von Kriminalität bezieht. Kriminalität und Gewalt lassen sich nicht biologisch bestimmen, weil diese Begriffe erst mit Blick auf gesellschaftliche Reaktionen definierbar sind, sich in gesellschaftlichen Aushandlungen des Normalen und des Normabweichenden herausbilden und dem Wandel sozialer Anschauungen des Gewünschten und Geächteten unterliegen (→ § 13 Rn 8 ff.).

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Die Kriminalität auf biologische Zusammenhänge zu reduzieren bedeutet, das Phänomen des Rechtsbruchs aus seinem jeweiligen kulturellen und sozialen Kontext zu lösen. Kriminalität ist nicht ohne ihren von einem gesellschaftlich bestimmten Normalitätsmaßstab abweichenden Charakter definierbar, also selbst gesellschaftlich geprägt. Sie ist Teil des kollektiven Sinnsystems der Sozialwelt, in der Bedeutungen verliehen und Sinn erzeugt wird. Insofern handelt es sich bei kriminellen Rechtsbrüchen nicht um objekthaft und nichtkommunizierend vorhandene Gegebenheiten [75](→ § 2 Rn 11 ff.), deren Charakteristika durch Zusammenhänge mit natürlich „sinnlos“ vorhandenen biologischen Befundtatsachen bestimmbar wären. Die biokriminologische Sicht entbehrt der gebotenen Gegenstandsadäquanz ihres methodischen Erklärungsrahmens für ein gesellschaftlich überformtes und nur mit Blick auf seine gesellschaftliche Problemwahrnehmung erkennbares Phänomen.155

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Humanbiologische Befunde sind nicht bloß zur Erklärung kriminellen Verhaltens unzureichend, sondern – abgesehen von der Konditionierung durch pathologische Defekte – zur Erklärung menschlichen Verhaltens überhaupt unzulänglich. Der Versuch, menschliches Verhalten durch Belege seiner kausalen Abhängigkeit von Körperfunktionen erklären zu wollen, übersieht das Bewusstsein als Instanz, in der man sich selbst als Akteur erlebt und Handlungsintentionen bildet. Zwar hat das Mentale keine eigene physische Existenz neben der Materie des Gehirns. Dennoch ist das Bewusstsein, im Rahmen des subjektiv Beherrschbaren als Akteur autonom auf die Umwelt gestaltend einzuwirken, eine menschliche Grunderfahrung, die sich nicht mit Hinweisen auf die neurobiologische Bildung des Bewusstseins leugnen lässt. Geist und Bewusstsein sind zwar als Produkte körperlicher Funktionen durch Gehirnprozesse bewirkt, können jedoch nicht auf diese reduziert werden. Menschliches Handeln ist von der biologisch nicht fassbaren Erste-Person-Wahrnehmung vom Bewusstsein getragen, subjektiv sinnhaft zu agieren. Willensfreiheit ist daher, obwohl wir endliche und externen Einflüssen ausgesetzte Wesen sind, immerhin beschränkt möglich: Was von uns nicht beherrschbar ist, geschieht ohne unseren Willen. Im Übrigen aber handeln wir in unserer subjektiven Lebenswahrnehmung und im Rahmen einer Kultur, die uns Eigenverantwortung zuweist, frei.156

122 Hofinger 2013, 10.

123 Vgl. etwa Murderous Times, http://www.autismwebsite.com/crimetimes/98c/w98cp1.htm: „The real cause of such senseless violence is almost certainly the malfunctioning brains of the offenders. And what causes these troubled brains to malfunction? The culprits include prenatal exposure to alcohol, tobacco, or drugs; perinatal birth trauma; seizures; brain tumors; neurotoxins; food and/or chemical sensitivities; nutritionally deficient diets; head injuries; and pollutants in our air, water, and soil. Additionally, many of America’s killer children suffer from genetically caused or influenced brain dysfunction.“

124 Lavater 1775-1779, 14.

125 Barash 1980; Wilson 1975.

126 Deutlich etwa bei Zerbin-Ruedin 1984, 14: „Was die Anlagenseite betrifft, so wird nicht das erscheinungsbildliche Merkmal (Kriminalität) vererbt, sondern kodierte Information. Dies gibt Anweisung für den Aufbau und die Regulierung von Proteinen, Enzymen, Hormonen, Neurotransmittern, die dann ihrerseits zu einem erhöhten Risiko für kriminelles Verhalten führen können“; vgl. auch Zerbin-Ruedin 1985, 15 ff., 25 ff.

