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Der blaurote Methusalem

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Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Jetzt kehrte Liang-ssi zurück. Er meldete:

»Den Agenten muß ich nochmals aufsuchen, denn er war verreist und kommt erst morgen wieder heim. Auch der Mandarin war ausgegangen, kehrt aber bald zurück. Der Hausmeister teilte mir mit, daß Zimmer für uns bereit gehalten seien, und ist selbst mit mir gekommen, um Sie in Sänften abzuholen. Er wird sogleich erscheinen.«

Er hatte kaum ausgesprochen, so trat der Genannte, ein behäbig aussehender und fein gekleideter Chinese, ein, verbeugte sich tief und lud die sechs Personen im Namen seines Gebieters und in den höflichsten Ausdrücken ein, in den Palankins Platz zu nehmen, welche draußen für sie bereit ständen. Degenfeld bezahlte das Bier, welches noch teurer als in Hongkong war, und folgte dann mit den Gefährten dem Hausmeister.

Draußen standen sieben mit prächtigen Vorhängen versehene Sänften. Vier Läufer, welche, um den Weg durch das Volksgedränge bahnen zu können, mit Stöcken versehen waren, standen dabei. Der Hausmeister komplimentierte die Gäste in die Palankins und zog deren Vorhänge zu, damit die so fremd und auffällig gekleideten Insassen nicht durch die Zudringlichkeit des Publikums belästigt werden könnten. Hinter der letzten Sänfte hielten auch zwei Diener, welche die Gewehre zu tragen hatten, weil diese ihrer Länge wegen nicht in die Portechaisen gingen.

Was Heimdall Turnerstick betraf, so bückte er sich, ehe er einstieg, nieder, um nachzusehen, ob sein Tragsessel etwa einen beweglichen Boden habe. Er war um eine Erfahrung reicher und hatte keine Lust, eventuell wieder »Sänfte laufen« zu müssen. Zu seiner Beruhigung sah er und überzeugte er sich auch noch mit den Händen, daß der Boden fest und stark genug war, ihn zu tragen.

Als auch der Hausmeister eingestiegen war, setzten sich die Träger in schnelle Bewegung. Der Methusalem schob die Vorhänge ein klein wenig zurück, um hinausblicken zu können, ohne selbst gesehen zu werden.

Ein Gedränge, wie es in diesen Straßen gab, war ihm noch niemals vorgekommen. Uebrigens war, sobald die eigentliche Stadt erreicht wurde, von »Straßen« keine Rede. Die Gassen waren so schmal, daß die Sänfte die halbe Breite des Weges einnahm. Sie glichen den Schlupf- und Seitengäßchen alter deutscher Kleinstädte. Die Häuser hatten oft nur das Parterre, nie aber mehr als einen Stock, und alle waren mit Läden versehen, welche offen standen, so daß man die Waren und den Verkäufer sehen konnte. Die Dächer hatten die sonderbarsten Formen und waren mit fremdartigen Schnörkeleien versehen. An jedem Hause hingen lange, schmale Firmenschilder senkrecht hernieder, während sie bei uns platt an die Mauer befestigt werden. Sie trugen auf beiden Seiten in chinesischer Schrift ein Verzeichnis der hier ausgestellten Waren und den Namen des Ladenbesitzers. Will man sich ein Bild von dem Verkehre machen, welcher sich in diesen Gassen bewegte, so muß man sich die Schlußzeit einer Theatervorstellung denken, wo sich das dicht zusammengedrängte Publikum in geschlossener Masse durch die Ausgänge schiebt. Und doch ist dieser Vergleich unzureichend, da hier in den Gassen sich ja nicht alle in einer und derselben Richtung bewegten, sondern zwei Strömungen gegeneinander stießen. Hier durchzukommen, konnte eben nur Chinesen gelingen.

Da kamen ernste, berittene Mandarinen mit einem Gefolge von Dienern, Kulis mit schweren Lasten, die ein türkischer Hammal wohl kaum hätte überwältigen können, beladene Esel und Maultiere, Ausrufer, Handwerker, Geschäftsleute, ambulante Verkäufer, Bettler, Soldaten und Kinder, welche, wenn es Knaben waren, mit ihren ernsten Gesichtern und auf dem nackten Schädel hin und her bammelnden Zöpfchen einen eigenartigen Anblick boten. Das gab ein Schieben, Stoßen und Drängen, ein wüstes Durcheinander, welches ganz unentwirrbar zu sein schien. Das schrie, plärrte, brüllte, heulte und lachte, dazu das Hämmern der Schmiede, das Klappern der Verkäufer, das Klingeln der Garköche, das Hacken und Klopfen der Fleischer und hundert anderen Geräuscharten, welche zusammen ein dumpfes Brausen ergaben. Alle Stände waren vertreten; auch Frauen erblickte man, wenn auch ganz selten. Diese gehörten den niederen Ständen an und hatten unverstümmelte Füße. Erblickt man doch einmal ein weibliches Wesen, welches mit verkrüppelten Klumpfüßchen, sich auf einen festen Stock stützend, mühsam durch das Gedränge humpelt, so ist es gewiß eine verarmte und nun doppelt arme und elende Person, welche nun durch die Not zum Gehen gezwungen wird.

