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Der blaurote Methusalem

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Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

T‘eu Kuan

China ist ein wunderbares Land. Seine Kultur hat sich in ganz anderer Richtung bewegt und ganz andere Formen angenommen als diejenige der übrigen Nationen. Und diese Kultur ist hochbetagt, greisenhaft alt. Die Adern sind verhärtet und die Nerven abgestumpft; der Leib ist verdorrt und die Seele vertrocknet, nämlich nicht die Seele des einzelnen Chinesen, sondern die Seele seiner Kultur.

Schon Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung hatte dieselbe eine Stufe erreicht, welche erst in allerneuester Zeit überschritten zu werden scheint, und zu diesem Fortschritte ist China mit der Gewalt der Waffen gezwungen worden. Derjenige französische Missionar, welcher das Reich der Mitte le pays de l‘âge caduc, das Land des hohen Alters, nannte, hat sehr recht gehabt. Es ist da eben alles greisenhaft, sogar die Jugend.

Wer die Kinder beobachtet, lernt die Eltern genau kennen. So ist es auch mit dem Volke. Eine Nation ist unschwer nach dem Thun und Treiben ihrer Kinderwelt zu beurteilen. Die Arbeit des Kindes ist das Spiel. Wie aber spielt der Chinese?

Der Europäer sieht im Spiele nur das Mittel zur körperlichen und geistigen Kraftentwickelung. Er will die Muskeln stärken, die Knochen festigen, die Brust erweitern, die Willenskraft erwecken, den Scharfblick üben und das Gemüt bereichern. Das Spiel soll im Knaben den späteren Mann, im Mädchen die einstige sorgliche, treue Hüterin des Hauses erkennen lassen.

Anders bei den Chinesen. Wo sieht man da die roten Wangen und blitzenden Augen, wo hört man das lustige helle Jauchzen der Kinder? Fast nirgends! Der chinesische Knabe tritt aus seiner Thür langsam und bedächtig, schaut um sich wie ein Alter, schreitet ohne irgend eine lebhafte Bewegung nach dem Spielplatze hin und sinnt nun nach, womit er sich beschäftigen werde. Er ist ein Erwachsener in verkleinertem Maßstabe. Sein gelbes Gesicht rötet sich höchstens dann ein wenig, wenn er ein Heimchen erblickt. Er fängt es, sucht noch eins dazu und setzt sich nieder, um die beiden Tiere gegeneinander kämpfen zu lassen. Mit Behagen sieht er, wie sie sich die Glieder abbeißen, sich gräßlich verstümmeln und selbst dann noch kämpfen, wenn sie nur noch aus dem gliederlosen Rumpfe bestehen. Ist es da ein Wunder, daß die Grausam- und Gefühllosigkeit des Chinesen als eine seiner hervorragendsten Eigenschaften bezeichnet werden muß?

Dort spielen zwei Knaben Ball. Sie schleudern ihn einander nicht zu; sie fangen und schlagen ihn nicht; sie werfen ihn nicht an eine Mauer, um ihn abprallen und rikoschettieren zu lassen. Der eine schlägt den Ball mit der flachen Hand so oft in die Höhe, als es ihm möglich ist, ohne ihn zur Erde fallen zu lassen. Ist dieses letztere geschehen, so nimmt der andere ihn auf und versucht dasselbe Spiel. So stehen sie still und stumm nebeneinander, doch nein, nicht stumm, denn sie zählen. Für jeden Schlag, der dem ersten mehr gelingt als dem zweiten, hat dieser letztere einen Kern, eine Frucht oder sonst etwas zu bezahlen. Dabei suchen sie einander nach Kräften zu betrügen. Hier entspringt der große Eigennutz, die gewissenlose Schlauheit, welche den Chinesen auszeichnet.

Das Hauptspiel der Knaben ist das Drachensteigenlassen. Es ist das sogar ein Sport, den die erwachsenen Männer, reich und arm, vornehm und niedrig, treiben. Der Chinese hat es darin zu einer Fertigkeit gebracht, welche Bewunderung erregt und einer besseren Sache wert wäre. Es gibt wohl kaum irgend ein Tier, dessen Gestalt der Sohn der Mitte nicht, in Papier nachgeahmt, in die Luft steigen ließe. Am prächtigsten bildet er den Tausendfuß nach; die Gestalt ist oft an die dreißig Ellen lang und ahmt die Bewegungen des Tieres mit merkwürdiger Naturtreue nach. Habichte steigen an einer und derselben Schnur in die Höhe und umkreisen einander genau so, wie wirkliche Habichte es an windigen Tagen thun.

