Ein Stück vom Himmel

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Hermann Buhl hatte ich im Krieg kennengelernt. Nach der Monte-Cassino-Schlacht im Jahre 1944 kamen wir Hochgebirgsjäger in die Meeralpen, weil auch an der Riviera eine Landung der Amerikaner erwartet wurde. Auf 2600 Meter bezogen wir Stellung. Eines Tages hörte ich, dass es unten auf unserem Stützpunkt in Terme di Valdieri (ein berühmtes oberitalienisches Thermalbad) einen Sanitäter gäbe, der ebenfalls so ein verrückter Bergnarr wie ich sei.

Ich fragte den Oberarzt nach dem kletternden Sanitäter. »Wenn der als Kletterer auch so lausig ist wie als Sanitäter, dann müsste er schon längst abgestürzt sein!«, sagte er.

Hermann und ich sind sofort zur Sache gekommen: Wir sind zu einem der Granitblöcke bei dem Heilbad klettern gegangen und hetzten uns gegenseitig in immer schwierigere Wandstellen hinein. Nur vor einer haben wir kapituliert: Wir wollten nicht, dass einer von uns an dem sauschweren Wandl stürzt, sich verletzt und dann wegen Selbstverstümmelung vor ein Kriegsgericht gestellt wird. So streng waren nämlich damals die Bräuche.

Wenn er den Krieg überlebte – so sagte Hermann damals –, wollte er gerne einmal etwas ganz Großes in den Bergen machen. Jeder von uns hatte damals seine Wunschträume und keiner wusste, ob er den Krieg überleben wird.

Im Karwendel hatte ich 1946 und 1947 die ersten Frieden-Bergsommer nach dem Krieg erlebt. 1946 waren wir noch die einzigen Übernachtungsgäste in der Falkenhütte.

Wenn es regnete, stiegen wir zur Ladizalm ab. Das war unser Schlaraffenland – dort gab es Milch, Butter und Käse. Wir erzählten den Hirten vom Leben im zerstörten Wien, sie erzählten uns Geschichten aus ihrer (wie es uns schien) heil gebliebenen paradiesischen Welt.

1947 waren wir nicht mehr die einzigen Übernachtungsgäste. Vor dem Schlafengehen ging ich jeden Abend vor die Hütte und schaute hinauf zur Lalidererwand, in der wir vor einem Jahr um unser Leben gekämpft und ein ganz wundersames Erlebnis gehabt hatten.

Plötzlich hörten wir Stimmen in der Wand, eine helle Stimme war zu hören und eine dunkle. Wir waren aber an diesem Tag die einzigen Menschen in der Hütte.

Bald kamen die Stimmen von unten, dann wiederum von oben. Irgendwie war es unheimlich. Obwohl wir wussten, dass es keine Berggeister waren, sondern Menschen, die irgendwo redeten und deren Stimmen von den Lüften in die Wand getragen wurden. Trotzdem war es unheimlich.

Die Lalidererwand war für mich keine Wand wie jede andere. Zweimal hatte ich mich in ihr weitab von allen anderen Menschen gefühlt. Als einsame Wand wollte ich sie in Erinnerung behalten. Seit ich 1947 am letzten Abend vor unserer Heimfahrt vor der Hüttentür zu der Lalidererwand hinaufgeschaut hatte, bin ich nie wieder ins Karwendel gefahren.

ANDERE LEUTE

Der Schwanda ist der Schwanda!

Hans Schwanda (1904–1983) war mein alpiner Lehrmeister, mein Kletterpartner, mein Freund. »Die größte Kunst beim Bergsteigen ist, dass man auch alt wird dabei!«, hatte er uns Jungen immer wieder gesagt. In seiner Zeit war das Bergsteigen noch wesentlich gefährlicher, als es heute ist.

Als Freikletterer war Schwanda der Star unter den Wiener Bergsteigern. »Maestro« nannte ihn der Erstbegeher der Großen-Zinne-Nordwand, Emilio Comici. Schwanda hatte viele der höchsten Alpenberge erstiegen und schwierigste Felswände durchstiegen, war auch auf den Bergen Afrikas und Asiens unterwegs, hatte Erstbegehungen und Ski-Erstbefahrungen gemacht, Bergbücher geschrieben – hatte das Bergsteigen als etwas Herrliches, aber doch nur als eine Nebensache in seinem Leben gesehen. »Weil i muss ja net auf die Berg aufi. Könnt ja auch was anderes machen!« Schwanda war ein Original. »Der Schwanda ist der Schwanda!«, sagten alle, die ihn kannten.

