Kriminologie

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III. Allgemeine Belastungstheorie

27 Mertons Anomiekonzept ist die erste Version der allgemeinen Stressbelastungstheorie (general strain theory), die dem auf bestimmten Individuen lastenden Anomiedruck eine spezifischere Bedeutung als psychische Belastung durch Frustrationserlebnisse und dadurch ausgelösten Stress gibt. Diese Theorie versteht sich als „allgemein“, weil sie sich weder auf die Eigentumskriminalität sozial Unterprivilegierter noch auf Belastungen wegen Scheiterns des Bestrebens um materiellen Wohlstand beschränkt, sondern schlicht alle subjektiven Belastungen, die zu irgendwelchen kriminellen Handlungen führen, erfassen möchte.

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[126] Mit der Thematisierung von Stress und Belastung wird eine Verbindung zwischen dem ursprünglich rein sozialstrukturellen Anomiekonzept, den individualisierenden psychologischen Kriminalitätserklärungen (→ § 8) sowie dem Verständnis subkultureller Sozialisation (→ § 10 Rn 16 ff.) hergestellt. Jene Brückenfunktion der Stressbelastungstheorie macht sie zu einem weithin akzeptierten Modell der Kriminalitätserklärung. Elterliche Zurückweisung, Kindesmissbrauch und -vernachlässigung, negative Schulerlebnisse, Arbeitslosigkeit, eheliche Konflikte, fehlende Chancen erwünschter Zielerreichung und Ähnliches führen zu Frustrationserlebnissen und Stressbelastungen. Diese werden mitunter bewältigt, indem man sich Gruppen von Personen in ähnlicher Lage anschließt und sich an den vermeintlichen Ursachen rächend Straftaten begeht. Die Stressbewältigung durch kriminelle Betätigung findet bevorzugt bei Personen statt, die wenig zu verlieren haben und mit anderen Straftäter:innen Umgang pflegen. Präventiv stehen Vermeidungsstrategien krimineller Stress-bewältigung durch Abbau der Stressbelastung und Förderung normkonformer Stressbewältigung im Vordergrund.119

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Aktuelle Vertreter:innen der Stressbelastungstheorie sind um Vermeidung der thematischen Fokussierung auf die Eigentumskriminalität der Unterschicht und um Präzisierung der theoretischen Annahmen bemüht. Dem Umstand, dass viele Stressbelastete sich konform verhalten, trägt Robert Agnew (* 1953) in seiner viel beachteten Version des Belastungskonzepts differenziert Rechnung. Danach führt Stress eher zu kriminellem Verhalten, wenn dieser als ungerecht empfunden wird und Empörung auslöst, ferner wenn der Stress so stark sei, dass er nicht mehr beherrscht werde, schließlich wenn Stress unter Bedingungen niedriger sozialer Kontrolle erlitten werde.120 Vorhandene oder antizipierte Belastungsquellen werden differenziert bestimmt: Die subjektive Unerreichbarkeit positiv bewerteter Ziele (soziales Ansehen, Vermögen), der Verlust positiv bewerteter Anreize (Tod einer nahestehenden Person, Verlassen oder Entlassen werden) und das Vorhandensein negativer Anreize (bildungsferne Umgebung). Diese drei Belastungsquellen werden nach dem Konzept von Agnew durch konditionierende Umstände ergänzt, die entweder kriminelle Aktivität befördern (geringe Selbstkontrolle, Zusammensein mit delinquenten Personen, Übernahme antisozialer Werthaltungen) oder hemmen (individuelle [127] Stressbewältigungsstrategien, konforme soziale Beziehungen und Unterstützung, Furcht vor Strafe).121

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Kritisch lässt sich anmerken, dass Stress ein doch recht unspezifisches Phänomen mit Randunschärfen ist, welches sich ganz allgemein nur subjektiv bestimmen lässt. Kaum eine Situation ist für sich genommen stressig, entscheidend für die Stressbildung ist vielmehr die subjektive Befähigung zur Situationsbewältigung mit spezifischen persönlichen Ressourcen. Da diese subjektive Befähigung kaum je vor Begehung einer Straftat überprüft wird, besteht trotz des Bemühens von Agnew um Präzisierung des Zusammenhanges von Stress und Kriminalität die Gefahr, jede Straftat retrospektiv als stressbedingt zu interpretieren. Damit würde sich das Stresskonzept zu einer unergiebigen Pauschalerklärung jeglichen kriminellen Verhaltens verflüchtigen.122

IV. Konflikttheoretische Ansätze

31 Zentral für konflikttheoretische Ansätze in der Kriminologie ist die Vorstellung, dass Gesellschaften maßgeblich durch Konflikte geprägt sind und dass es einen Zusammenhang gibt zwischen diesen Konflikten und Kriminalität.123 Dieser Zusammenhang lässt sich einmal ätiologisch verstehen, insbesondere in frühen Ansätzen wird eine Beziehung zwischen gesellschaftlichen Konflikten und der Entstehung von Kriminalität betont; er kann aber auch im Hinblick auf Kriminalisierung gewendet werden.