Während der deutsche Knabe seinen Drachen aus reiner, unschuldiger Lust an der Sache steigen läßt, verbindet der Tschin-tse-tsi mit diesem Spiele eine Absicht, welche uns nicht als lobenswert erscheinen dürfte. Er bestreicht die Schnur mit einem Klebstoffe und streut gestoßenes Glas darauf. Mit der so präparierten Schnur sucht er dann die Drachenschnüre anderer Knaben zu durchschneiden oder zu durchsägen, daß deren Drachen vom Winde mit fortgenommen werden. Sollte damit nicht die bekannte chinesische Hinterlist und Schadenfreude großgezogen werden?

Turnanstalten gibt es keine im ganzen Reiche, so groß dasselbe ist. Daher der Mangel an Mut und körperlicher Gewandtheit.

Mädchen sieht man niemals im Freien spielen. Sie scheinen zu derselben Abgeschlossenheit wie ihre Mütter verurteilt zu sein. Es ist sehr schwer, bei einem Besuche die Frau des Hauses zu Gesicht zu bekommen. Und doch haben die Chinesen sich das nicht von den Hoei-hoei angeeignet, deren es Millionen bei ihnen gibt.

So spielt die Jugend fast nur, um die schlechten Eigenschaften zu entwickeln, welche sich beim Erwachsenen ausgebildet haben. Spricht ein Fremder mit einem Knaben, so bekommt er keine lebhaften Antworten zu hören, kein freundlich lächelndes Gesicht zu sehen. Es ist ganz so, als ob er mit einem Alten spräche. Wie gesagt, schon die Jugend macht einen greisenhaften Eindruck.

Und wie der Greis, welcher sich am Spätabende seines Lebens nicht erst von seinen bisherigen Anschauungen trennen will, so ist auch der Chinese wenig oder gar nicht bereit, die Ansichten anderer sich anzueignen. Dies ist besonders in religiöser Beziehung der Fall, weshalb die christliche Mission in China noch gar keine nennenswerten Früchte getragen hat.

Mag der Missionar die herrlichen Lehren des Christentums immerhin noch so eifrig und noch so begeistert entwickeln, der Chinese hört ihm ruhig zu, ohne ihn zu unterbrechen, denn das gebietet die Höflichkeit; aber am Schlusse wird er freundlich sagen: »Du hast sehr recht und ich habe auch recht. Put tun kiao, tun li; ni-men tschu hiung,« zu deutsch: »Die Religionen sind verschieden, die Vernunft ist nur eine; wir sind alle Brüder.«

Die Neuerungen, welche die letzten Jahrzehnte dem Lande gebracht haben, sind demselben entweder aufgezwungen worden oder der Chinese hat sich zu ihnen nur aus Eigennutz verstanden. Sie sind auch nur in Küstengegenden zu spüren, während das Landesinnere nach wie vor wie ein Igel die Stacheln gegen jede fremde Berührung sträubt.

Kanton ist diejenige Stadt, in welcher der lebhafteste Fremdenverkehr herrscht. Darum verhält man sich dort gegen den Ausländer und seine Kultur nicht so sehr abweisend wie anderswo. Man sieht ein, daß der Umgang mit ihm große Vorteile bringt; man möchte sich diese Vorteile wohl gern aneignen, sieht aber durch die Gesetze einen starren Zaun um sich gezogen, welcher nicht zu übersteigen ist. Höchstens darf man sich erlauben, heimlich eine Lücke durch denselben zu brechen.

Eine solche Lücke war es, welche sich dem Methusalem öffnete, als der Tong-tschi ihm und seinen Gefährten die Gastfreundschaft anbot und einen Paß versprach.

Ueber eine Woche hatten sie in Hongkong bleiben müssen, bevor die Untersuchung gegen die Piraten so weit gediehen war, daß die Vernehmung der Zeugen nicht mehr vonnöten war. Der Tong-tschi war mit dem Ho-po-so schon am ersten Abende abgereist, und beide hatten dem Studenten gesagt, wo, wie und wenn er sie in Kanton finden könne.

Dieser Name ist falsch. Kanton oder vielmehr Kuang-tung heißt die Provinz. Der Name der Hauptstadt aber ist Kuang-tschéu-fu. Sie liegt 150 Kilometer vom Meere entfernt am nördlichen Ufer des Perlstromes und bildet ein unregelmäßiges Viereck, welches von einer neun Kilometer langen Mauer umgeben wird. Diese ist auf Sandsteinfundament aus Ziegeln gebaut, acht Meter hoch und sechs Meter dick und wird von fünfzehn Thoren durchbrochen. Eine Quermauer, durch welche vier Thore gehen, scheidet die Alt- oder Tatarenstadt von der Neu- oder Chinesenstadt. An den Seiten schließen sich ausgedehnte und volkreiche Vorstädte an, welche der zahlreichen Bevölkerung doch nicht Platz genug bieten, weshalb über dreihunderttausend Menschen auf Flößen, Booten und ausgedienten Schiffen wohnen, die an die Flußufer befestigt sind, aber so oft ihre Plätze wechseln, daß für den eigentlichen Stromverkehr nur eine schmale Wasserrinne frei und offen bleibt.

