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Waldröschen I. Die Tochter des Granden

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Er bückte sich nieder, um den Eindruck, den die Last im weichen Moos gemacht hatte, sorgfältig zu betrachten. Das Moos hatte sich fast vollständig wieder erhoben, und es schien, als ob Sternau nicht mit sich ins klare kommen könne; da aber fiel sein Blick auf einen niedrigen Schlehdorn, rasch griff seine Hand danach, zog etwas vorsichtig von dem Dorn weg, und dann schnellte er empor. Sein Gesicht war bleich geworden, und erschrocken rief er aus:

»Wissen Sie, was für eine Last es war, die man vom Schloß holte und in den Wagen warf?« – »Mein Gott, Sir, Sie erschrecken mich!« antwortete Amy Lindsay. »Was war es denn?« – »Ein Mensch.« – »Ein Mensch?« wiederholte sie. »Nicht möglich!« – »Doch! Sehen Sie hier diese wenigen Haare, die ich an dem Dorn gefunden habe! Sie sind hängengeblieben, als man ihn niederlegte. Sie sind schwarz und lang, fast so, wie Señor de Lautreville sie trägt. Sie gehörten keiner Dame, sondern einem Herrn.«

Jetzt kam die Reihe zu erbleichen an die Engländerin.

»Señor de Lautreville?« fragte sie erschrocken. »Sir, es ist ein Unglück, ein Verbrechen geschehen! Lassen Sie uns eilen. Wir müssen fragen, wer von den Schloßbewohnern fehlt.« – »Hm!« antwortete er nachdenklich. »Ungewöhnlich erscheint mir diese Sache, sehr ungewöhnlich; aber auf ein Unglück oder gar ein Verbrechen möchte ich denn doch nicht so schnell schließen. Wir befinden uns nicht in einem amerikanischen Urwald; wir leben hier in geordneten Verhältnissen, und unser Spursuchen à la Savanne hat unsere Phantasie erhitzt.« – »Nennen Sie es auch geordnete Verhältnisse, daß man Sie hier im Park töten wollte und daß ich mit Rosa überfallen wurde?« fragte sie ängstlich. – »Das ist allerdings wahr«, antwortete er. »Kommen Sie, Miß, wir wollen eiligst umkehren!«

Sie gingen nun mit schnellen Schritten dem Schloß zu, dessen Bewohner sich unterdessen von ihrer Ruhe erhoben hatten.

»Bitte, Miß Amy, sagen Sie jetzt niemandem etwas«, bat Sternau. »Überlassen Sie die Angelegenheit einstweilen noch mir. Vor allen Dingen müssen wir den Grafen schonen. Er ist noch Patient und darf nicht aufgeregt werden. Begeben Sie sich nach dem Salon und schweigen Sie so lange, bis ich Sie wieder gesprochen habe.«

Amy versprach es ihm und schritt nach oben, während sich Sternau in die Wohnung des Portiers begab, wo, wie er wußte, um diese Zeit das Schuhwerk sämtlicher Bewohner des Schlosses gereinigt wurde. Er fand den Portier nebst dessen Gehilfen bei dieser Beschäftigung und zog wortlos und ohne ihnen eine Erklärung zu geben, das Zeitungsblatt hervor. Er fand sehr bald einen Herrenstiefel, der ganz genau zu der Zeichnung paßte, die er sich von dem Fußabdruck gemacht hatte.

»Wem gehört dieser Stiefel?« fragte er den Portier, der ganz erstaunt diesem ihm unerklärlichen Beginnen zugesehen hatte.

»Er gehört Señor Gasparino Cortejo«, lautete die Antwort

Hierauf begab sich der Arzt zum Kastellan, um weitere Erkundigungen einzuziehen. Er erfuhr hier, daß alle Bewohner von Rodriganda bereits wach seien, den Leutnant ausgenommen, den Alimpo noch nicht gesehen hatte.

»Kommt, Señor Castellano, wir wollen ihn wecken!« gebot er. – »Wecken?« fragte Alimpo ganz erstaunt. »Wird er es nicht übelnehmen, wenn wir ihn jetzt in seiner Ruhe stören?« – »Nein.«

Sie fanden die Wohnung des Leutnants unverschlossen und leer. In dem Schlafzimmer war das Bett noch unberührt, und verschiedene Anzeichen deuteten darauf hin, daß, wenn auch nicht ein Kampf hier stattgefunden hatte, sich doch etwas Ungewöhnliches ereignet haben müsse. Ein Stück starke Schnur lag am Boden; es schien das Ende einer alten Logleine zu sein, wie man sie braucht, um auszumessen, mit welcher Schnelligkeit ein Schiff segelt. Die Kopfbedeckung, die der Leutnant am gestrigen Abend getragen hatte, war vorhanden, aber sie lag auf der Diele.