32 Die von Thorsten Sellin (1896-1994) entwickelte Kulturkonflikttheorie (culture conflict)124 als ätiologische Perspektive setzt bei der Feststellung an, dass soziale Normen und insbesondere Strafgesetze Ausdruck der in einer Gesellschaft dominierenden Kultur und ihrer Werte sind. Widersprüche entstehen dabei, wenn unterschiedliche Verhaltensnormen miteinander kollidieren. Solche Widersprüche treten nach Sellin in Form des primären Kulturkonflikts zwischen verschiedenen Kulturen auf, erstens an den Grenzen zwischen von unterschiedlichen Kulturen bewohnten Gebieten, zweitens bei der Kolonisation, also der Anwendung des Rechts einer Kultur auf das Gebiet einer anderen und drittens bei der Migration von Mitgliedern einer Kultur in das Gebiet einer anderen [128] (→ § 23 Rn 60 ff.). Möglich sind aber auch sekundäre Kulturkonflikte innerhalb einer Kultur, die sich durch fortschreitende Subkulturbildung und Pluralisierung von Lebensformen aufgliedert und in der sich unterschiedliche Verhaltensnormen herausbilden.125

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Obwohl die Thematisierung von differierenden Norm- und Wertvorstellungen innerhalb einer Gesellschaft wichtige Aspekte der Entstehung abweichenden Verhaltens anspricht, lässt der Ansatz viele Fragen offen. So bestehen hinsichtlich zahlreicher grundlegender Wertvorstellungen zwischen den verschiedenen Kulturen schon keine maßgeblichen Differenzen, da zumindest der Kern strafbaren Unrechts kulturübergreifend festzustellen ist.126 Verhaltensweisen, die sich auf kulturelle Unterschiede zurückführen lassen, wie etwa die Genitalverstümmelung, sind gemessen an der Gesamtkriminalität selten. Zum anderen weisen die heutigen westlichen Gesellschaften selbst ein recht ausdifferenziertes Norm- und Wertesystem auf, sodass es bereits innerhalb dieser zu Kulturkonflikten kommen kann. Darüber hinaus bleibt offen, wie, in welchem Ausmaß und warum Kulturkonflikte tatsächlich zu abweichendem Verhalten führen – dessen Definition der Mehrheitsgesellschaft vorbehalten bleibt. Empirisch betrachtet gilt auch für Personen mit Zuwanderungsgeschichte, dass nur eine kleine Minderheit strafrechtlich erfasst wird.

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Konflikttheoretische Ansätze lassen sich sodann auch für das Feld der Kriminalisierung fruchtbar machen und zwar sowohl bezüglich Gesetzgebungsprozessen (→ § 21 Rn 3 ff.) wie auch konkreter Kriminalisierungsvorgänge (→ § 19 Rn 2 ff.). Dieses Verständnis versteht wie der labeling approach (→ § 13 Rn 7 ff.) Kriminalität als soziale Konstruktion und nicht als etwas objektiv Gegebenes. Kriminalität wird danach erst in Zuschreibungsprozessen durch die Definition von strafwürdigem Verhalten durch die Gesetzgebung und die Anwendung dieser Definitionen auf menschliche Handlungen erzeugt.127 Diese Definitionsprozesse verlaufen nicht gleichmäßig, sondern selektiv, weshalb konflikttheoretische Ansätze an dieser Stelle gesellschaftliche Machtverhältnisse einbeziehen und die Aushandlungsmacht der an den Prozessen jeweils beteiligten Akteur:innen in den Blick nehmen.128