Zu beiden Seiten öffneten sich die Läden und Buden der Seidenhändler, Schuhmacher, Stoffhändler, Mützen- und Hutmacher, Lackwarenarbeiter, Porzellanhändler, Barbiere, Geldwechsler, Kuchenbäcker, Blechschmiede, Fleischer, Obsthändler, Gemüsekrämer und vieler anderer. Meist waren, wie in den türkischen Bazars, die gleichartigen Geschäfte in einer Straße zusammengelegt. Die Gassen endeten in triumphbogenartig überwölbten Pforten, welche des Abends verschlossen werden, um die Aufsicht zu erleichtern. Und dabei herrschte überall ein Halbdunkel, weil die Gassen eng sind und oft zum Schutze gegen Sonne oder Regen mit Strohmatten überdeckt werden.

So ging es durch die Drachen-, Gold-, Schatz-, Seiden-, Apotheker-, Wechsler-, Tiger- und Silbergasse an der Blumen- und später an der Pagode der fünfhundert Geister vorüber. In Europa wäre es geradezu ein Ding der Unmöglichkeit, sich da durchzuarbeiten; der Chinese bringt es fertig; er ist es nicht anders gewöhnt.

Einen ekelhaften Anblick boten die Bettler, deren es außerordentlich viele gab. Sie standen, lehnten, hockten, wackelten, schlürften und taumelten allüberall herum. Ihr Aussehen war erbärmlicher als erbärmlich. Sie waren mit allen möglichen und unmöglichen Schäden und Gebrechen behaftet, hatten sich die Gesichter absichtlich mit stinkendem Schmutze oder Blut beschmiert und der Grausamkeit der Natur so sehr und auf alle Weise nachgeholfen, daß man sich mit Abscheu von ihnen wenden mußte. Und doch werden sie von der Polizei geduldet. Das Bettlertum bildet in China eine soziale Macht, von deren Bedeutung und Einfluß der Europäer gar keine Ahnung hat.

Endlich hielten die Träger auf einer etwas breiteren Straße vor einem großen, palastähnlichen Hause. Der gänzliche Mangel an Verkaufsläden und von Firmenschildern in seiner breiten Fronte ließ vermuten, daß es entweder behördlichen Zwecken diene oder einem reichen Privatmanne gehöre.

Die benachbarten Häuser waren kleiner und schmäler. Die an ihnen niederhängenden, bunt bemalten und mit Gold- und Silbercharakteren beschriebenen Tafeln bewiesen, daß sie von Geschäftsleuten bewohnt seien.

Als der Methusalem beim Aussteigen einen Blick auf das zur Rechten liegende Nachbarhaus warf, glänzten ihm auf breitem Brette zwei Schriftzeichen entgegen, welche sogleich seine Aufmerksamkeit fesselten. Es waren die Zeichen Hu-tsin, also der Name desjenigen, in dessen Garten der gestohlene Gott vergraben werden sollte.

Es konnte in der großen Stadt mehrere Personen desselben Namens geben. Demnach fragte der Student den Hausmeister:

»Wer wohnt hier nebenan?«

»Hu-tsin, der Juwelier,« lautete die Antwort.

»Und wer ist dessen Nachbar?«

»Wing-kan, auch ein Juwelier. Wir befinden uns hier auf der Edelsteinstraße.«

Es konnte also keinen Zweifel geben: die beiden betreffenden Juweliere waren Nachbarn des Tong-tschi, ein Zufall, welcher gar nicht vorteilhafter hätte sein können.

Der Methusalem verlautete nichts über den Grund seiner Fragen. Er kannte die Zuverlässigkeit des Hausmeisters nicht. Wenn derselbe ein Freund des Wing-kan war, so hätte er auf den Gedanken kommen können, denselben zu warnen.

Aus dem breiten Thore des Hauses traten mehrere Diener, welche die Gäste nach einem großen Zimmer geleiteten, über dessen Thüre das Wort »Versammlungssaal« geschrieben stand.