Man schätzt die Zahl dieser Boote, welche Sam-pan genannt werden, auf über achtzigtausend. Die mobilen Bewohner derselben werden mit dem Namen Tan-kia bezeichnet. Auf diesen Sam-pan herrscht ein so wechselvolles Leben, daß der Fremde wochenlang zuschauen könnte, ohne müde zu werden. Doch ist es für ihn keineswegs geraten, mit allzu großem Vertrauen ein solches Boot, besonders des Nachts, zu besteigen, denn die Tan-kia sind Menschen, vor denen man sich wohl in acht zu nehmen hat. Sie gehören der ärmsten Klasse, der Hefe des Volkes an, haben entsetzlich mit der Not des Lebens zu ringen und finden dennoch alle Veranlassung, die Mandarinen als Blutegel zu betrachten, vor denen sie die Tasse mageren Reis, die ihren Hunger stillen soll, verbergen müssen. Da wird die Not denn stärker als die Ehrlichkeit, und so führen die meisten Tan-kia ein Leben, welches die Augen des Gesetzes mehr oder weniger zu scheuen hat.

Man lockt die Fremden unter den verschiedenartigsten Vorspiegelungen auf die Boote. Wohl dem, der dann nur als gerupftes Hühnchen davonschwimmen darf! Tausende sind verschwunden – vielleicht in die Magen der Fische, ohne daß eine Spur von ihnen aufzufinden war.

Längs des Flusses stehen die fremden Faktoreien mit ihren großen, wohlgepflegten Gärten und riesigen Warenhäusern, welche Hong genannt werden.

Scha-mien, das Europäerviertel, hat eine sehr malerische Lage. Es war ursprünglich eine in den Perlfluß vorspringende Landzunge und wurde durch einen hundert Fuß breiten Kanal vom Lande abgetrennt. Jetzt ist es ein Gemeinwesen für sich. Drei Brücken, welche durch Gitterthore verschlossen werden können, führen nach Kanton hinüber, und die eleganten Steinhäuser liegen zwischen grünen Grasplätzen, duftenden Gärten und schattigen Alleen so angenehm, wie hier nur möglich.

 

Hier legte der Dampfer der »China Navigation Company« an, welchen die sechs Reisenden doch noch benutzt hatten, um nicht möglicherweise abermals auf eine Piratendschunke zu geraten.

Obgleich der Dampfer den letzten Teil der Strecke nur mit halber Schnelligkeit fuhr, war es doch absolut unbegreiflich, daß er die umherjagenden Boote nicht dutzendweise unter sich begrub.

Und wie ging es erst am Landeplatze zu! Da drängten sich Hunderte und Aberhunderte auf die aussteigenden Passagiere los, um einige Sapeken zu verdienen. Das schrie, brüllte, kreischte durcheinander, daß man die einzelnen Stimmen fast gar nicht zu unterscheiden vermochte. Da boten sich Sänftenträger, Wäscher, Barbiere, Bootsleute, Führer, Händler, Dolmetscher an, indem einer den andern zur Seite stieß, um sich vorzudrängen.

Der Methusalem stieg gar nicht aus. Er wartete, bis die Schreienden glaubten, daß das Schiff sich geleert habe, und sich einen anderen Ort suchten, um dort denselben Spektakel zu wiederholen.

In Scha-mien gibt es nur einen einzigen Gasthof, welcher einem portugiesischen Wirte gehört. Dorthin begaben sich die sechs zunächst, und zwar ganz in der bekannten Weise und Reihenfolge.

Es versteht sich von selbst, daß sich sogleich eine Menge Menschen fanden, welche von dem Anblicke der für sie fremdartigen, sonderbaren Gestalten herbeigelockt wurden. Der Ausruf »Fan-kwei«, fremde Teufel, wurde vielfach hörbar, doch wagte niemand, die Reisenden zu belästigen, wohl wegen deren würdevoller Haltung und weil man in Turnerstick wirklich einen Mandarin vermutete.

Der Gasthof war keineswegs ein Hotel zu nennen. Die Europäer werden am Tage über von ihren Geschäften vollständig in Beschlag genommen und des Abends versammeln sie sich in ihren verschiedenen landsmännischen Klubs, so daß der Gastwirt nicht auf sie rechnen kann und sich also auf niedriger stehende Gäste einrichten muß.