Wie war der Schwanda?

Schwanda war ein echtes Wiener Kind ... bei ihm musste alles »mit leichter Hand gehen« (was aus dem Wienerischen übersetzt etwa »ohne Mühe« bedeutet). »Wenn’s leicht geht!«, sagte er bei allem, bevor er es anpackte.

Mit leichter Hand wurde er auch nach dem Besuch des Konservatoriums ein bekannter Gitarresolist, der mit einem klassischen Programm in vielen Städten gastierte und in den Schutzhütten, kaum dass er sie betreten hatte, eine Gitarre in die Hand gedrückt bekam.

Mit der Gitarre zog er einmal durch Norwegen und Schweden bis hinauf zum Nordkap, spielte da und dort und verdiente sich so das Reisegeld.

In einer Stadt in Schweden sollte ein russischer Balalaikaspieler auftreten, musste aber plötzlich absagen. Schwanda sprang für ihn ein.

Man setzte ihm eine russische Pelzmütze auf – und er spielte ganz locker auf seiner Gitarre Landler und Walzer und sang: »I bin a Steirerbua und hab a Kernnatur!«

Das Publikum war begeistert.

»Jetzt eröffne ich ein Sporthaus!«, sagte Schwanda eines Tages.

»Mit einem Stemmeisen?«, fragte ich.

»Mach keine blöden Witze! Das Sporthaus Schwanda wird die Sensation von Wien werden!«

Das Sporthaus war zuallererst ein Hofraum im Hause des Österreichischen Touristenklubs. Noch einen Tag vor der Eröffnung konnte man darin vor allem nur leere Regale bewundern. »Das schaut ein bisserl sparsam aus!«, grübelte Schwanda. »Wenn ich wenigstens einige leere Kartons hätte, mit denen ich die Regale füllen könnte!«

»Leere Kartons? Die kannst du von mir haben!«, sagte einer der Freunde. Und schon einige Stunden später wurde ein Auto voll leerer Kartons beim Sporthaus Schwanda abgeladen. Diese verstaute er in die Regale, versah sie mit sauberen Schildchen.

Wenn nun ein Kunde kam und nach einem lilagelbblauen Anorak Größe 99 für seine Braut fragte, erklärte Schwanda voll Eifer, dass er diesen selbstverständlich lagernd habe, kletterte zu irgendeinem der leeren Kartons hinauf, kramte darin ein wenig in der Luft herum und sagte dann: »Leider, leider! Ich sehe gerade, dass die Größe 99 ausverkauft ist! Diese lilagelbblauen Anoraks gehen weg wie die warmen Semmeln! Aber heute Nachmittag kommt schon wieder eine neue Lieferung!« Und wenn der Kunde versprach, am Nachmittag wiederzukommen, setzte sich Schwanda aufs Fahrradl, holte vom Erzeuger schnell einen lilagelbblauen Anorak Größe 99.

Die Wiener Bergsteiger genossen es mit Behagen, den alten Bergvagabunden Schwanda hinter einer Verkaufsbudel zu sehen. Und sehr oft läutete auch das Telefon ...

»Sagen Sie, Herr Schwanda, wie kommt man am besten in Ihr Sportgeschäft?«

»Da muss ich wissen, wo Sie sind!«

»Natürlich in der Irrenanstalt Steinhof. Ein normaler Mensch geht doch nicht zu Ihnen einkaufen!«

Schwanda wurde am Telefon gefragt, ob er schon den neuen Eispickel mit dem eingebauten Plattenspieler lagernd habe, ob es wahr sei, dass er endlich den sich selbst tragenden Rucksack erfunden hätte ...

Und dann rief einmal ein Mann an, der ein bisserl unklar redete. Worauf Schwanda ins Telefon brüllte: »Du deppeter Bua, rutsch mir den Buckel runter!«

Dieser Mann war aber tatsächlich ein Kunde, der nur eine Auskunft wollte!

Auch sein Sportgeschäft hatte Schwanda mit leichter Hand gegründet. In dieser Zeit entstanden auch noch andere neue Sportgeschäfte und das Wort Expandieren beherrschte die Geschäftswelt. Schwanda wollte klein bleiben ...

»Ich möcht doch auch mit jedem Kunden reden können!« (Viele von den damals schnell groß gewordenen Sportgeschäften haben bald Pleite gemacht, das kleine Sporthaus Schwanda gibt es als Familienbetrieb heute noch.)

In aller Stille hatte Schwanda sein Geschäft eröffnet, er wollte kein großes Trara. Aber einige Tage später erlebte er eine Überraschung.