Das Zimmer war chinesisch ausgestattet, mit schönen Bambusmöbeln und einem großen Kerzenleuchter. Sogar ein langer Spiegel, welcher vom Boden bis hinauf zur Decke reichte, war vorhanden.

Hier machte ihnen der Hausmeister nochmals seine tiefen Verneigungen, um sie an Stelle des Hausherrn willkommen zu heißen, entschuldigte diesen letzteren wegen seiner Abwesenheit und gab dann den Befehl, ihnen den Thee zu reichen.

Dieser wurde auf goldenen Präsentiertellern gebracht und aus winzig kleinen Tassen getrunken. Die Zubereitung war genau diejenige des Kaffees bei den Orientalen: Der Thee wurde in die Tasse gethan und mit kochendem Wasser übergossen. Nachdem er einige Augenblicke gezogen hatte, war er von einem Aroma und Wohlgeschmacke, derlei der Europäer an den exportierten Sorten gar nicht kennt.

Dann bat der Haushofmeister die Gäste, ihm zu folgen. Er führte sie durch mehrere Gemächer in ein großes Badezimmer, in welchem acht Wannen aus verschiedenem Materiale standen. Zwei derselben waren aus Marmor und durch Scheidewände von den anderen getrennt. Der Major domus erklärte, daß diese beiden Becken nur für den Herrn und die Gebieterin des Hauses bestimmt seien, jetzt aber von den beiden vornehmsten der Gäste benutzt werden könnten.

»Die vornehmsten?« meinte der Gottfried, als ihm diese Erklärung übersetzt worden war. »Dat ist der Methusalem, und dat bin nachher ich selberst.«

»Sie?« fragte Turnerstick. »Ein Wichsier soll vornehmer sein als wir andern?«

»Ja, denn wenn der Wichsier nicht von seinem Glanze ein bißchen an die Stibbeln seines Herrn abjiebt, dann kann vom Glanze eben keine Rede sein. Nicht wahr, Mijnheer?«

»Neen. Wichsier blijft Wichsier!«

»Wat? Sie wollen mir aus dat Stipendium jagen? Dat habe ich Ihnen nicht zujetraut. Ich bin stets Ihr freundschaftlich jesinnter Jottfried jewesen und jetzt retournieren Sie mir in dat jewöhnliche Publikum zurück? Ich kündige hiermit meine bisherige Jewogenheit und frage nur, wer denn nun der zweite Vornehme unter uns sein soll!«

»Darüber kann es gar keinen Zweifel geben,« sagte Methusalem. »Turnerstick ist Generalmajor; er steht also dem Range nach über uns allen und muß die feinste Wanne haben.«

 

»Richtig! Dat hatte ich verjessen. Ich trete also zurück. Hätte ich mir als Feldmarschall verkleidet, so jehörte die Wanne mich! Doch denke ich, daß ich in einer anderen auch nicht versaufen werden. Also abjemacht; plätschern wir ein bißchen!«

Der Chinese ist bekanntlich nicht wegen allzugroßer Reinlichkeit berühmt. Die besseren Stände aber stehen allerdings in einem besseren Rufe. Dennoch mußte der Besitzer eines Hauses, welches einen solchen Baderaum aufwies, nicht nur ein reicher, sondern ein Mann sein, welcher überhaupt es mit dem Komfort des Lebens hielt. In dem Kasten, aus dem er errettet worden war, hatte Tong-tschi freilich nicht danach ausgesehen.

Nach dem Bade wurden die Gäste in das Speisezimmer geleitet, wo ihrer eine Mahlzeit harrte, welche aus Fisch, Geflügel, Fleisch, Gemüse, dem allgegenwärtigen Reis und endlich einer Schüssel bestand, die einen dünnen Mus enthielt, welcher einen der Mandelmilch ähnlichen Wohlgeschmack hatte. Auf seine Erkundigung erfuhr der Methusalem, daß der Brei aus fein gestoßenen Aprikosenkernen bereitet worden sei. Diese Speise verdient es, auch in Deutschland nachgeahmt zu werden.

Dann erhielten die Reisenden die für sie bestimmten Zimmer, jeder ein besonderes, angewiesen. Es war aus allem zu ersehen, daß der Tong-tschi seinem Hausmeister den Methusalem als denjenigen bezeichnet hatte, dem die größte Aufmerksamkeit zu erweisen sei. Er erhielt das am feinsten eingerichtete Gemach.

Nun konnten sie sich ausruhen und nach Gutdünken thun, was sie wollten. Nur falls sie die Absicht haben sollten, sich die Stadt zu besehen, bat der Hausmeister, daß sie die Palankins benutzen sollten, da sie sonst die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf sich ziehen würden und sehr leicht belästigt, ja sogar beleidigt werden könnten.