Er bot den Reisenden sogleich Zimmer an; Degenfeld aber lehnte ab und fragte nur, ob Bier zu haben sei. Er hatte keins, erbot sich aber, welches aus dem nahen Klubhause holen zu lassen, und bald bekamen sie einen vortrefflichen Bergedorfer Gerstensaft vorgesetzt, den sie sich aus dem Stammglase des Blauroten munden ließen.

»Ich dachte, Sie wollten hier kein Bier mehr jenießen,« meinte der Gottfried. »Wenigstens sagten Sie in Hongkong so, von wejen die teuren Preise.«

»Ja, dat heeft hij gezegd – ja, das hat er gesagt,« stimmte der Dicke bei.

»O, der Methusalem und kein Bier! Dat paßt nie zusammen.«

»Paßt schon!« sagte Degenfeld. »Heut aber darf ich es mir schon noch bieten. Wir haben für diese ganze Woche im Hotel nichts zu bezahlen gehabt, weil wir als Zeugen zum Bleiben gezwungen waren. Old England hat unsere Zeche übernommen. Darauf können wir uns nun einige Gläser genehmigen. Aber unser Freund Liang-ssi wird nicht länger teilnehmen können.«

»Warum nicht?« fragte der Genannte.

»Weil Sie fort müssen, nämlich zuerst zu dem Agenten, welcher den Brief nach Deutschland besorgte, und sodann zum Tong-tschi, um ihm zu melden, daß wir angekommen sind. Wir werden hier abwarten, ob der erstere uns vielleicht hier aufsucht und ob der letztere sein Wort hält und uns zu sich kommen läßt.«

Darauf hin entfernte sich der Chinese, um draußen sich einen Palankin zu nehmen und die beiden Personen aufzusuchen. Die anderen tranken weiter.

Die noch im Zimmer anwesenden Gäste starrten die fünf mit verwunderten Augen an. Es waren einige Europäer unter ihnen, die nicht erstaunt zu sein brauchten, kaukasisch geschnittene Gesichter hier zu sehen; aber daß die Leute Studententracht trugen, hier im fernen China, das kam ihnen mehr als sonderbar vor.

Der Methusalem fühlte sich gelangweilt von diesen immerfort auf ihn gerichteten Blicken. Er sah, daß hinter dem Hause ein Garten lag, und ging hinaus, um einmal einen chinesischen Garten in Augenschein zu nehmen.

Wenn er geglaubt hatte, hier echt chinesische Anlagen zu erblicken, so war er in einer großen Täuschung befangen gewesen. Der Garten war klein, auf drei Seiten von Mauern umgeben, stieß mit der vierten an das Haus und zeigte nicht einmal eine Blume, sondern nur Küchengewächse.

Nur an der dem Hause gegenüber liegenden Mauer stand ein schön blühender Strauch, den er noch nicht kannte. Er trat näher, um die Blüten genauer zu betrachten. Da hörte er einen Pfiff jenseits der Mauer, an der Stelle, wo er diesseits stand. Die Mauer reichte ihm bis an die Schulter. Nicht aus Neugierde, sondern ganz unwillkürlich bog er den Kopf vor, um zu sehen, wer da gepfiffen habe.

Es stand ein Chinese draußen, welcher sehr gut gekleidet war, also der besseren Klasse angehören mußte. Auch derjenige, welchem der Pfiff gegolten hatte, war zu sehen. Dieser gehörte ganz gewiß dem niedrigsten Pöbel an. Er war barfuß; die Hose reichte ihm nur bis an die Kniee; anstatt eines Rockes oder einer Jacke trug er einen aus langen Grashalmen gefertigten Umhang in Form eines rundum vom Halse bis auf den Unterleib niederhängenden Kragens. Der Kopf war unbedeckt und mit einem dünnen Zöpfchen verziert, welches einem Rattenschwanze sehr ähnlich sah.

An der Mauer führte ein gerader, schmaler Weg vorüber, jenseits desselben hinter Mauern wieder Gärten lagen. Auf diesem Wege, zwischen den Mauern, kam der Mann eiligst herbeigelaufen.

»Tsching, tsching, ta bang!« grüßte er bereits von weitem.

Ta bang heißt großer Kauf- oder Handelsherr.

»Schrei nicht so!« warnte ihn der andere, natürlich in chinesischer Sprache. »Niemand braucht zu hören, daß sich hier jemand befindet. Warum hast du mich so lange warten lassen?«

»Ich stand weiter oben und wartete auf den sehr alten Herrn.«

Wenn der Chinese sehr höflich sein will, so nennt er sich sehr jung und den, mit welchem er spricht, sehr alt. Mit dem »Sehr alten Herrn« war also der andere gemeint, obgleich er höchstens halb so alt wie der Sprechen war.