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[129] Dies gilt einerseits für die Entstehung von Strafgesetzen, die als Auseinandersetzung gesellschaftlicher Gruppen verstanden wird, die jeweils ihre Interessen verfolgen. Je größer die politische und wirtschaftliche Macht einer Gruppe, desto höher ist danach ihr Potenzial, ihren Interessen im Gesetzgebungsvorgang zur Durchsetzung zur verhelfen.129 Andererseits zeige sich ein solcher Einfluss von politischer und wirtschaftlicher Macht aber auch auf der Ebene konkreter Kriminalisierungsprozesse. Je größer die Macht der Betroffenen ist, desto schwieriger und aufwendiger ist die Bearbeitung durch die Strafverfolgungsbehörden (→ § 19 Rn 10 f.). Als bürokratisch organisierte Behörden tendierten diese zur Bearbeitung von einfachen, wenig ressourcenintensiven Fällen und weniger zu solchen von Betroffenen mit großem politischem und wirtschaftlichem Einfluss.130

V. Feministische und intersektionale Perspektiven

Lektüreempfehlung: Carrington, Kerry (2018): Feminist Criminologies. In: Carlen, Pat; França, Leandro Ayres (Hrsg.): Alternative Criminologies. Abingdon/New York, 110-124; Heidensohn, Frances; Silvestri, Marisa (2012): Gender and crime. In: Maguire, Mike; Morgan, Rod; Reiner, Robert (Hrsg.): The Oxford Handbook of Criminology. 5. Aufl., Oxford, 336-369; Micus-Loos, Christiane (2018): Geschlecht und Kriminalität. In: Hermann, Dieter; Pöge, Andreas (Hrsg.): Kriminalsoziologie. Baden-Baden, 219-232; Potter, Hillary (2013): Intersectional Criminology: Interrogating Identity and Power in Criminological Research and Theory. Crit Crim 21, 305-318.

 

Nützliche Webseiten: http://www.justiceforwomen.org.uk; http://www.fawcettsociety.org.uk.

36 Gesellschaften sind anhand von Identitätsmerkmalen (z. B. gender, race, class usw.) strukturiert. Dem symbolischen Interaktionismus folgend (→ § 13 Rn 1 ff.), bilden sich diese Merkmale in gesellschaftlicher Alltagsverständigung. Bei ihnen handelt es sich also nicht um ein naturhaft Gegebenes, sondern um eine soziale Konstruktion, deren Inhalt variabel ist und an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich ausfällt. Die soziale Konstruiertheit dieser Merkmale heißt nicht, dass sie keine Wirksamkeit hätten. Gesellschaftliche Macht, Chancen und Anerkennung hängen in allen Bereichen des sozialen Zusammenlebens maßgeblich von diesen Identitätsmerkmalen ab. Es liegt deshalb nahe, sie auch bei der Untersuchung von Kriminalität, Kriminalisierung und Viktimisierung zu berücksichtigen.131

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[130] Das erste Merkmal, das in kriminologischer Forschung Beachtung fand, ist das Geschlecht, bei dem zwei unterschiedliche Aspekte differenziert werden müssen. Das soziale Geschlecht (gender) bezeichnet im Unterschied zum biologischen Geschlecht (sex) die Gesamtheit der Merkmale, welche in einer Kultur für Frau bzw. Mann oder nicht-binäre Formen als typisch angesehen werden. Die jeweiligen Inhalte des sozialen Bildes von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ werden durch gesellschaftliche Bedingungen wie die geschlechtsspezifischen Aufteilungen von Arbeit und Macht geformt und drücken die gesellschaftlichen Machtstrukturen zwischen Mann und Frau aus. Männer stellen in Übereinstimmung mit ihrer überhöhten sozialen Stellung bestimmte Bilder von Männlichkeit her, die dominant werden und ihren Zugang zu Macht und Ressourcen erhalten. 132

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Feministische Ansätze in der Kriminologie sind eine spezifische Ausprägung des sozialwissenschaftlichen Feminismus133, der die gesellschaftliche Unterdrückung der Frau und geschlechtsspezifische Rollenzuschreibungen thematisiert und darauf zielt, diese Unterdrückung abzubauen und die Geschlechterrollen zu öffnen. Dabei geht es nicht nur um die soziale Stellung und Emanzipation der Frau, sondern um die damit verbundene Struktur gesellschaftlicher Machtausübung, die als patriarchalisch, aber auch als ethnozentrisch und klassenspezifisch analysiert wird (→ § 9 Rn 46 f.). Das gesellschaftliche Bild der Frau spiegelt asymmetrische Machtbeziehungen, die unter anderem Kriminalisierungsprozesse steuern. Die sozialen Praktiken und Diskurse, welche die Konfiguration des Weiblichen entwerfen, haben dabei eine doppelte Normalisierungsfunktion: Sie lösen Anpassungserwartungen an die gesellschaftlich dominanten Rollenbilder aus und stellen zugleich die damit verbundene Verteilung sozialer Macht als normal dar.