127 Hofinger 2013, 20.

128 Christiansen 1977b; Christiansen 1977a; Mednick/Volavka 1980.

129 Rowe, zitiert nach Zerbin-Ruedin 1984, 3.

130 Vgl. Mednick/Gabrielli/Hutchings 1984 im Gegensatz zu Hutchings/Mednick 1977.

131 Walters 1992.

132 Zang 1984.

133 Shah/Roth 1974, 137.

134 Kaiser 1983, 56.

135 Edelhoch 1980, 54 ff.; Rennie 1978, 223 ff.

136 Witkin u. a. 1976; Mednick/Volavka 1980, 93.

137 Sorensen/Nielsen 1984.

138 Moffitt u. a. 2001; Caspi u. a. 2002.

139 Lück/Strüber/Roth 2005, 11 ff., 121 ff.; Markowitsch/Siefer 2007, 170.

140 Benjamin Libet bat Probanden, in einem beliebigen Moment das Handgelenk zu bewegen, während sie eine Art Uhrzeiger verfolgten, und zeichnete dabei deren Gehirnaktivitäten auf.

141 Markowitsch/Siefer 2007, 132; Roth 2003, 544.

142 Strasser 2013, 58.

143 Heinemann 2014; s. auch Maier/Helmchen/Sass 2005.

144 „Manifest der Hirnforschung im 21. Jahrhundert“, Gehirn und Geist 6/2004; 3/2005; Roth/Grün 2009.

145 Markowitsch/Siefer 2007.

146 http://www.tagesspiegel.de/meinung/gewaltverbrechen-die-gene-des-boesen/4310446.html.

147 http://www.deutschlandfunk.de/das-verbrechergehirn-die-neuvermessung-des-boesen.740.de.html?dram:article_id=305637.

148 Dazu lehrreich Reemtsma 2006.

149 Roth 2003.

150 Roth/Grün 2009.

151 Neubacher 2014, 85 f.

152 Sloterdijk 1999.

153 Murray/Herrnstein 1994.

154 Gebhardt/Heinz/Knöbl 1996.

155 Kunz 2008, 72 ff.

156 Ausführlich dazu Searle 2006.

§ 8 Psychologische und psychiatrische Persönlichkeitskonzepte

Lektüreempfehlung: Lösel, Friedrich (1993): Täterpersönlichkeit. In: Kaiser, Günther u. a. (Hrsg.): Kleines Kriminologisches Wörterbuch. 3. Aufl., Heidelberg, 529-540.

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Der Begriff „Persönlichkeit“ bezeichnet die individuellen psychischen Eigenschaften eines Menschen, welche in veränderten Lebenssituationen relativ stabil bleiben und das Verhalten beeinflussen. Speziell persistente, also dauerhaft gleichförmig [76] praktizierte Verhaltensgepflogenheiten eignen sich für eine persönlichkeitsbezogene Deutung. Obwohl die Persönlichkeit eines jeden Individuums singulär ist, bestehen Vergleichsmöglichkeiten, insofern Individuen Persönlichkeitsmerkmale aufweisen, die auch bei anderen anzutreffen sind.157 Persönlichkeitskonzepte sind offen für unterschiedliche Vorstellungen darüber, welche Einflüsse zum Erwerb einer bestimmt gearteten Persönlichkeit führen: Biologische, insbesondere ererbte Eigenschaften kommen ebenso in Betracht wie Einflüsse der sozialen Umgebung, deren Verinnerlichung man sich mit Hilfe des sozialen Lernens (→ § 10 Rn 6 ff.) vorstellt. Insofern bilden persönlichkeitsbezogene Verhaltenserklärungen ein Bindeglied, das sich zur Verklammerung biologischer und sozialer Annahmen eignet.