»Nun, hast du es dir überlegt?« fragte dieser.

»Ja.«

»Und was hast du beschlossen?«

»Ich kann es nicht thun.«

»Warum nicht?«

»Es ist zu gewagt und bringt nichts ein.«

»Bist du toll, oder hast du vergessen, wieviel ich dir geboten habe?«

»Ich habe es nicht vergessen, tausend Li.«

»Nun, ist das nicht genug?«

»Nein, es ist zu wenig.«

»Um einen Gott zu stehlen? Das ist doch sehr leicht.«

»Ja, aber ich soll den Gott nicht nur stehlen, sondern ihn auch bis in das Innere der Stadt bringen.«

»Sinne nach, so wirst du ein Mittel finden, wie das ohne Gefahr geschehen kann!«

»Ich weiß eins; aber ich soll den Gott auch im Garten des Nachbar Hu-tsin vergraben. Das ist eine dreifache Mühe.«

»Nein, es ist nur eine einzige That.«

»Den Gott stehlen, den Gott bringen und den Gott vergraben, das sind drei ganz verschiedene Thaten. Ich müßte also dreitausend Li bekommen.«

»Schurke! Ich gebe tausend, nicht mehr!«

»Der ältere Herr mag bedenken, daß die Sache nicht leicht ist. Der Gott ist aus Metall, halb so groß wie ich und sehr schwer. Ich brauche noch einen zweiten Mann dazu.«

»Du bist kräftig genug; ich kenne dich und weiß, was du zu leisten vermagst.«

»Tragen könnte ich ihn vielleicht allein, aber in die Stadt bringen nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil ich den Gott in eine Sänfte setzen muß. Und zu einer Sänfte gehören doch zwei Männer.«

»Das ist freilich wahr.«

»Also müßte ich wenigstens zweitausend Li bekommen, eintausend für mich und eintausend für den andern.«

»Aber am Tage kannst du den Gott nicht stehlen und des Nachts sind die Straßen verschlossen; da kannst du ihn nicht bringen!«

»Ich stehle ihn in der Dämmerung. Jetzt werden die Straßen erst eine Stunde nach Einbruch des Abends geschlossen. Da habe ich vollständig Zeit, ihn zu bringen und auch einzugraben.«

Wenn dieser Mann von einer Stunde sprach, so sind das nach unserer Zeitrechnung zwei. Der Chinese hat nämlich zwölf Doppelstunden, »Schi« genannt, deren erste nachts elf bis ein Uhr währt.

»Mute dir nicht zu viel zu!« warnte der Vornehme. »Besser ist‘s, du stiehlst ihn heute und bringst ihn morgen zu meinem Nachbar.«

»Ich habe keinen Ort, ihn bis morgen aufzubewahren. Mein Herr Wing-kan muß bedenken, daß sich ein großer Lärm erheben wird, wenn man erfährt, daß ein Gott im Tempel fehlt. Die ganze Stadt wird in Aufruhr geraten, vielleicht heute abend schon. Er muß vergraben werden, gleich nachdem ich ihn gestohlen habe. Ich bringe ihn im Siüt-schi und bin noch vor dem Hai-schi fertig.«

Die Doppelstunden heißen, wie schon erwähnt, »Schi« welchem Worte die Zeichen des Zwölfercyklus vorgesetzt werden. Die Stunden heißen also und währen, von nachts elf Uhr an gerechnet: tsi-schi 11bis 1Uhr tsch‘eu-schi 1«3« yîn-schi 3«5« ma•-schi 5«7« schîn-schi 7«9« ssi-schi 9«11« ngu-schi 11«1« wéi-schi 1«3« schin-schi 3«5« ye–schi 5«7« siüt-schi 7«9« hái-schi 9«11«

Wenn der Mann sagte, daß er den »Gott« im Siüt-schi bringen und noch vor dem Hai-schi fertig sein werde, so meinte er, daß er nach sieben Uhr zu kommen und vor elf Uhr mit dem Vergraben des gestohlenen Gegenstandes fertig zu sein beabsichtige. Er fügte noch hinzu:

»Mein älterer Gebieter wird einsehen, daß ich es nicht für tausend Li thun kann. Es ist zu beschwerlich und mit großer Gefahr verknüpft. Wenn man mich ergreift, so werde ich hingerichtet, vielleicht gar mit dem Pfahle, denn einen Gott zu stehlen, wird strenger als alles andere bestraft.«