»Aber zu einem Ausgange nur in die nächste Nachbarschaft ist die Sänfte doch nicht nötig?« fragte Methusalem.

»Darf der ganz Kleine fragen, wohin Sie wollen?«

Der »ganz Kleine« ist ein Ausdruck, mit welchem der Chinese sich selbst bezeichnet, wenn er mit einem Höherstehenden spricht. Der Hausmeister meinte also sich.

»Zum Nachbar, dessen Juwelenladen ich mir ansehen will.«

»Zu Hu-tsin?«

»Ja.«

»Der wohnt so nahe, daß Sie der Sänfte wohl nicht bedürfen. Er ist ein berühmter Juwelier und ein ehrlicher Mann. Gehen Sie nur nicht zu seinem Nachbar Wing-kan!«

»Warum zu diesem nicht?«

»Er ist ein Betrüger, obgleich das Gegenteil auf seinem Schilde steht. Beide sind einander sehr feindlich gesinnt.«

»So werde ich dem letzteren nichts abkaufen. Gottfried, brenn die Pfeife an!«

»Augenblicklich!« antwortete der Genannte, welcher sich im Zimmer des Blauroten befand. »Wir müssen bei dem Manne mit die nötige Kultur und Schicklichkeit erscheinen, wozu doch nichts so notwendig ist, wie Ihre Hukah und meine Fagottoboe.«

Auch für Tabak hatte man gesorgt. Es stand eine ganze Vase voll auf dem Tische. Von dem Inhalte derselben wurde die Wasserpfeife gestopft, und nachdem dieselbe in Brand gesteckt worden war, brachen die beiden auf, von dem Hausmeister bis an das Thor begleitet.

Sie legten die wenigen Schritte in der schon oft beschriebenen Weise und gravitätischen Haltung zurück. Trotz der Kürze des Weges sahen sie ein, daß der Hausmeister sehr recht gehabt hatte, als er ihnen für etwaige Ausflüge den Gebrauch der Sänften empfahl. Sie waren kaum aus dem Hause getreten, so blieben die Straßenpassanten stehen, um die bei den ihnen so sonderbar vorkommenden Menschen in Augenschein zu nehmen.

Methusalem ging nicht hart am Hause hin. Er hielt sich auf der Mitte der Straße, um vielleicht einen Blick in den zweiten Laden werfen zu können. Das gelang ihm auch.

An den beiden Häusern hingen mehrere Firmenschilder herab, je eins mit den Namen der Besitzer, also Hu-tsin und Wing-kan; auf der anderen waren die Artikel verzeichnet, welche man bei ihnen kaufen konnte. Wing-kan hatte noch extra auf ein Brett schreiben lassen: »Hier wird man ehrlich bedient«, eine Aufschrift, welche im Gegenteile zu seiner Absicht das Mißtrauen der Leser erregen mußte, da kein ehrlicher Geschäftsmann es für notwendig halten wird, seine Kunden in so besonderer Weise auf eine Eigenschaft aufmerksam zu machen, welche man ohnedies bei ihm vorauszusetzen hat.

Er saß unweit seiner offenen Ladenthüre. Methusalem sah ihn und erkannte gleich den Mann, welchen er belauscht hatte. Es konnte nun gar kein Zweifel mehr vorhanden sein.

Er trat in den Laden Hu-tsins, welcher sich allein in demselben befand. Der Juwelier war ein Mann in den mittleren Jahren, wohlgestaltet und sehr sorgfältig gekleidet. Er trug einen langen, dünnen Schnurrbart, dessen Spitzen ihm zu beiden Seiten fast bis auf die Brust reichten. Als er die beiden Männer sah, erhob er sich von seinem Platze. Indem er sie anblickte, war er ein sprechendes Bild unendlichen Erstaunens. Zwei so fremdartige Gestalten waren noch nie bei ihm gewesen.

»Tsching!« grüßte der Methusalem kurz, indem er eine Rauchwolke von sich blies.

»Tsching!« rief auch Gottfried und zwar in einem Tone, als ob er der Kaiser von China in eigener Person sei.

»Schim Hu-tsin – Sie heißen Hu-tsin?« fragte der Student.

»Pi-tseu – das ist mein Name,« antwortete der Juwelier, welcher sich von seiner Betroffenheit erholte und unter tiefen Verneigungen und ehrerbietigen Handbewegungen die beiden einlud, näher zu treten.