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Während die Psychologie sich vor allem für die generell erwartbaren Dimensionen der „normalen“ Persönlichkeit interessiert, konzentriert sich die Psychiatrie auf die Pathologie der „gestörten“ Persönlichkeit. Beide Zugangswege sind für die Suche nach Zusammenhängen zwischen einer bestimmt gearteten Persönlichkeit und kriminellem Verhalten von Interesse. Die Schwierigkeit, Kriminalität als ein Produkt gesellschaftlicher Aushandlung persönlichkeitsbezogen zu erklären, wird dadurch zu umgehen versucht, dass die kriminologische Persönlichkeitsforschung zumeist nicht nach Merkmalen krimineller, sondern „antisozialer“ Persönlichkeiten sucht. Freilich ist das nicht dasselbe, und auch Dis- oder Antisozialität sind normative, an einer Normalvorstellung ausgerichtete Begriffe (→ § 8 Rn 16 ff.).

I. Psychologische Perspektiven

Lektüreempfehlung: Hollin, Clive R. (2012): Criminological Psychology. In: Maguire, Mike; Morgan, Rod; Reiner, Robert (Hrsg.): The Oxford Handbook of Criminology. 5. Aufl., Oxford, 81-112; Rafter-Hahn, Nicole (1997): Psychopathy and the Evolution of Criminological Knowledge. Theoretical Criminology 1, 235-260.

Nützliche Websites: http://www.e-criminalpsychology.com.

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In der allgemeinen Persönlichkeitsforschung wurden neben individualdiagnostischen Methoden zunehmend quantitative Verfahren entwickelt, mit denen Persönlichkeitseigenschaften standardisiert erhoben und statistisch geprüft werden. Diese Verfahren ermöglichen induktiv erstellte Persönlichkeitsinventare, welche die Verteilung der verschiedenen Dimensionen der Persönlichkeit der untersuchten Probanden in Skalen abbilden. Die Inventare werden sodann in Frageform Versuchspersonen vorgelegt, deren Antwortverhalten eine quantitativ-skalenmäßige Zuordnung der Person zu einem bestimmten Persönlichkeitsprofil oder mehreren [77] solcher Profile erlaubt. Von der Anwendung dieser Verfahren auf verschiedene Gruppen strafrechtlich Erfasster und Vergleichsgruppen nicht strafrechtlich auffällig gewordener Personen verspricht man sich Aufschluss über persönlichkeitsbezogene Eigenarten Straffälliger.

 

4 So verglich das Ehepaar Sheldon und Eleanor Glueck 1950 in den USA je 500 delinquente und nicht delinquente Jugendliche und kam zum Ergebnis, die „delinquente Persönlichkeit“ sei eher extrovertiert, impulsiv und unnachsichtig, weniger selbstkontrolliert, weniger um Konventionen bekümmert und um Misserfolg besorgt.158 Ähnliche Befunde ergeben sich aus dem multivariaten Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI) und dem Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI).159 Im MMPI erwies sich die Skala für „psychopathische Devianz“ zur Bestimmung persönlichkeitsbezogener Unterschiede straffällig Auffälliger und Unauffälliger als statistisch am ausgeprägtesten. Freilich enthielt diese Skala Fragen nach Problemen mit dem Gesetz, kindlichem Stehlen, Freude an der Schule und häuslicher Geborgenheit und spiegelte damit eher unterschiedliche Lebensumstände als eine gesteigerte „Psychopathie“ der straffällig Auffälligen.160 Zumeist wird das Ergebnis von Persönlichkeitsvergleichen straffällig Auffälliger und Unauffälliger dahin zusammengefasst, dass solche Tests keine theoretische Bedeutung zum Verständnis der Ursachen kriminellen Verhaltens besitzen.161

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Ergänzend zu Persönlichkeitsinventaren wurde das Konzept der psychopathischen oder soziopathischen Persönlichkeit zur Beschreibung der Charaktereigenschaften von Straftätern entwickelt, die scheinbar grundlos besonders grausame Verbrechen verübt hatten. In einem Buch mit dem bezeichnenden Titel „Die Maske der geistigen Gesundheit“162 beschrieb Cleckley (1903 bis 1984) 1964 den Psychopathen als einen „moralischen Idioten“, der frei von Psychosen, doch unfähig zu Mitgefühl ist, chronisch lügt, überdurchschnittlich intelligent und egozentrisch veranlagt ist. Indikatoren für Psychopathie zeigten sich schon in frühen Lebensabschnitten in Form von Bettnässen, Schlafwandeln, Grausamkeit zu Tieren, Brandlegen und Vandalismus. In ihrer Impulsivität und ungezügelten Aggression, ihrer reinen Ichbezogenheit und Unfähigkeit zu moralischem Urteilen gerieten diese Personen früher oder später zwangsläufig mit dem Strafgesetz in Konflikt.