»Das weiß ich allerdings. Darum will ich dir die zweitausend Li bezahlen, vorausgesetzt, daß du deine Sache brav machst und kein Verdacht auf mich selbst fällt.«

»Ich werde es so schön machen, daß alle Schuld auf den Lin fallen muß. Aber wann bekomme ich das Geld?«

»Morgen um dieselbe Zeit komme ich hierher, um es dir zu bringen.«

»Und wann soll es geschehen? Wohl noch heute? Ja? Je eher, desto besser. Daß dieser Hu-tsin baldigst für die Beleidigung bestraft wird, welche ich freilich noch gar nicht kenne.«

»Es ist eine doppelte. Er weiß die Käufer an sich zu locken, so daß ich oft ganze Tage lang im Laden sitze, ohne einen Li einzunehmen. Darüber ärgerte ich mich und sagte ihm, daß er die Tochter eines T‘eu zum Weibe habe. Darauf beschimpfte er mich dadurch, daß er öffentlich sagte, einige meiner Ahnen seien durch den Henker gestorben, und außerdem könne er nachweisen, daß ich kein ehrlicher Goldschmied sei, da ich mit geringem Metalle arbeite und mich einer falschen Wage bediene. Nun sind auch diejenigen Kunden, welche ich hatte, vollends von mir weggeblieben.«

»Die erstere dieser Beleidigungen ist allerdings todeswürdig. Kein Mensch würde sie ungeahndet lassen. Wer läßt seine Ahnen beschimpfen!«

»Kein wirklicher Sohn seiner Eltern! Er behauptete, meine Vorfahren seien überhaupt nur Tsien gewesen.«

»So müßte er eigentlich vor den Richter kommen!«

»Das fällt mir nicht ein. Man würde ihn bestrafen, aber ich hätte ebensoviel zu bezahlen wie er. Diese Mandarinen gleichen dem tiefen Sande, in welchem der Regen stets gleich verschwindet. Sie sind unersättlich.«

»Aber wenn er nicht verklagt wird, so wird man sagen, daß er doch recht gehabt haben müsse!«

»Immerhin! Wenn er nun als der Dieb eines Gottes ertappt wird, ist es nicht nur um sein Leben, sondern auch um seine Ehre geschehen, und dann wird man mir gern glauben, wenn ich sage, daß er gelogen habe. Dazu sollst du mir verhelfen und ich werde dich heute abend an meiner Gartenmauer erwarten, sobald der Siüt-schi angebrochen ist. Für jetzt aber wollen wir uns trennen. Der Ort ist zwar sehr einsam. Aus diesem Grunde und weil du hier im Sam-pan wohnst und mich in dieser Stadtgegend kein Mensch kennt, habe ich diese Stelle für unsere Zusammenkünfte gewählt. Aber es könnte doch jemand kommen. Hast du vielleicht noch eine Frage?«

»Nein.«

»Und ich kann mich auf dich verlassen?«

»So wie immer. Es ist ja nicht das erste Mal, daß ich für meinen hochgeehrten Alten stehlen gehe, und ich habe mich immer seines Beifalles erfreut. Also gehen wir. Tsing, tsing!«

»Tsing leao!«

Der Methusalem hörte, daß einer von ihnen sich entfernte. Es mußte der Vornehme sein, welcher von dem Diebe Wing-kan genannt worden war. Das laute Geräusch der Schritte konnte nur von Schuhen herrühren und der Verbrecher war ja barfuß.

Nach wenigen Minuten war ein anderes Geräusch zu hören. Es klang wie ein mit den Händen verursachtes Kratzen oder ein Reiben des Körpers an der Mauer. Der Blaurote trat schnell hinter den erwähnten Strauch und bückte sich nieder, so daß dieser ihn vollständig verbarg. Gleich darauf erschien das Gesicht des Diebes draußen über der Mauer. Er hatte emporklettern müssen, weil der Weg tiefer als der Garten lag. Der Mann mußte die zu seinem Handwerke so unentbehrliche Vor- und Umsicht besitzen. Er blickte herein, um zu sehen, ob das Gespräch vielleicht hier einen Zeugen gehabt habe. Als er niemand sah, sprang er wieder ab und entfernte sich.

 

Dem Methusalem war das, was er gehört hatte, von großem Interesse. Ein Gott, also ein Götzenbild, sollte aus einem Tempel gestohlen werden. Das war, wie der Dieb ganz richtig gesagt hatte, ein Verbrechen, auf welches das Gesetz die härteste, qualvollste Todesstrafe legte. Und für welchen Preis wagte der Mann sein Leben? Tausend Li sollten sein Anteil sein, also ungefähr sechs Mark nach deutschem Gelde!