»Ich komme nicht, um etwas zu kaufen,« fuhr Methusalem fort. »Ich habe notwendig mit Ihnen zu sprechen.«

»Sie – — mit mir!« fragte der Mann, dem es ein Rätsel war, was so ein fremder Herr gerade mit ihm zu reden habe. »Ist es etwas Wichtiges?«

»Sehr, nicht für mich, aber für Sie.«

»Was?«

»Es handelt sich um Ihr Leben.«

»Um – mein – Leben? T‘ien-na, o mein Himmel! Ist das möglich?«

»Ja. Ich bin gekommen, um Sie vom Tode zu erretten.«

»Weshalb sollte ich sterben? Sind Sie ein fremder Arzt? Bin ich krank?«

»Nein. Sie sollen hingerichtet werden.«

»Herr, ich bin kein Verbrecher!«

»Das weiß ich; aber es kommt auch vor, daß Angeklagte unschuldig verurteilt werden.«

»Angeklagte? Wessen will man mich anklagen? Was soll ich verbrochen haben?«

»Sie sollen ein Götterbild geraubt haben.«

Der Mann erbleichte und begann zu zittern. »Ein Götterbild!« stieß er hervor. »Das ist ein Verbrechen, welches mit dem schrecklichsten Tode bestraft wird!«

»Allerdings. Und von diesem Tode will ich Sie erretten.«

»Herr, man kann mich nicht verurteilen, denn ich habe die That nicht begangen. Ich achte die Gesetze und bin mir niemals einer Schuld bewußt gewesen, am allerwenigsten aber einer so gräßlichen.«

»Aber man wird die Figur bei Ihnen finden.«

»Bei – — mir?! Wo?«

»Im Garten.«

»Da mag man suchen!«

»Ja, man wird suchen und wenn man sie dort findet, sind Sie verloren.«

»Das wäre ich allerdings; aber ich weiß gewiß, daß man nichts finden wird.«

»Und ich weiß ebenso gewiß, daß man sie bei Ihnen ausgraben wird!«

»Dann müßte sie ein anderer eingegraben haben!«

»Ja, und das ist eben der Fall. Ein Feind von Ihnen will die Figur stehlen und bei Ihnen vergraben lassen. Erstattet er dann Anzeige, so wird sie bei Ihnen gefunden und Sie werden als Dieb und Tempelschänder zum Tode verurteilt.«

Da schlug der Juwelier die Hände zusammen und rief im Tone des Entsetzens:

»Welch ein Unglück! Ich bin verloren; ich bin verloren!«

»Schreien Sie nicht so! Sie sehen, welch eine Menge von Menschen vor Ihrem Laden steht, um mich zu begaffen. Sie sind nicht verloren, denn ich bin gekommen, Sie zu retten. Wir müssen die Angelegenheit mit allem Bedacht besprechen.«

»Ja – besprechen – mit allem Bedacht! Ich werde jemand rufen, der einstweilen im Laden bleibt. Sie aber werden die Güte haben, mich hinauf in mein Zimmer zu begleiten.«

Er rief einen Namen durch eine Thür, welche im Hintergrunde des Ladens angebracht war. Ein junger Mann kam herein. Dann forderte er Methusalem und Gottfried auf, ihm zu folgen.

Es ging durch die erwähnte Thür nach einem kleinen Vorplatze, von welchem aus eine Treppe zum Stock emporführte. Dort traten sie in eine Stube, die der Arbeitsraum des Juweliers zu sein schien. In einer Ecke war ein Brettchen angebracht, auf welchem eine kleine, dicke Figur des Buddha saß. Vor derselben brannte ein Licht.

Der Juwelier bot zwei Stühle an. Er selbst brauchte keinen. Die Unruhe, welche ihn ergriffen hatte, erlaubte ihm nicht, sich zu setzen. Gottfried zog seinen Stuhl hinter denjenigen des Studenten, welcher sich würdevoll niederließ.

»Schade, daß ich nicht jenug chinesisch verstehe, um dem Jange dieser Unterredung folgen zu können!« sagte der erstere. »Ich möchte doch zu jern wissen, wat er sagt.«

»Du wirst es erfahren. Das versteht sich von selbst.«

»Also ein Feind von mir will das thun, wovon Sie sprachen!« sagte der Juwelier. »Wer mag das sein?«

»Kennen Sie keinen Menschen, welcher Sie so sehr haßt, daß er eines so nichtswürdigen Anschlages fähig ist?«

»Nur einen.«

»Wer ist das?«

»Wing-kan, mein Nachbar.«

»Dieser ist es.«

»Dieser? Wissen Sie das genau?«

»Ja. Ich habe seine Unterredung mit dem Menschen, welcher den Diebstahl ausführen soll, belauscht.«