Jetzt schien es dem Arzt als gewiß, daß Señor de Lautreville etwas zugestoßen sei. Er erkundigte sich im Schloß sehr genau und erfuhr, daß ihn heute noch niemand gesehen hatte. Kurz entschlossen begab er sich nach der Wohnung Cortejos. Er ließ sich nicht anmelden, sondern trat nach kurzem Klopfen sogleich ein. Der Sachwalter war beschäftigt, seine Morgenzigarette zu rauchen, er schien sehr erstaunt über den frühen Besuch zu sein und fragte, als ein kurzer Gruß gewechselt war:

»Ah, Señor Sternau! Womit kann ich dienen?« – »Mit einer Auskunft, die ich mir erbitten möchte«, antwortete der Gefragte. – »So redet; aber macht es kurz! Ich bin nicht gewöhnt, mich zu einer so ungewöhnlichen Stunde stören zu lassen.«

Cortejo sagte diese Worte in strengem Ton und mit einer Miene, die kaum feindseliger sein konnte. Sternau ließ sich dadurch keineswegs beirren, er trat hart an den Sachwalter heran, faßte denselben scharf und fest in die Augen und erwiderte:

»Ich werde gewiß nicht weitschweifig sein, Señor, sobald eure Antwort so kurz und aufrichtig ist, wie meine Frage: Wo ist der Leutnant Señor de Lautreville?«

Diese Frage hatte der Sachwalter nicht erwartet. Er erbleichte sichtlich, und es dauerte eine Zeit, ehe er sich zusammenraffte. Dann jedoch meinte er mit desto größerem Nachdruck:

»Señor Sternau, ich glaube, Ihr seid in ein unrechtes Zimmer gekommen. Was geht mich dieser Lautreville an!« – »Jedenfalls ebensoviel als jeden anderen Bewohner Rodrigandas. Der Leutnant ist nämlich verschwunden und nicht aufzufinden.« – »Ah! Verschwunden? So sucht ihn, Señor. Wenn er sich wirklich salviert hat, so wundere ich mich nicht darüber. Ich habe ihn sogleich für einen Abenteurer gehalten.« – »Ah, pah, es gibt hier andere Abenteurer als den Leutnant«, antwortete Sternau ruhig. »Wer waren die Männer, mit denen Ihr den Verschwundenen überfallen und nach dem Wagen geschafft habt, der an der Grenze des Parkes wartete?«

Wäre ein Blitz vor ihm niedergeschlagen, so hätte der Sachwalter nicht mehr erschrecken können als jetzt bei dieser Frage. Er hatte geglaubt, daß alles vollständig unbemerkt geschehen sei, und mußte nach der Frage Sternaus nun vermuten, daß es einen Lauscher gegeben habe. Er zuckte erschreckt zusammen und griff mit der Hand nach der Lehne des neben ihm stehenden Stuhls, um sich darauf zu stützen. Im nächsten Augenblick aber dachte er daran, daß man doch jedenfalls versucht haben würde, die Tat zu verhindern; dies war nicht geschehen, folglich hatte es keinen Beobachter gegeben, und die Frage Sternaus gründete sich jedenfalls auf eine bloße Vermutung, deren Veranlassung wohl noch zu erfahren war. Dies gab dem Advokaten seine Fassung wieder, und er antwortete mit möglichster Kaltblütigkeit.

»Seid Ihr verrückt, Señor, oder wandelt Ihr mondsüchtig am hellen, lichten Tag? Macht Euch von dannen, sonst helfe ich mir, wie ich kann!«

Sternau lächelte bei dieser Drohung und antwortete:

»Señor Cortejo, wir wollen aufrichtig sein. Bereits seit ich Euch zum ersten Mal sah, habe ich Euch unendlich liebgewonnen. Ich habe Euch daher im stillen beobachtet und bin zu der Überzeugung gekommen, daß Ihr diese Liebe vollständig verdient. Ich will Euch mit derselben jetzt nicht länger beschwerlich fallen, besonders da es nur meine Absicht war, Euch zu zeigen, daß ich Euren wirklichen Wert erkenne. Wenn jedoch meine Liebe zu Euch zu groß werden sollte, daß ich mich nicht mehr beherrschen kann, dann nehmt es mir nicht übel, wenn ich Euch vor lauter Zuneigung umarme und – erdrücke. Bei Gott, Señor!«

Nach einer kurzen und ironischen Verneigung verließ er das Zimmer.