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Die feministische Perspektive hat das Verständnis der Kriminologie entscheidend verändert. Lange Zeit zeichnete sich die Kriminologie durch die Unsichtbarkeit von Frauen aus, sie war von Männern verfasst und mit Männern befasst. Sie behandelte entweder ausschließlich männliche Delinquenz oder entwickelte aus und an männlichem Verhalten vermeintlich genderneutrale Theorien, deren Übertragbarkeit auf Frauen stillschweigend unterstellt wurde. Wenn weibliche Kriminalität thematisiert wurde, dann als ein durch das biologische Geschlecht bestimmtes Studienobjekt, das durch in anderen Kontexten entwickelte Theorieannahmen [131] zu erklären ist134 und nicht selten war die Erörterung von stereotypen Vorstellungen über „die“ Frauen geprägt.135 Die feministische Perspektive entwickelt stattdessen Ansätze, die gender-bezogene gesellschaftliche Rollenbilder und die damit verbundenen Machtstrukturen in den Blick nimmt. Im Zuge dessen befasst sie sich mit der ungleichen Verteilung von Kriminalität zwischen den Geschlechtern (gender ratio problem), der Frage der Übertragbarkeit von am männlichen Verhalten entwickelten Theorieannahmen (generalizability problem)136 und spezifischen Formen der Viktimisierung durch männliche Gewalt und Unterdrückung, etwa in Form häuslicher Gewalt.

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Nach allen quantitativen Kriminalitätsdaten ist die registrierte Kriminalität überwiegend Männersache. Personen weiblichen Geschlechts werden deutlich seltener strafrechtlich erfasst, verurteilt und dem Strafvollzug unterworfen. So machen Frauen nur rund ein Viertel der polizeilich ermittelten Tatverdächtigen aus; nur etwa ein Zwanzigstel der Strafgefangenen in Deutschland sind Frauen. Dunkelfelduntersuchungen legen nahe, dass sich die Unterrepräsentation von Frauen bei der selbstberichteten Delinquenz (→ § 17 Rn 19) zwar reduziert, in abgeschwächter Form jedoch bestehen bleibt.137 Die strafrechtliche Verfolgung von Frauen bezieht sich überwiegend und nahezu auf dem Niveau der Männer auf Massendelikte wie Schwarzfahren, Ladendiebstahl, Steuerbetrug und Alkohol am Steuer. Als Tatverdächtige von Gewaltdelikten werden sie höchst selten registriert.

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Zur Erklärung dessen wurden und werden die jeweils zeitgerecht erscheinenden allgemeinen Kriminalitäts- und Kriminalisierungstheorien herangezogen.138 Biologische und anthropologische Erklärungsversuche bemühten eine angebliche körperliche Schwäche und psychische Passivität der Frau und bringen die weibliche Kriminalität mit psychischen Ausnahmezuständen während Menstruation, Schwangerschaft und Klimakterium in Zusammenhang. Sozialisationsorientierte Erklärungen verweisen auf geschlechtsspezifische Erziehungsstile und die kulturelle Einweisung in spezifisch weibliche Rollen, sozialstrukturelle Deutungen auf die primär innerhalb der Familie angesiedelte gesellschaftliche Stellung der Frau. Diese Stellung biete weniger Tatgelegenheiten [132] und -anreize, schütze besser vor Entdeckung und Verfolgung und gebe zu einer nachsichtigeren Reaktion Anlass.139 Solchen Deutungen ist gemeinsam, dass sie Erklärungsmodelle, die primär aufgrund von männlich assoziiertem Verhalten entwickelt wurden, auf das Verhalten von Frauen übertragen und geschlechtsspezifische Unterschiede aus (vermeintlichen) weiblichen Eigenarten ableiten. Auch für die Viktimisierung von Frauen wird deren „Schwäche“ verantwortlich gemacht. Während Kriminolog:innen früher davon ausgingen, dass Frauen aufgrund ihrer sozial geschützteren Position einem geringeren Viktimisierungsrisiko unterliegen würden140, nimmt man heute eher an, dass Frauen aufgrund ihrer zumeist körperlichen Unterlegenheit kaum seltener als Männer Opfer von Straftaten, speziell von (auch nicht sexuell motivierten) Gewaltdelikten, werden.