»Wer ist dieser Dieb?«

»Das weiß ich nicht. Ich kenne ihn nicht. Ich bin fremd, ein Tao-tse-kue, erst heut hier angekommen. Wing-kan will sich rächen, weil Sie ihn beleidigt haben.«

»Er hat mich vorher gekränkt!«

»Ja. Er hat gesagt, daß Sie eine Tochter des Bettlerkönigs zum Weibe haben.«

»Das wissen Sie!«

»Ich hörte es aus seinem Munde.«

»Sie sind fremd und werden also wohl nicht wissen, daß dies eine schwere Beleidigung ist. Kein braver Mann spricht von dem Weibe eines anderen. Ich sah das Mädchen und gewann sie lieb, ohne zu wissen, wer sie war. Ich hörte dann, daß der T‘eu ihr Vater sei. Dennoch nahm ich sie zum Weibe, weil sie gut und brav war. Muß man mir das vorwerfen? Ich war arm; der T‘eu hat mich zum wohlhabenden Manne gemacht, denn er ist sehr, sehr reich. Muß ich ihm und meinem Weibe da nicht dankbar sein? Darf ich sie beschimpfen lassen?«

»Nein. In meinem Vaterlande ist es keine Schande, die Tochter eines Bettlers zu heiraten.«

»Auch eines Bettlerkönigs?«

»Bettlerkönige gibt es bei uns nicht.«

»Nicht? Dann ist Deutschland ein sehr unglückliches Land!«

»Inwiefern?«

»Weil die Menschen dort kein Mittel besitzen, sich von der Zudringlichkeit der Bettler zu befreien.«

»O, wir haben ein sehr gutes, welches viel besser und heilsamer wirkt als das Ihrige.«

»Welches?«

»Die Polizei.«

»Was kann da die Polizei thun? Doch nichts, gar nichts! Wenn ein Bettler von mir eine Gabe haben will und ich verweigere sie ihm, so zwingt er sie mir ab. Er bestreicht sich das Gesicht mit Kot. Er taucht sein Gewand in Jauche und setzt sich vor meine Thür, daß ich den Gestank nicht aushalten kann und kein Mensch zu mir hereintritt, um etwas zu kaufen. Oder er nimmt einen Gong in die Hand und schlägt so lange auf denselben ein, bis ich den entsetzlichen Lärm satt habe und ihm etwas gebe. Oder er holt eine ganze Schar anderer Bettler herbei, welche sich vor meiner Thür im Kote wälzen, sich mit Messern ins Fleisch stechen und so lange heulen und klagen, bis die Vorübergehenden mir wegen meiner Hartherzigkeit Vorwürfe machen und drohen, nichts mehr von mir zu kaufen. Ein Bettler kann einen Geschäftsmann ruinieren.«

»Nur hier bei Ihnen. In meinem Vaterlande nicht.«

»Was thut dort die Polizei mit ihm?«

»Wenn er sich so benähme, wie Sie erzählen, so würde er bestraft.«

»Womit?«

»Man sperrte ihn ein, erst für kurze Zeit, wenn es sich wiederholte, auf längere Zeit, und wenn er sich dann noch nicht gebessert hätte, für lebenslang.«

»Wohin sperrt man ihn da?«

»In ein Arbeitshaus, wo er arbeiten muß und andere, fleißige Menschen nicht mehr belästigen kann.«

»Aber wenn er nun alt, krank, ein Krüppel ist, der nicht arbeiten kann!«

»So wird er versorgt, von der Gemeinde oder auch vom Staate. Betteln ist streng verboten.«

»So ziehen bei Ihnen die Bettler nicht in ganzen, großen Scharen im Lande umher?«

»Nein.«

»Dann ist Ihr Vaterland ein sehr glückliches Land und kein unglückliches, wie ich vorhin sagte. Bei uns ist das anders.«

»Greift die Polizei nicht ein?«

»Nein. Kein Mensch und kein Polizist darf sich an einem Bettler vergreifen. Man muß sich an den Bettlerkönig, an den T‘eu wenden. Kauft man sich bei ihm durch eine Summe los, so erhält man von ihm eine Bescheinigung, einen Zettel, welchen man an die Thür klebt. Dann gehen die Bettler vorüber. Der T‘eu hat eine große Macht über sie. Er verteilt das Geld, welches er für diese Zettel einnimmt, unter sie. Ist er mit einem Distrikte fertig, so zieht er mit seinen Scharen nach einem anderen, um dort dasselbe zu thun.«

 

»Das würde man bei uns Kwei-tsun nennen und ihn samt seiner ganzen Schar für zehn Jahre einsperren.«