Der Advokat blieb in einer sehr unangenehmen Stimmung zurück.

»Was war das?« fragte er sich. »Welch ein Hohn! Dieser Mensch durchschaut mich, er blickt mir in die Karte. Ich muß ihn unschädlich machen. Woher weiß er, daß Fremde hier gewesen sind, die den Leutnant nach dem Wagen geschafft haben, und daß ich dabei war? Ah, er soll noch heute so viel von dem fremden Gift bekommen, daß er genug hat. Es ziehen sich überhaupt finstere Wolken über mir zusammen; aber ich werde sie zerteilen. Auch der Graf soll einige Tropfen des Gifts haben. Eigentlich sollte ich ihn töten, aber ich muß mich überzeugen, ob das Gift wirklich wahnsinnig macht, und der Wahnsinn ist ebenso schlimm wie der Tod. Der Wahnsinnige kommt unter Kuratel, und Alfonzo wird dann den ungeheuren Besitz antreten, gerade so, als ob der Graf gestorben wäre. Bei Gott, ich werde siegen, trotzdem sich Feinde auf allen Seiten gegen mich erheben!«

Während Cortejo auf diese Weise monologisierte, rief Sternau die hervorragendsten Bewohner des Schlosses, den Grafen Emanuel ausgenommen, zusammen und teilte ihnen mit, daß der Leutnant de Lautreville verschwunden sei. Diese Kunde brachte eine außerordentliche Aufregung hervor, besonders als er erwähnte, daß er im Park Spuren entdeckt habe, die auf eine gewaltsame Entführung schließen ließen. Seinen Verdacht gegen den Advokaten verschwieg er einstweilen noch.

Am tiefsten ergriffen war die Engländerin. Sie beschwor den Arzt, doch alles anzuwenden, um das Dunkel aufzuklären. Er hingegen bat die Anwesenden, den Grafen ja nichts von der Angelegenheit merken zu lassen. Man beriet sich über die geeignetsten Mittel, den Leutnant wieder aufzufinden, und gab zu, daß die Möglichkeit doch immerhin vorhanden sei, daß Lautreville sich freiwillig entfernt habe. Ja, es konnte sogar angenommen werden, daß er sich auf einem Morgenspaziergang befinde, während man sich in dieser Weise um ihn sorgte. Die Spuren im Park konnten sich ja auf ein ganz anderes und ganz gewöhnliches Ereignis beziehen. Darum wurde beschlossen, den heutigen Tag noch abzuwarten und erst nachher über den Verschwunden zunächst in Paris, welche Stadt er als seine Garnison angegeben hatte, Erkundigungen einzuziehen.

Sternau war mit diesem Entschluß einverstanden, nahm sich jedoch im stillen vor, nichts zu versäumen, was Licht in das Dunkel bringen könne. Darum erbat er sich von dem Grafen unter dem Vorgeben, daß er in einer unaufschiebbaren Angelegenheit nach Barcelona müsse, einen Urlaub und ließ sich ein Pferd satteln. Nachdem er sich von dem Diener des Leutnants nochmals hatte versichern lassen, daß auch diesem das unbegreifliche Verschwinden seines Herrn ein Rätsel sei, stieg er in den Sattel und verließ das Schloß.

 

15. Kapitel

»Kennst du die Nacht, die auf die Erde sinkt

Bei hohlem Wind und scheuem Regenfall,

Die Nacht, in der kein Stern am Himmel blinkt,

Kein Aug‘ durchdringt des Nebels dichten Wall?

So finster diese Nacht, sie hat doch einen Morgen,

Oh, lege dich zur Ruhe und sei ohne Sorgen!

Kennst du die Nacht, die auf das Leben sinkt,

Wenn dich der Tod aufs letzte Lager streckt,

Und nah‘ der Ruf der Ewigkeit erklingt,

Daß dir der Puls in allen Adern schreckt?

So finster diese Nacht, sie hat doch einen Morgen,

Oh, lege dich zur Ruhe und sei ohne Sorgen!

Kennst du die Nacht, die auf den Geist dir sinkt,

Daß er vergebens laut um Hilfe schreit.

Die schlangengleich sich ums Gedächtnis schlingt

Und tausend Teufel ins Gehirn dir speit?