Mit einer Marschskizze zum Sporthaus Schwanda wollte er den Wienern das Aufsuchen erleichtern ... Vom Stephansplatz aus, vom Schwedenplatz und vom Luegerplatz.

»Machen wir dem Schwanda a Freud. Markieren wir die Zustiege zu seinem Geschäft!« Der Freundeskreis um Schwanda war – so wie er – für eine Gaudi immer zu haben, und so waren wir etwa zwanzig Mann, die in finsterer Nacht an die Auslagen der vornehmen Stadtgeschäfte bunte Richtungspfeile mit der Aufschrift »Zum Sporthaus Schwanda« anbrachten. Sogar auf das hohe Denkmal vom alten Bürgermeister Karl Lueger am Luegerplatz sind wir (mit menschlichem Steigbaum) hinaufgeklettert und hatten ihm eine große Tafel umgehängt mit der Aufschrift: »Wiener! Kauft bei Schwanda!«

Als Schwanda am nächsten Morgen zu seinem Geschäft kam, wartete schon die Polizei auf ihn. Ob er nicht wisse, dass solche Werbemethoden verboten sind?

Schwanda sagte den Beamten, dass er an dieser Aktion unschuldig wie ein neugeborenes Lamm sei.

Ob er wisse, wer dahintersteckt? Er wusste es nicht.

Ob er Feinde habe?

»Ich habe nur liebe, gute Freunde!«, sagte Schwanda.

1958 führte Schwanda eine Bergsteiger-Expedition in den Kaukasus – es war die erste nach dem Zweiten Weltkrieg. (Skeptiker sagten damals, dass das Endziel der Expedition wahrscheinlich Sibirien sein werde!) Aber sie wurde – wie der Teilnehmer Erich Vanis berichtet – »nicht nur bergsteigerisch ein voller Erfolg, sondern vor allem auch in menschlicher Hinsicht. Hier harmonierte sowohl die eigene Mannschaft, was bei einer Expedition absolut keine Selbstverständlichkeit ist, als auch das Zusammenleben mit den russischen Gastgebern ganz hervorragend.«

Und dann kam der Abschied. Gastgeber und Gäste wollten noch mehr als nur sagen, dass es schön war, einige Tage miteinander verbracht zu haben. Große Verbrüderung. Und da griff Schwanda nach seinen Abzeichen. Man hatte ihm in Wien erzählt, dass die Russen eine Vorliebe für Abzeichen, Medaillen und Orden hätten. Also hatte er sich aus der untersten Lade seines Vereins einige uralte Vereinsabzeichen aus dem Jahre anno Sauerkraut mitgenommen ... »Wer weiß, vielleicht können wir mit dem Glumpert dort jemandem eine Freud machen!«

 

Bei dieser Abschiedsfeier ließ Schwanda dann spontan alle Russen antreten und heftete ihnen mit Blick ins Auge und festem Handschlag diese alten Vereinsabzeichen als »höchsten österreichischen Bergsteigerorden« persönlich an die Brust!

Die Russen waren begeistert.

Doch einmal hätte ich meinen lieben guten Freund Schwanda am liebsten auf Putzfetzen zerrissen ...

Das war 1965 auf der Insel Korsika. Damals gab es dort noch wenig Fremdenverkehr. Auf den schmalen, kurvenreichen Straßen im Gebirge begegneten wir jedenfalls mehr Schafherden als Autos. Für die Hirten, welche eine Gasse zwischen den Viechern freimachten, waren unsere zwei Autos hintereinander noch eine Sensation.

In diesem Hinterwinkel-Bergland gab Schwandas Auto plötzlich den Geist auf. Kein Benzin, kein Tröpferl Benzin im Tank.

Unser Fritz im anderen Auto hatte an diesem Morgen noch getankt. Aber wie kriegt man Benzin von einem Auto ins andere?

»Ich hab ein Wasserschläuchl im Rucksack«, sagte Hansl.

Ein dünnes Gummischläuchl hatten damals viele Bergsteiger im Rucksack. Damit konnten sie auch unter Felsbrocken oder hohem Gras dahinfließende Wasserrinnsale erreichen und daraus trinken. Doch manche tragen es jahrelang mit sich herum, ohne es auch nur einmal wirklich zu gebrauchen. Hansl war glücklich, dass er sein Wasserschläuchl endlich einmal verwenden konnte ... wenn auch nur als Benzinschläuchl.