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Das Konzept des Psychopathen birgt empirisch dürftig abgesicherte Verallgemeinerungen. Es enthält ein erfahrungswissenschaftlich nicht vertretbares deklassierendes Werturteil über die damit bezeichnete Person.163 Seit 1968 ist es deshalb in der [78]American Psychiatric Association üblich geworden, den Begriff der psychopathischen Persönlichkeit durch den der „antisozialen“ bzw. „dissozialen“ Persönlichkeit zu ersetzen und für deren Charakterisierung präzisere Merkmale zu verwenden (→ § 8 Rn 16 ff.).

7 In der Psychologie und neuerdings in der Kriminologie (→ § 9 Rn 26 ff.) wird Kriminalität mitunter als eine Anpassung an psychische Stresssituationen verstanden. 164 Kriminelles Verhalten ist dem zu Folge von triebhaften Empfindungen – wie dem aus dem Schuldgefühl resultierenden unbewussten Verlangen nach Bestrafung – geleitet, die dem Bedürfnis nach Unauffälligkeit und Konformität entgegengerichtet sind. Daraus entsteht ein innerer Konflikt, der mitunter nicht ausgehalten und durch kriminelle Betätigung entladen wird. Kriminelles Verhalten dient danach der Bewältigung psychischer Zwänge, die andernfalls als übermächtig empfunden würden. Es verschafft der gestressten Psyche im Augenblick der Tat ein gutes Gefühl der Autonomie und Überlegenheit über andere.165 Gerade für Personen, die durch soziale Benachteiligung und Unterdrückung belastet sind, ist die kriminelle Betätigung eine Form der Selbstbestätigung und mitunter gar eine Überlebenshilfe.

„During the planning and execution of a criminal act, the offender is a free man. The value of this brief taste of freedom cannot be overestimated. Many of the criminal’s apparently unreasonable actions are efforts to find a moment of autonomy.“166

8 Diese Deutung gewinnt eine neue Dimension, wenn die zu Kriminalität disponierende psychische Beschaffenheit nicht in der negativen Belastung durch Stress, sondern in den positiven Erlebnisinhalten gesehen wird, welche die Verübung von Straftaten vermittelt. Die Möglichkeit, für einmal in die Rolle des Bösen zu schlüpfen und sie genussvoll – gleichsam den Zigarillos kauenden Halunken spielend! – auszuleben; der adrenalinsprühende Nervenkitzel beim unbemerkten Griff in die fremde Ladenkasse; das Auskosten der Überlegenheit beim angsterfüllten Angesicht des Opfers; kurzum: die Lust an der Amoralität ist Balsam für die Seele.

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Solche Vorstellungen fallen aus dem Rahmen konventioneller Kriminalitätsverständnisse. Die Annahme, dass Kriminalität Genuss verschaffe und wegen dieses Genusses verübt werde, hat so gar nichts von der moralinsauren Ernsthaftigkeit, die Kriminalitätstheorien ansonsten anhaftet. Insofern die Lust am Bösen letztlich der normalen Natur des Menschen entspricht, ist sie nicht eigentlich verwunderlich. Für die herkömmliche ätiologisch-quantitative Theorienbildung ist diese Perspektive schwer zugänglich, was der Grund dafür sein mag, warum die Wissenschaft dieses [79]Thema bislang nur vereinzelt behandelt: In der sogleich zu erörternden psychoanalytischen Perspektive und neuerdings in der ökonomischen Kriminalitätstheorie, die annimmt, Individuen täten auf Grund autonomer Wahlentscheidungen das, was ihnen am meisten Vergnügen bereite (→ § 12 Rn 13, 23 f.).