Degenfeld fragte sich, ob die Sache ihn etwas angehe. Er antwortete mit ja. Ob ein Götze aus einem der vielen hiesigen Tempel entfernt würde oder nicht, das konnte ihm sehr gleichgültig sein; aber es handelte sich darum, daß ein Unschuldiger als schuldig hingestellt werden sollte. Es war Pflicht, dies zu verhüten. Aber wie? Nun, es lag sehr nahe, daß der Student sogleich an Tong-tschi, den Mandarin, dachte. Ihm wollte er erzählen, was er hier erlauscht hatte, und dieser mochte dann das weitere verfügen.

Er ging in die Gaststube zurück und erzählte seinen Gefährten das Begebnis, natürlich mit leiser Stimme, um von den anderen Gästen nicht gehört oder gar verstanden zu werden. Als er geendet hatte, sagte der Gottfried, indem er eine Grimasse zog und den Kopf schüttelte:

»Schönes Land, wo nicht mal die Jötter sicher vor den Spitzbuben sind! Wat sagen Sie dazu, Mijnheer »Wat ik zeg? Een god zal gemuist worden? Dat is voorbeeldelos; dat is nook niet daageweest – was ich sage? Ein Gott soll gemaust werden? Das ist beispiellos (vorbildlos); das ist noch nicht dagewesen.«

»Dat mögen auch schöne Jötter sind, die sich von so einem Spitzbuben ins Jemüse schleppen lassen! Aberst interessant ist es doch im höchsten Jrade. Kommen wir da nur so herjeschneit und werden augenblicklich schon Mitinhaber einer solchen Kriminalanjelegenheit! Wat jedenken Sie zu thun, oller Methusalem?«

»Was meinst du wohl?«

»Nun, ich würde mir eijentlich in diese jöttliche Sänftenwanderung jar nicht mischen und es dem Idol überlassen, sich selbst seiner Haut zu wehren; aberst da ein Unschuldiger ins Verderben jestürzt werden soll, so möchte ich jeraten haben, die Sache beim hiesigen ‚Staatsangwalting‘, wie unser Turnerstick sagen würde, zur Anzeige zu bringen.«

»Nun,« fiel der Kapitän schnell und eifrig ein, »ist dieses Wort etwa nicht richtig? Hat es etwa nicht ein ang und auch ein ing? Ich höre zu meiner Freude, daß Sie sich meine Lehren so nach und nach zu Herzen nehmen. Wenn Sie dabei beharren, werden Sie bald ein ebenso gutes Chinesisch reden wie ich selbst. Uebrigens stimme ich bei: Wir müssen Anzeige machen. Dieser Hu-tsin scheint ein ehrlicher Mann zu sein, während Wing-kan jedenfalls ein Schurke ist, da der Dieb schon öfters für ihn gestohlen hat. Was aber hat es denn mit den Ahnen auf sich? Ist das wirklich eine so tödliche Beleidigung?«

»Hier in China, ja. Schon bei uns daheim würde kein Ehrenmann seine Ahnen unbestraft beschimpfen lassen; hier aber ist es noch ein ganz anderes, da das Andenken an die Vorfahren geradezu als Kultus behandelt wird. Es ist eine der lobenswerten Eigenschaften des Chinesen, daß er seine Eltern in hohem Grade ehrt und den Verstorbenen eine nie ermüdende Pietät widmet. Ts‘in ts‘in, ‚die Eltern als Eltern behandeln‘, oder anders ausgedrückt, lao ngu lao, ‚ich behandle die Alten als Alte‘, gilt als unumstößliche Regel. Den Manen der Vorfahren ist ein besonderer Platz des Hauses gewidmet und geweiht, an welchem man ihnen zu gewissen Zeiten Opfer bringt. Alle Unehre und jede Ehre, welche dem Nachkommen widerfährt, fällt auch auf seine Ahnen zurück, die dann mit ihm gelobt oder verachtet werden. Die Stätte, an welcher sie begraben liegen, ist eine heilige und wird mit Fleiß gepflegt, solange ein Nachkomme vorhanden ist.«

»Aber wenn das nicht der Fall wäre?«

»Nun, dann gehen die Ueberreste freilich den Weg alles Fleisches; das Grab wird nicht mehr beachtet, und bald liegen die Knochen zu Tage und werden mit Füßen getreten. Jeder denkt eben nur an seine Ahnen; diejenigen anderer Leute gehen ihn nichts an. Es gibt hier herrlich angelegte Gottesäcker, aber es ist keineswegs religiöser Zwang, in einem solchen begraben zu werden. Der Chinese trachtet vor allen Dingen danach, nach seinem Tode in heimatlicher Erde oder gar im Boden seiner Provinz, seines Distriktes zu ruhen. Ob aber seine Leiche da einem Begräbnisplatze oder der freien Erde übergeben wird, das ist ihm gleich, wenn er sich nur vorher überzeugt hat, daß seine abgeschiedene Seele mit dem betreffenden Orte zufrieden ist.«