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Erklärungen geschlechtsspezifisch unterschiedlicher Kriminalitäts- und Viktimisierungsraten aus der Eigenart des „schwachen“ Geschlechts und seiner ihm zugewiesenen sozialen Rolle sind aus feministischer Perspektive nicht nur unzureichend, sondern verfremdend. Der Erklärungsrahmen der malestream criminology, die durch die herrschenden männlichen Lebenserfahrungen und Wertmaßstäbe geprägt sei, behandele das Weibliche und seine gesellschaftliche Stellung als eine entpolitisierte, gleichsam naturgesetzlich vorfindbare Gegebenheit und konserviere so das Klischee der Schwäche der Frau.141 Damit würden die gesellschaftlichen Strukturen reproduziert, die Frauen eine untergeordnete Rolle zuweisen und ihnen vorzugsweise „weiche“ Kontrollmechanismen der Selbstdisziplinierung bis hin zur Flucht in psychiatrische Auffälligkeiten oktroyieren.

„Dieses Problem betrifft auch die Untersuchungen über ‚Frauenkriminalität‘, in denen versucht wird, eine spezifisch weibliche Erfahrung nachzuzeichnen und eine weibliche Lebenswelt in den Vordergrund zu stellen. Die Folge davon ist ein geschlechtlicher Essentialismus, der letztendlich zu einer erneuten Konstitution und Festlegung des Weiblichen führt.“142

Indem Geschlechterdifferenzen nicht als solche analysiert und kenntlich gemacht würden, werde durch geschlechtsneutrale Verallgemeinerung das asymmetrische Verhältnis der Geschlechter verschleiert und die Dominanz der Männerwelt bestätigt.

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[133] Das Thema „Frauenkriminalität“ ist vor diesem Hintergrund kein spezielles Segment der Gesamtkriminalität (→ § 2 Rn 23, „besondere Kriminalitätserscheinung“), sondern ein Studienfeld, welches sich aus der Perspektive der kriminologischen Geschlechterrollenforschung ergibt. Diese Perspektive bildet die Basis für Erklärungen sowohl des Zustandekommens und der Verläufe von geschlechterrollenbestimmter Kriminalisierung wie des Auftretens sekundärer Devianz durch Übernahme des sozialen Geschlechterrollenbildes. Das Geschlechterrollenthema ist damit, ähnlich wie dasjenige der sozialen Interaktion, sowohl zur Erklärung der Kriminalisierung wie der Kriminalität von Bedeutung. Feministische Kriminologie befasst sich im Zuge dessen etwa mit genderbezogenen Aspekten bei Migration und Menschenhandel143, aber auch mit der frauendegradierenden Konstruktion juristischer Kategorien wie Abtreibung, Pornographie, Prostitution, Vergewaltigung und Gewalt gegen Frauen144, mit patriarchalen Strukturen im Kriminaljustizsystem145 und der alternativen Bewältigung von Kriminalitätskonflikten etwa in Frauenhäusern und Selbsthilfegruppen146. Aber auch kriminelles Verhalten von Männern ist Gegenstand dieses Forschungsfeldes147, wird es doch beeinflusst von ihrer gesellschaftlichen Position, den Ressourcen, auf die sie zurückgreifen können und den gesellschaftlichen Rollenerwartungen an Maskulinität148. Diese Forschung bezieht sich etwa auf das in sozialen Interaktionen erzeugte Männlichkeitsbild und seine Übernahme ins Selbstbild junger Männer. Die wissenschaftliche Reinterpretation des Männlichkeitsverständnisses ist ein Anwendungsfeld des interpretativen Paradigmas (→ § 13 Rn 1 ff.) und ein exemplarisches Beispiel für die verstehende Sozialforschung (→ § 2 Rn 11 f..).

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Neben sozialer Abweichung sind die strukturellen Bedingungen der sehr hohen weiblichen Konformität für die Genderforschung von Interesse.149 Die Vermutung liegt nahe, dass diese Bedingungen für Konformität und Abweichung ähnlich, ja partiell identisch sind. Der Vergleich in der feministischen Literatur zwischen Ehe, Haushalt und Frauengefängnis verweist in plakativer Übertreibung auf den Befund, dass Häuslichkeit und soziale Kontrolle von Männern und Frauen typischerweise verschieden wahrgenommen werden: Während für Männer die soziale Kontrolle außerhalb des den privaten Freiraum verkörpernden [134] Häuslichen stattfinde, sei für Frauen der Haushalt ein Ort beständiger Verpflichtungen, deren Missachtung zu Selbstbestrafungen mit Neurosen und Depressionen und zu informellen oder formellen Reaktionen führe.150 Zusätzlich zu den Erwartungen und Kontrollen, denen Frauen im „privatisierten“ Bereich des Haushalts unterliegen, ist der Bereich des Öffentlichen für Frauen weniger „offen“ als für Männer. Das Eintrittsgeld für die Berufstätigkeit von Frauen besteht üblicherweise in der Doppelbelastung mit Haushalt und Beruf. Weibliche Arbeit ist schlechter bezahlt und die Kontrolle des öffentlichen Auftretens ist bei Frauen rigider als bei Männern. Befürchtungen, durch „provokantes“ Auftreten zu Belästigungen Anlass zu geben, den „guten Ruf “ zu gefährden oder einfach „aus der Rolle zu fallen“, bewirken für Frauen einen besonderen Konformitätsdruck.