Wie einen Weinheber wollten wir es einsetzen, Benzin aus dem Tank von Fritz saugen und mit einem Trinkbecher in Schwandas Auto gießen. Blieb nur noch die Frage: Wer sollte/wollte das machen?

Wir schauten uns gegenseitig an, sehr lange ...

Bis es mir zu blöd wurde. Ich wollte endlich wieder weiterfahren, weiterfahren zu den Felstürmen der Bavellagruppe.

Es wurde eine Katastrophe. In meiner Ungeduld hatte ich zu heftig an dem Schläuchl gezuzlt und sofort das Maul voll Benzin. Noch einige Male passierte mir das und zuletzt hatte ich halb betäubt von dem Benzindampf das Gefühl, die ganze Welt rieche nur nach Benzin.


Der Bergsteigerschüler Karl Lukan am Ende seines ersten Kletterjahres 1940


»Wilde Gesellen« von anno dazumal. Rechts Lois Höferstock, der Seilpartner in der Lalidererwand, daneben Leo Kozel


Hansl Hausner und Karl Lukan nach ihrer Erstbegehung der Kleinen Schneeklammkopf-Südwestwand


Nach der vierten Begehung der »Fox/Stenico« in der Südostwand der Cima d’Ambiez (Brentagruppe) – kein Klettergurt, kein Steinschlaghelm, sondern nur ein Pullmankappl. Dabei glaubten wir, mit der allerbesten Ausrüstung unterwegs zu sein.

Obwohl ich immer wieder den Mund mit Wasser ausspülte, schmeckte auch jeder Schluck Wasser, den ich trank, nach Benzin und jedes Stück Brot, Käse ... alles!

Eine Zigarette anzünden wagte ich gar nicht, weil ich fürchtete, dabei zu explodieren.

Der nächste Ort mit einer Tankstelle war Porto. Wenn wir viel Glück hätten – so hatte Fritz ausgetüftelt –, könnten wir mit den letzten Benzintröpferln die Tankstelle erreichen. Aber anhalten durften wir auf dieser Fahrt nicht, denn jeder Neustart kostet zusätzlich Benzin.

So fuhren wir durch eine der schönsten Landschaften Korsikas und – so jammerten die Fotografen – an so vielen Fotomotiven vorbei, die nicht aufzunehmen schon eine Sünde ist ...

andererseits kamen wir jedes Mal in Jubelstimmung, wenn ein Kilometerstein zeigte, dass wir der rettenden Tankstelle wieder ein Stückerl nähergekommen waren. Benzin beherrschte unser Hirn und Gemüt.

Und da war sie dann – die Tankstelle. Ich seh sie heute noch vor mir: eine Zapfsäule noch aus der Steinzeit der Mobilisierung, daneben zum Verkauf Benzinkanister in allen Größen. Fritz wollte sofort einen kaufen ...

»Den brauch i net!«, sagte Schwanda. »Im Kofferraum hab i sowieso einen Reservekanister drin!«

Das konnte doch nicht wahr sein!

»Du hast einen Kanister Benzin im Kofferraum? Warum hast du das nicht gesagt?«

»Weil der nur für den Notfall bestimmt ist!«, raunzte Schwanda.

Hansl mit dem Hausner-Schmäh

Mit dem Hausner Hansl habe ich in einem Hochgebirgsjäger-Bataillon den Zweiten Weltkrieg (im Kaukasus und bei Monte Cassino) erlebt und überlebt. Und nach dem Krieg haben wir miteinander viele schwere Wände durchstiegen.

1950 machte ich in einem italienischen Führer eine Entdeckung: Am Monte Agner (2872 m) in der Palagruppe der Dolomiten gibt es eine 1600 Meter hohe und äußerst schwierige Kante. 1932 ist sie erstbegangen worden. Von dieser Riesenkante hatte ich noch nie etwas gehört oder gelesen. Auch guten Kennern der Alpinliteratur (wie Walther Flaig, Hubert Peterka) war sie unbekannt. Watzmann-Ostwand, Triglav-Nordwand und Schermberg-Nordwand (1400 m Wandhöhe) galten als die drei höchsten Wände der Ostalpen. Sie alle drei zu durchsteigen war der Wunschtraum vieler Kletterer.