II. Die psychoanalytische Perspektive

10 Die Psychoanalyse sucht die Ursachen von Delinquenz – wie allgemein von sozialem Fehlverhalten und psychischen Störungen – in der frühkindlichen Entwicklung.167 Nach Sigmund Freud (1856-1939) werden im Verlauf der Persönlichkeitsreifung dem ursprünglichen triebhaften Es das realitätsbezogene Ich und das die Moral repräsentierende Über-Ich gegenübergestellt.

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Das normale, noch von ungebändigten Trieben geleitete Kind ist für Freud ein „polymorph-perverses“ und „universell kriminelles“ Wesen, das in den ersten Lebensjahren unter dem Einfluss der sich allmählich bildenden Ich und Über-Ich lernt, Triebbedürfnisse zu kontrollieren. Die wichtigste Triebquelle ist der Sexualtrieb, die Libido. Die Libido des Kleinkindes entwickelt sich in Phasen (orale, anale, phallische). Falls die frühkindliche Befriedigung und Weiterentwicklung der Triebe behindert wird, soll es später zu irreversiblen Entwicklungsstörungen wie mangelndem Selbstwertgefühl, Beziehungsschwäche und Bindungsarmut kommen. Die moralische Instanz des Über-Ich könne durch Versagen der für Identifikationsprozesse entscheidenden Vaterfigur unzureichend ausgebildet werden. Umgekehrt könne ein strenges Über-Ich Triebansprüche des Es ins Unterbewusste verdrängen. Die Unfähigkeit des Kindes, sich rechtzeitig von Vater und Mutter zu lösen, bewirke speziell bei Personen mit ausgeprägtem Über-Ich den Oedipuskomplex und damit unbewusste Schuldgefühle. All dies könne zu bestimmten Straftaten führen. So könnten Verbrechen aus Schuldgefühl begangen werden, ausgelöst durch das unbewusste Verlangen nach Bestrafung, um dadurch das Schuldgefühl zu erleichtern.

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Psychoanalytische Erklärungen sind freilich nicht zwingend täter- oder überhaupt kriminalitätsbezogen. Sie beanspruchen auch Erklärungskraft für die Geständnisbereitschaft, die Aggressionsneigung von Strafverfolgern168, das Strafverlangen der Gesellschaft und generell für die Funktion des Strafrechts169.

[80]13

Theodor Reik (1888-1969) legt in seiner erstmals 1925 erschienenen Abhandlung über Geständniszwang und Strafbedürfnis170 dar, dass nicht die Bestrafung, sondern das Entdecktwerden Angst erzeuge, und somit die Strafangst in Geständnisangst umgesetzt werde. Dem Bemühen, das Verbrechen zu vertuschen, sei jedoch der Zwang, das Geheimnis zu lüften und sich so von einer psychischen Belastung zu befreien, entgegengesetzt. Durch das Geständnis vollziehe sich eine verbale Wiederholung der Tat, welche die Angst überwinde und aufgestaute Schuldgefühle befreie. Die Unfähigkeit zu einer „Geständnisarbeit“ erkläre viele Selbstmorde. Ein unbewusster Geständniszwang bewirke, dass Straftäter trotz minuziöser Planung oft eine grobe Nachlässigkeit begingen, die ihre Entdeckung ermögliche.

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Mehr noch befasst sich die Psychoanalyse mit der tiefenpsychologischen Funktionsbestimmung des Strafrechts und der strafenden Gesellschaft. Das Strafrecht wird als Mittel legaler Aggressionsabfuhr verstanden. In einer berühmt gewordenen Sequenz formuliert Freud:

„Wenn einer es zustande gebracht hat, das verdrängte Begehren zu befriedigen, so muss sich in allen Gesellschaftsgenossen das gleiche Begehren regen; um diese Versuchung niederzuhalten, muss der eigentlich Beneidete um die Frucht seines Wagnisses gebracht werden, und die Strafe gibt den Vollstreckern nicht selten Gelegenheit, unter der Rechtfertigung der Sühne dieselbe frevle Tat auch ihrerseits zu begehen.“171