»Ist das nicht grausam?«

»Nein, das ist Ordnung. Warum soll der arbeitsame Mensch es dulden müssen, daß der Bettler ihm Geld abzwingt? Bei euch werden die Bettler beschützt und die Fleißigen belästigt. Bei uns ist es umgekehrt, und ich halte das für das Richtige.«

»Ich auch, obgleich man das hier nicht sagen darf. Es kommt vor, daß die Regierung, die Behörde gezwungen ist, mit dem Bettlerkönige einen Kontrakt abzuschließen. Tritt zum Beispiel einer der großen Flüsse aus seinen Ufern, so werden weite Strecken Landes überschwemmt und Millionen von Menschen verlieren ihren Erwerb. Da sind Hunderttausende brotlos und zu Bettlern geworden. Sie wählen sich einen Bettlerkönig und ziehen fort, um sich von ihm in den glücklicheren Provinzen durch die Gaben, welche er erzwingen muß, ernähren zu lassen. Er regiert sie; er hat Gewalt über ihr Leben. Sie müssen ihm gehorchen. Hätten sie ihn nicht, so würden sie sich zügellos über das ganze Reich ergießen und namenloses Unheil stiften. Es würde gebrannt, geraubt und gemordet. Es würde eine Revolution der anderen folgen und kein friedlicher Mensch wäre seines Lebens und seines Eigentumes sicher. Darum müssen wir Bettlerkönige haben, und darum werden dieselben von der Regierung und allen Behörden gern und willig anerkannt.«

»So hat ein solcher T‘eu ja fast eine größere Macht als ein Wang, ein Vizekönig und Regent einer ganzen, großen Provinz!«

»Allerdings. Kein Beamter, und stehe er noch so hoch und sei er noch so mächtig, wird es wagen, einen T‘eu zu beleidigen, denn dieser könnte sich leicht an ihm rächen. Er würde sämtliche Unterthanen seines Bettlerreiches, viele Tausende, herbeirufen und mit denselben die betreffende Provinz überschwemmen. In Peking würde man erfahren, wer schuld daran ist, und den Vizekönig sofort absetzen, weil er Unglück über seine Provinz gebracht und also bewiesen hat, daß er zum Regieren unfähig ist. Ja, ein Bettlerkönig ist ein außerordentlich mächtiger Mann. Ist es also klug, mich zu beleidigen, weil ich der Schwiegersohn eines solchen bin?«

»Das ist sehr unvorsichtig gehandelt.«

»Ja. Ich kann mich an Wing-kan rächen. Das weiß er sehr genau, und daher will er mir zuvorkommen und mich und meine Familie verderben. Denn hier bei uns werden die Frauen und Kinder der Verbrecher auch mitbestraft.«

»Das habe ich schon erfahren. Es war mir unbegreiflich, daß jemand wegen einer einfachen Beleidigung ein so schweres Verbrechen, wie der Diebstahl eines Gottes ist, nur um Rache zu üben, wagen kann. Jetzt sehe ich klarer. Wing-kan fürchtet Ihre Rache und noch vielmehr diejenige Ihres Schwiegervaters, des T‘eu. Darum will er Sie unschädlich machen. «

»Und den T‘eu mit, welchen die Strafe für mein Verbrechen auch treffen würde, weil er der Vater meines Weibes ist. Selbst ein Bettlerkönig darf nicht, so große Macht er auch besitzt, ein Verbrechen begehen. Thut er das, so verfällt er dem Gesetze wie jeder andere und hat keine Gnade oder Hilfe zu erwarten, weil alle seine Unterthanen sich von ihm lossagen. Das ist die Berechnung meines Nachbars, wenn die Sache sich wirklich so verhält, wie Sie es sagen.«

»Es ist genau so. Um Ihnen das zu beweisen, will ich Ihnen erzählen, wie ich den Anschlag erfahren habe.«

Er berichtete ihm alles. Der Juwelier sah sich in einer außerordentlich gefährlichen Lage. Er lief in der Stube hin und her; er warf mit den Armen um sich; er riß und zerrte an seinem Zopfe. Er war ein braver und wackerer Mann, welchem der Methusalem die vollste Teilnahme schenkte.

»Was soll ich thun, was soll ich thun?« fragte er.