Als Hans und ich im Sommer 1950 zum Monte Agner fuhren, hatten wir nicht die geringste Ahnung, wie der Berg ausschaut. Unsere Spezln trösteten uns schon im Voraus: »Seid’s net traurig, wenn die Riesenkanten in Wirklichkeit nur ein langer Latschenwurzelgrat ist!«

In dem 1959 erschienenen Dolomiten-Kletterführer von Gunther Langes war dann über den Berg bereits zu lesen: »Kein anderer Gipfel der Dolomiten besitzt einen so kühnen und schlanken Aufbau als gewaltiges Felshorn, das mit seiner Nordwand und Nordkante rund 1600 Meter hoch ungewöhnlich eindrucksvoll über dem Tale steht.« Und die Kante wird als »kühner und großartiger Anstieg, eine der schönsten und gewaltigsten Felsunternehmungen der Dolomiten« genannt. Wir haben die siebente Begehung gemacht, bis dahin ist sie nur von Italienern und Franzosen begangen worden.

Als wir damals den Monte Agner mit seiner Kante im frühen Morgenlicht vor uns sahen, konnten wir nicht glauben, dass es einen solchen Berg in Wirklichkeit gibt. Und als wir uns dann am Nachmittag beim Erkunden des besten Zustiegs unterhalb der Kante bewegten, hatten wir das Gefühl, dass sie inzwischen noch höher und noch steiler geworden ist.

Nach dieser Erkundung war ich etwas gedämpft. Nicht die geringste Pfadspur hatten wir gefunden – aber vielen Schlangen waren wir begegnet. Vor diesen hatte ich Angst. Denn das waren keine harmlosen Nattern gewesen, sondern giftige Vipern.

»Ich glaub, es sind nur Kreuzottern. Die sind weniger giftig als Vipern!«, sagte Hansl. Damit wollte er meine Schlangenangst ein bisserl einbremsen.

Wir standen vor unserem Heustadl in Col di Prà unter dem Monte Agner. Über dem Tal lag schon der Schatten, der Gipfel und das obere Stück der Kante waren noch im Sonnenlicht.

Hansl sagte leise: »Dieser Berg muss uns einen Schlangenbiss wert sein!«

Hansl Hausner war ein eher ruhiger, bescheidener Mensch, aber einer, der – paradoxerweise – einen Wiener Schmäh hatte wie kein anderer. »Hausner-Schmäh« wurden in unserem Freundeskreis seine Sprüch’ genannt. Das waren eher trockene, aber sehr treffende Bemerkungen, die alle spontan aus ihm kamen. Außerdem war er bereits im Jahre 1946 ein Pionier der feministisch-korrekten Formulierungen.

Großes Waschen am frühen Morgen beim Brunnen vor dem Prielhaus im Toten Gebirge, Madln und Buam nebeneinander. Einer sagte bewundernd: »Wusch, das sind Körper!«

Hansl: »Und zu die Körperinnen sagst gar nix?«

1955 brauchte man für eine Ersteigung des Olymp (2918 m) noch eine polizeiliche Erlaubnis. Und wenn wir uns nach drei Tagen nicht zurückgemeldet hätten, wäre ein Suchtrupp nach uns losgezogen. Es gab noch Partisanen in den Bergen. Von Litochoron am Meer bis hinauf zum Gipfel gab es damals nur elende steinige Wege. Nachher bestanden unsere Füße nur aus Blasen und taten höllisch weh. Der Polizeichef gratulierte uns zu der Gipfelersteigung und schüttelte jedem kräftig die Hand. »Bei diesem Händedruck habe ich mich mit der anderen Hand am Türpfosten festhalten müssen!«, klagte unser Fritz.

Hansl tröstete ihn: »Dann sei froh, dass er dir nicht die Füße geschüttelt hat!«

An der Preinerwand-Südostkante (Rax) passierte Hansl etwas Saudummes. An der Schlüsselstelle wollte er das Seil mit dem Karabiner in einen Mauerhaken einhängen und rief »Zug!« ... worauf sein Partner Ederl blitzschnell Seilzug gab und sehr erstaunt war, dass darauf der Hansl (ebenfalls blitzschnell) durch die Luft flog.

Das Saudumme war nämlich, dass der Hansl schon um Seilzug rief, bevor er noch seinen Karabiner in den Haken eingehängt hatte! Ederl hatte somit seinen Partner praktisch mit dem Seil vom Überhang herabgerissen!

Hansl hatte Schmerzen im Knöchel. Ederl begleitete ihn ins Spital.

Ederl war moralisch fix und fertig. Er – für den Bergkameradschaft als das Allerhöchste galt – hatte seinen Partner in die Tiefe gerissen! Und obwohl ihm der Hansl immer wieder sagte, dass er selber seinen Sturz verursacht hatte, jammerte Ederl weiter wie eine Bank voll alter Weiber.