»Zufrieden? Hm! Sie kann ja nichts dagegen haben. Was wollte sie thun?«

»Sie sendet Unglück über Unglück auf die Nachkommenschaft und zwingt dieselbe, ihr eine andere Stelle anzuweisen, an welcher sie sich komfortabler eingerichtet fühlt. So wenigstens ist die Meinung der Chinesen. Jeder bestimmt, wo er begraben sein will. Hat er das aber versäumt, so wenden sich seine Anverwandten an gewisse Priester, welche in dieser wichtigen Angelegenheit bewandert sind. Sie reisen im Lande umher, natürlich auf Kosten der Anverwandten, besichtigen die Stellen, welche ihnen als geeignet erscheinen, und halten mit dem Geiste Zwiegespräch. Hat er ihnen dann den Punkt bezeichnet, so kehren sie zurück, um die Hinterlassenen zu benachrichtigen und die Ueberreste hinzuschaffen. Es versteht sich ganz von selbst, daß der Geist um so wählerischer ist, je wohlhabender seine Anverwandten sind und je besser sie die Priester bezahlen können.«

»Also ein kleines Geschäftchen dabei?«

»Ja. Sind die Verwandten sehr zahlungsfähig, so kommt es vor, daß der Geist seiner Begräbnisstelle überdrüssig wird, oder es stellt sich an derselben irgend ein Mangel heraus, von welchem er vorher nichts geahnt hat. Da ist ihm vielleicht die Aussicht nicht gut genug, oder die Stelle ist zu rauh oder feucht, so daß er des Nachts frieren muß. Scharfen Zug kann er nicht vertragen. Vielleicht ist in der Nähe eine Mühle angelegt worden, deren Klappern ihn in seiner Ruhe stört. Dann erscheint er dem Priester und sendet denselben zu den Hinterlassenen, damit diese ihm einen trockeneren, wärmeren, zugfreien und ruhigeren Ort suchen und seine Gebeine dorthin schaffen lassen. Abgeschiedene, welche besonders eigensinnig und empfindlich sind, müssen wiederholt begraben werden, bis die Verwandten endlich doch die Geduld verlieren und ihm sagen lassen, sie achteten und ehrten ihn außerordentlich, aber er möge nun auch sie in Ruhe lassen und von jetzt an verständig sein; sie seien entschlossen, für ihn nun keinen Li mehr auszugeben, da er ihnen schon mehr als genug gekostet habe.«

»Dat ist lustig!« lachte Gottfried von Bouillon. »Und dat jeschieht wirklich in allem Ernste?«

»Sehr!«

»Und wat lag in dem Worte Tsien für eine Beleidigung?«

»Auch eine große. Man unterscheidet in China nämlich drei Klassen der Bevölkerung. Die erste heißt Liang = die ehrenwerte; die zweite Tsien = die wertlose, und die dritte Man = die heimatslose. Diese Unterscheidung wird streng festgehalten. In die ehrenwerte Klasse gehören Tsu = der Adel, Nung = der Ackerbauer, Tsang = der Kauf- und Handelsstand, und endlich Kung = der Handwerker. Zur wertlosen Klasse zählen die Bedienten, Schauspieler, Sänger, Tänzer, Musikanten, Sträflinge, Leichenwäscher und Henker. Die Klasse der Heimatslosen umfaßt alle, welche keinen festen Wohnsitz haben, von einer Provinz zur anderen ziehen und also meist in den öffentlichen Herbergen leben. Wing-kan gehört als Goldschmied der ehrenwerten Klasse an. Sein Nachbar hat aber behauptet, daß die Ahnen desselben zu den Wertlosen gehört hätten, daß sogar einige von ihnen hingerichtet worden seien. Das ist eine höchst beleidigende Mißachtung, ja Beschimpfung der Verstorbenen. Doch habe ich alle Lust, zu glauben, daß der Beleidiger die Wahrheit gesagt hat. Dafür soll ihm ein gestohlenes Götzenbild im Garten vergraben werden. Findet man es, woran kein Zweifel sein kann, da sein Gegner wohl Anzeige machen wird, so ist er verloren. Wir müssen das verhüten. Ich bin gewillt, mit Tong-tschi darüber zu sprechen. Vielleicht ist es ihm möglich, die Wohnung der beiden noch vor Abend zu ermitteln.«