»Das müssen Sie am besten wissen!«

»Soll ich schnell zum Sing-kuan gehen und Anzeige machen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil jetzt die That noch nicht geschehen ist und Sie Ihrem Nachbar also nichts beweisen können.«

»So meinen Sie, daß ich ruhig zuwarten soll, bis er den Gott in meinem Garten vergräbt?«

»Ja.«

»Das ist gefährlich, außerordentlich gefährlich.«

»Gar nicht!«

»O doch! Sie kennen die Gesetze unseres Landes nicht. Wehe dem, auf dessen Grund und Boden oder auch nur in dessen Nähe ein Verbrechen geschieht! Er wird ganz unerbittlich mitbestraft. Kein Chinese wird zum Beispiele einem Ertrinkenden beispringen, um ihm das Leben zu retten.«

»Nicht? Das wäre ja schrecklich!«

»Und doch ist es so. Wenn der Mann dennoch ertrinkt, so würde man den Retter als Mörder festnehmen. Wenn jemand, um sich an mir zu rächen, sich vor meiner Thür entleibt, so bin ich der Schuldige und werde bestraft. Wenn mein Nachbar das Bild des Gottes bei mir vergräbt, so mag ich tausendmal beweisen können, daß er selbst es gestohlen und in meinen Garten versenkt hat; es ist bei mir gefunden worden und ich muß die Strafe erleiden.«

»Das ist freilich schlimm. Die Sache steht also folgendermaßen: Verhüten Sie jetzt die That, mit welcher man Sie bedroht, so können Sie dem Nachbar nichts beweisen, und er wird sich eine andere Art der Rache aussinnen, gegen welche Sie sich dann nicht wehren können. Lassen Sie die That aber geschehen, so fallen Sie mit ins Verderben.«

»Ja so ist es. Ich glaube jedes Wort, was Sie mir gesagt haben; ich bin überzeugt, daß Wing-kan diese Absicht hegt; aber ich sehe kein Mittel, den Schlag von mir und meiner Familie abzuwenden. Den Dieb, mit welchem Wing-kan das Verbrechen beabsichtigt hat, können Sie nicht näher bezeichnen?«

»Nein.«

»Machte ich jetzt Anzeige, so würde man ihn zwar suchen, aber nicht finden. Der Raub würde also doch geschehen.«

»Ja, aber es könnten Polizisten in Ihren Garten postiert werden, welche den Kerl gleich in Empfang nehmen, wenn er kommt.«

»Nein, nein!« wehrte der Juwelier ab. »Er würde sagen, daß er in meinem Auftrage gehandelt habe, und dann wäre ich auch verloren. «

»So müßte man schleunigst die Priester benachrichtigen, acht auf ihre Gottheiten zu geben. Wir kennen ja die Stunde, in welcher der Raub ausgeführt werden soll.«

»Wissen Sie, in welchem Tempel sich der Gott befindet, auf den es abgesehen ist?«

»Nein.«

»O wehe! Und wissen Sie, wie viele Tempel wir hier in Kuang-tschéu-fu besitzen?«

»Ja, hundertzwanzig.«

»Das sind nur die großen, berühmten. Es gibt ihrer viel, viel mehr. Ehe die Benachrichtigung, von welcher Sie sprechen, an alle diese Orte kommt, ist der Raub geschehen. Auch das gibt keine Hilfe.«

Er rannte wieder auf und ab und riß an seinem Zopfe. Der Methusalem rückte auf seinem Sitze hin und her, rieb sich die Stirn, that ein paar tüchtige Züge aus der Pfeife und sagte dann:

»So verworren und verwickelt habe ich mir die Sache freilich nicht vorgestellt. Ich dachte nicht daran, daß derjenige, in dessen Nähe oder auf dessen Besitzung ein Verbrechen geschieht, in dieser Weise mitverantwortlich gemacht wird. Wir dürfen die That nicht geschehen lassen, weil Sie sonst auf alle Fälle mitbestraft werden. Wir dürfen sie aber auch nicht verhüten wollen, weil dies unmöglich ist.«

»Ja, Sie müssen bedenken, daß der Abend bald hereinbrechen wird. Es ist keine Zeit mehr dazu vorhanden.«

»Einesteils, und andernteils wäre für Sie damit nichts gebessert, da es Ihnen nicht gelungen wäre, den Nachbar unschädlich zu machen. Und das muß vor allen Dingen geschehen, wenn Sie in Zukunft sicher leben wollen.«

»Das ist wahr; das ist wahr! Raten Sie, helfen Sie! Ich werde Ihnen sehr, sehr dankbar sein!«

»Hm! Woher soll man einen Rat nehmen? Advokaten wie in meinem Vaterlande gibt es hier nicht. Polizei kann uns nichts nützen. Schließlich komme ich selbst mit in Gefahr, wenn man hört, daß ich diese Kerls belauscht habe. Erlauben Sie mir einen Augenblick! Ich will da meinen Gefährten fragen.«