Ederl jammerte auch noch im Spital. Der Arzt versuchte ihn zu trösten ... Klettern ist ein gefährlicher Sport. Ederl soll froh sein, dass nicht mehr passiert ist. »So – und jetzt schauen wir uns Ihren Fuß näher an!«

Worauf Hansl still und bescheiden sagte: »Bittschön, Herr Doktor, sind Sie net bös, der Abgestürzte bin ich!«

Sir »Scarpietti«

»Scarpietti« bekam seinen Namen bei unserer ersten Dolomitenfahrt. Keiner von uns sprach Italienisch. Aus dem Wörterbuch suchten wir die Worte, die wir brauchen konnten. »Fieno« (Heu) war ein solches Wort, Heustadln waren unsere Talunterkünfte. Einmal hatte ich »Fieno« mit »Fiume« (= Fluss) verwechselt. Die Bäuerin sah mich nur groß an, als ich sie fragte, ob wir bei ihr im »Fiume« übernachten dürfen.

Unser Ernst Schuster wurde ebenfalls durch einen Irrtum zum »Scarpietti«. »Scarpa« – italienisch Schuh – und ein Schuster – so nahmen wir naiverweise an – ist dann ein »Scarpietti«.

Doch ein Schuster ist ein »Calzolaio«, und als wir auf das draufkamen, hatten wir uns an den »Scarpietti« schon so gewöhnt, dass wir dabei blieben.

Scarpietti war immer und überall ein Sir, der in gewählten Worten sprach und kühl jede Situation beherrschte. Nur einmal ist ihm etwas passiert, was ganz und gar nicht zu ihm passte – eine skurrile Geschichte, bei der es schwerfällt zu glauben, dass sie auch wahr ist. Sie ist es.

Die Überschreitung der Aiguille du Grépon in der Montblanc-Gruppe ist eine der schönsten Urgesteinsklettereien der Alpen ... fester Fels und originelle Kletterstellen. Da ist der Mummery-Riss, über den die Kletterer schon seit den Zeiten der Erstbegehung (die war 1891!) streiten, wie er besser zu derpacken sei ... mit Kraft oder Technik? Und es gibt ein »Kanonenloch« und ein »Fahrradband« (das so breit ist, dass es auch mit einem Fahrrad befahren werden kann).

Schöne Klettereien soll man an schönen Tagen machen. Am Tag, an dem wir zum Grépon aufbrechen wollten, wusste das Wetter selber noch nicht recht, wie es werden sollte. Und wir wussten nicht recht, ob wir losziehen sollten. Nur Scarpietti war optimistisch. Die paar Wölkchen am Himmel werden sich bald verziehen. Wenn es heute einen Wettersturz gibt, dann würde er – so sagte er – seine »neuen Handschuhe verspeisen«.

So viel Optimismus wirkt ansteckend. Scarpiettis neue Handschuhe waren bildschön und warm. Wir zogen los. Stunden später standen wir in der steilen Eisrinne unter den Felsen des Grépon. Die Sonne schien. Fünf Minuten später wirbelten die ersten Schneeflocken durch die Luft, finster wurde es über uns, und ein Schneesturm begann.

Jetzt hätte Scarpietti seine Handschuhe »verspeisen« müssen! Doch bevor wir uns an den Abstieg machten, musste er noch etwas anderes erledigen ... »Liebe Freunde, ich muss zuerst noch austreten.«

 

Wir überließen ihm einen kleinen Felswinkel in der Steilrinne und zogen uns diskret auf die andere Seite der Rinne zurück. Dort warteten wir. Sehr lange. Scarpietti war in dem Schneetreiben nur als schemenhafte Gestalt sichtbar. Plötzlich hörten wir ihn laut schimpfen, sogar das Wort »Scheiße« verwendete unser Sir.

Was war geschehen?

Scarpietti hatte seine Handschuhe ausgezogen und in den Schnee gelegt. Dann verlor er auf dem winzigen Platz etwas die Orientierung und ... schiss auf seine schönen neuen Handschuhe! Auf jene Handschuhe, die er verspeisen wollte, wenn es an diesem Tag einen Wettersturz gibt.

Sir Scarpietti ist wortbrüchig geworden.

Ernst und die Traubenkur

Eigentlich passt der Dr. Ernst Peinel nicht recht zu unserem bunten Haufen. Während wir alle das Bergsteigen recht locker betrieben, nahm es Ernst sehr ernst.