 

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Kriminalpolitisch hielt der Feminismus lange Zeit Distanz zum Strafrecht, dessen Disziplinierungstechniken einer „männlichen Logik“ zugerechnet werden und dessen Täter-Tat-Orientierung den strukturellen Bedingungen weiblicher Unterdrückung und den konkreten Opferinteressen nur begrenzt Rechnung tragen könne. Damit verbunden ist die Einschätzung, dass das Strafrecht – welches formale Gleichbehandlung und die Wiederherstellung des Rechtsfriedens verheiße – in seinen verallgemeinernden Verklausulierungen jene öffentliche Moral zementiere, die die gesellschaftliche Unterordnung der Frau festschreibe. Stattdessen wurde und wird auf Maßnahmen konkreter Opferhilfe und auf alternative, die Verletzbarkeit und das Verletzlichkeitsgefühl durch Selbsthilfe abbauende Präventionsmaßnahmen gesetzt.151 Seit einiger Zeit wird das Strafrecht von Teilen des Feminismus aber durchaus auch als ein Instrument angesehen, das zum Schutz von Frauen insbesondere vor männlicher Gewalt und Unterdrückung dienen könne. Aus dieser Perspektive werden daher entsprechende inhaltliche Änderungen des als männlich geprägt verstandenen Strafrechts forciert, vor allem in Form von Ausweitungen und Strafschärfungen im Sexualstrafrecht.

46 Schon früh haben feministische Forschende darauf hingewiesen, dass neben dem (sozialen) Geschlecht auch andere Identitätsmerkmale für die Analyse von Kriminalität und Kriminalisierung eine Rolle spielen. Insbesondere haben Wissenschaftler:innen of color herausgearbeitet, dass nicht alle Frauen die gleichen (Diskriminierungs-)Erfahrungen machen und dass diese neben dem Geschlecht [135] auch durch Kategorien wie race oder Klasse beeinflusst werden.152 Diese Verwobenheit verschiedener Identitätsmerkmale und ihr Zusammenspiel in Diskriminierungen wird als Intersektionalität bezeichnet.153 So zeigt sich etwa beim Thema Anzeigeerstattung auf der Ebene der Gesamtbevölkerung eine überwiegende Zufriedenheit mit der Arbeit der Polizei.154 Verborgen bleibt bei einer solchen Betrachtung, dass marginalisierte Gruppen im Kontakt mit der Polizei andere Erfahrungen machen. Mitunter erleben sie bei Sicherheitsbehörden, bei denen sie Schutz suchen, sogar erneut Gewalt und Kriminalisierung.155 Internationale Arbeiten konnten Unterschiede in der Behandlung weißer und schwarzer Frauen in Festnahmesituationen156 oder die höhere Wahrscheinlichkeit von jungen Männern of color zeigen, Opfer von racial profiling zu werden.157

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Intersektionale Perspektiven lassen sich somit auch in der Kriminologie gewinnbringend nutzen, um einen essenzialisierenden Blick auf „die Frauen“ zu vermeiden und Erfahrungen von marginalisierten Gruppen zu verstehen und sichtbar zu machen.158 Auch wenn diese Ansätze für sich genommen keinen hinreichenden Erklärungsansatz für kriminelles Verhalten bilden mögen, können sie doch das Verständnis von Kriminalität und Kriminalisierung entscheidend voranbringen. Zum einen erweitern sie das ätiologische Verständnis außerhalb der Gruppe weißer Jugendlicher und Männer. Zum anderen kann eine solche Perspektive im Bereich der Kriminalisierung helfen, Interaktionsgeschehen zwischen Bürger:innen untereinander wie auch zwischen Bürger:innen und Sicherheitsbehörden besser zu verstehen.

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