Keiner von uns »stählte seinen Körper, um am Berg zu bestehen«. Nur einmal sah ich Schwanda bei Klimmzügen am Türrahmen. Das war an einem Regentag in einer Schutzhütte, wo als Gaudi eine Klimmzug-Olympiade inszeniert wurde. Schon nach dem zweiten Klimmzug gab er auf ... »I bin ja kein Aff!«

Keiner von uns »führte seinem Körper die fürs Bergsteigen notwendigen Kraftreserven zu«. Als wir an einem schönen Herbstwochenende in den Gosaukamm fuhren, war Ernst mitten in einer Traubenkur zur Entschlackung des Körpers. Das brauchen die Organe, das sollten wir alle auch tun. »I brauch keine Entschlackung, i bin ja kein Hochofen!«, hatte der Hausner Hansl darauf gesagt.

Während wir in der Hütte Wurst und Käse aus unseren Rucksäcken gezogen hatten, saß der Ernst vor einer Proviantdose, die prallgefüllt mit Weintrauben war, und schob eine Beere nach der anderen in den Mund. Weintrauben sind was Gutes ... aber nur Weintrauben? »Magst nicht ein Stückl Wurst?«, fragte ich ihn. Ernst lehnte das Angebot ab. Er wollte nicht seine Entschlackung durch einige Wurstblattl gefährden.

Noch im Morgengrauen zogen wir los. Ernst schleppte so wie immer einen Riesenrucksack. Er wollte immer für alle Notfälle gerüstet sein. Er hatte nicht nur Reserveschuhbänder und Reservemauerhaken mit, mit seiner Notfall-Apotheke hätte ein Arzt wahrscheinlich sogar eine Blinddarm-Operation durchführen können.

Doch sonst war Ernst diesmal nicht so wie immer: Er rannte diesmal nicht voraus in einem Tempo wie ein wilder Stier auf der grünen Weide. Er ging mit uns und war auf dem langen Zustieg sichtlich froh über die kleinen Verschnaufpausen.

Wir wollten an diesem Tag an der Vorderen Kopfwand die Direkte Nordwestkante erklettern. Das ist nach dem Dachsteinführer von Willi End »ein hervorragender luftiger Anstieg in steilem, festem Fels mit herrlichem Tiefblick zum Hinteren Gosausee«. Berühmt ist der Überhang an der Kopfwandkante. Der schaut genauso aus, wie ein zünftiger sauschwerer Überhang auszuschauen hat – ist aber nicht so schwer, weil es gute feste Griffe an ihm gibt. Bei Kletterkursen wird er gerne mit den Besten des Kurses als Krönung gemacht.

Auch beim Klettern war unser Ernst nicht so wie immer. Als Seilzweiter legte er sonst allergrößten Wert darauf, dass das Seil über ihm stets locker blieb. Er wollte kein Mehlsack sein, der über eine Wand hinaufgezogen wird. Diesmal war er mucksmäuschenstill, wenn ich ihm diskret leichten Seilzug gab.

Und dann kamen wir zu dem berühmten Überhang, an dem man weit spreizen muss und zwischen den Beinen auf den Gosausee hinunterschauen kann. Da verließ den Ernst das letzte Patzerl Kraft und er sagte etwas, was vor seiner Entschlackung noch keiner von uns je von ihm gehört hatte: »Bitte, Zug!«

Wenn einem Wiener etwas nicht gutgetan hat, von dem er glaubte, dass es ihm guttun würde, dann sagt er: »Warum hab i die Krot (Kröte) gfressen?«

Warum hatte der Ernst die ganze Woche lang nur Weintrauben gefressen?

Nach der Kopfwandkante bestellte er im Gasthaus ebenfalls ein Gulasch. Doch sein Glaube an die Wunderkraft von Wunderkuren zur Gewinnung von Kraftreserven blieb ungebrochen. Im nächsten Jahr tankte er tropische Kraftsäfte ... So war er, unser Ernst.

Pauli, mach ein Gedicht!

Seinerzeit wurde in den Schutzhütten viel mehr gesungen. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg fanden wir keine rechte Beziehung mehr zu den Texten der alten Bergsteigerlieder ... »und sollt ihr mich zerschmettert finden am Fuß von einer Felsenwand«. Als ich in den Sechzigerjahren in Essen (Ruhrgebiet) einen Vortrag gehalten hatte, holte nachher einer der Jungen eine Gitarre hervor und alle sangen mir dann ihr neuestes und liebstes Bergsteigerliedl vor ...

Franzl, heute gehn wir klettern,

geh nur immer du voran.

I wer schon recht schrein und zetern

wenn i nimmer weiterkann.

Nimm mi ans Seil, nimm mi ans Seil

Franz, i merk scho, die Wand wird mir zu steil!

Und dann jammert sich der Kletterer Strophe um Strophe die Wand hinauf ...

»Franzl, geh ziag (ziehe), Franzl, geh ziag!

Franzl, geh halt mi, i gspür schon, i fliag!«

Doch auf dem Gipfel wird der Kerl wieder frech und munter:

»Gott sei Dank, jetzt sind wir droben.

Doch der Franz ist müd und matt

und er kann den Herrgott loben,

dass er so einen Partner hat!

Gib mir die Hand, gib mir die Hand!

Ohne mi wärst es doch net imstand.«

Im Wilden Kaiser ist dieses Liedl in allen Schutzhütten gesungen worden und es hatte den Essenern so gut gefallen, dass sie sich begeistert sofort den Text abgeschrieben hatten. Sie wollten es nicht glauben, dass dieses Lied vom Gegenteil aller bisher besungenen markigen Berghelden von den Wiener Kletterern schon seit vielen Jahren gesungen wurde. Von Hans Schwanda stammt die Melodie, den Text dichtete Pauli Wertheimer ... Dichtete?

Pauli war ein Naturtalent und wenn ihn irgendwas zum Dichten reizte, dann schüttelte er die Reime einfach nur so aus dem Ärmel. So wie er sein Leben lang auf Berge geklettert ist, so waren auch seine Gedichte – locker. Er brauchte weder eine Muse, die ihn küsste, noch eine stille Klause, um auf eine Inspiration zu warten. Er hatte seine Gedichte schon auf dem Rücksitz von fahrenden Autos verfasst wie auch auf dem stillen Örtchen einer übervollen Schutzhütte; er hat sie auf Speisekarten gekritzelt und einmal sogar auf die Rückseite einiger Straßenbahnfahrscheine (wobei er dann beim Vortragen Schwierigkeiten hatte, jeweils den Schein mit der Fortsetzung zu finden). »Pauli, mach ein Gedicht!«, wurde er unzählige Male gebeten, und so hatte er auch unzählige Gedichte gemacht.

Pauli war ein richtiges Wiener Kind; seine Gedichte sind lustig, auch kritisch und etwas bissig, aber nie bösartig. Sie lassen auch etwas von der Freude spüren, die er beim Niederschreiben hatte. Nur einmal ist dem Pauli nix, absolut nix eingefallen ...

Als Schwanda, Pauli und ich noch mit unserem »Alpinen Kabarett« unterwegs waren, wollten wir einmal Paulis Gedicht von der »Show in der Todeswand« akustisch ausbauen:

»Soll sich alles um dich drehen,

willst du in der Zeitung stehen,

steig in eine Todeswand,

denn dann wirst du interessant.

Du darfst keine Wand begehen,

wo dich nur die Gämsen sehen,

weil die Gämsen vieles treiben,

aber keine Zeitung schreiben ...«

Tonbandgeräte waren damals noch was Neues (und hatten noch die Größe von einem Reisekoffer), und für unseren Tontechniker Pauli gab es noch Anfängerschwierigkeiten beim Finden der richtigen Knöpfe und Tasten. Sieben Uhr Abend war es, bis wir endlich mit den Aufnahmen beginnen konnten.

Und da begannen für uns erst die Schwierigkeiten. Regentropfen und Hagelkörner sollten auf den Fels prasseln – doch als wir mit einer Gießkanne Wasser in eine Schüssel schütteten, klang das nur wie das sanfte Rieseln eines Marienbründls.

Richtig prasseln tat es erst, als wir Bohnen in einen Blechtopf schütteten.

Lange dauerte es, bis wir in unserer Wohnung die richtige Tür fanden, deren Zuschlagen wie Donner klang. Das Scharren der Fingernägel nach einem Griff im blanken Fels gelang uns mit einem Reibeisen aus der Küche. Und zum Stein, der den Todeswandbezwingern vom Herzen fiel, als sie den Gipfel erreichten, wurde für uns ein Stapel Bücher, den wir auf den Tisch plumpsen ließen ... aus ... Ende.

Auch uns fiel ein Stein vom Herzen. Mitternacht war’s geworden und wir waren hundemüde. Nur das ganze Tonbandl wollten wir noch hören.

Pauli drückte aufs Knöpfchen. Das Band lief. Wieder ein Druck aufs Knöpfchen – und der Pauli schaute drein wie der gesammelte Weltschmerz persönlich. »Kinder, jetzt hab ich das ganze Bandl wieder gelöscht!«

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