Oh, sei vor ihr ja stets in wachen Sorgen,

Denn diese Nacht allein hat keinen Morgen!«


Auch der Advokat hatte mit Alfonzo und der Schwester Clarissa der Beratung im Schloß beigewohnt Er hatte da erfahren, warum der Verdacht Sternaus gerade auf ihn gefallen sei, und nahm sich desto fester vor, den Arzt unschädlich zu machen. Als er hörte, daß für den letzteren ein Pferd gesattelt werde, vermutete er sofort, daß der Ritt Sternaus mit dem Verschwinden des Leutnants im Zusammenhang stehe. Vielleicht wollte der Arzt die aufgefundene Spur weiter verfolgen; darum verließ der Advokat noch vor ihm das Schloß und eilte auf einem Umweg nach der Stelle, wo während der Nacht der Wagen gestanden hatte. Er brauchte nicht lange zu warten, so sah er seinen Gegner kommen.

Sternau hatte geahnt, daß er beobachtet werde und deshalb den Weg nach dem Dorf eingeschlagen, dann jedoch war er zur Seite abgebogen und kam nun zu der erwähnten Stelle, um die Spur von neuem aufzunehmen. Er brauchte, um das Wagengleis zu erkennen, gar nicht vom Pferd zu steigen und ritt der Fährte nach, ohne den verborgenen Lauscher zu bemerken. Dieser ließ ihn fortreiten und kehrte nach dem Schloß zurück.

»Es ist so, wie ich dachte«, murmelte er ergrimmt in sich hinein. »Er geht der Spur nach, wird sie aber auf der nächsten Straße, wo so viele Gleise zusammenfuhren, sicher bald verlieren. Dennoch aber darf ich nicht langsam sein, ich muß schnell handeln, um allen Eventualitäten zuvorzukommen.«

Als Cortejo das Schloß wieder betreten hatte, begegnete er einem Diener, der die Morgenschokolade nach dem Zimmer des Grafen Emanuel trug, und zugleich bemerkte er, daß Gräfin Rosa zu dem Kastellan ging, jedenfalls um mit Frau Elvira die wirtschaftlichen Vorkommnisse des laufenden Tages zu besprechen.

Ah, dachte er, jetzt ist der Graf allein; also jetzt oder nie!

Er eilte nach seiner Wohnung, um das Fläschchen, das Kapitän Landola ihm gegeben hatte, zu sich zu stecken. Sodann nahm er ein kleines Aktenheft zur Hand und begab sich damit zu seinem Gebieter.

Der Graf saß ganz allein an seinem Frühstückstisch, und da nur ein Gedeck aufgelegt war, so ließ sich vermuten, daß seine Tochter nicht so bald zurückerwartet werde. Er trug zwar einen Schirm über den Augen, um sie noch einige Zeit zu schonen, doch war sein Aussehen ein recht befriedigendes, und der freundliche Zug um seinen Mund gab die Gewißheit, daß er sich in einer recht guten Stimmung befinde.

»Guten Morgen, Cortejo, Ihr kommt mir wie gerufen«, begrüßte er den Advokaten bei seinem Eintritt. »Ich wollte nach dem Frühstück Euch zu mir rufen lassen.« – »Ich stehe Eurer Erlaucht zu jeder Zeit und mit allen Kräften zu Diensten«, antwortete der Sachwalter im Ton der tiefsten Ergebenheit. – »Ich weiß es, Cortejo. Ihr habt mir lange Jahre treu und ehrlich gedient, und ich hoffe, daß die Zeit kommt, wo ich Euch dankbar sein kann. Ich mag zuweilen einmal unleidlich gewesen sein, das muß auf Rechnung meiner Krankheit geschrieben werden, sonst aber bin ich Euch stets wohl gewogen gewesen. Und heute, da mir das kostbare Licht meiner Augen wiedergegeben ist, fühle ich, wie schön es ist, die Seinen alle glücklich zu sehen. Habt Ihr vielleicht eine Bitte?« – »Ja, Erlaucht.« – »So sprecht sie aus. Ich bin gern bereit, Euch eine Freude zu bereiten.« – »Don Emanuel, ich spreche niemals einen Wunsch aus, der mich selbst betrifft«, meinte der Notar mit stolzem Nachdruck. »Meine Bitte betrifft eine rein geschäftliche Angelegenheit. Darf ich den Entwurf zum neuen Kontrakt für den Pächter Antonio Firenza vorlesen?« – »Vorlesen? Hm, ich möchte doch einmal versuchen, ob ich ihn selbst lesen kann. Doktor Sternau ist nicht da, er ist nach Barcelona geritten und wird mich also nicht überraschen, wenn ich seinem Befehl einmal ungehorsam bin. Gebt den Kontrakt her!«

Cortejo überreichte das Aktenheft. Warum zitterte seine Hand dabei? Die Worte des Grafen waren schuld an der Schwäche, die sich seiner für einen kurzen Augenblick bemächtigte. Also der Arzt war nach Barcelona gegangen. Warum? Wußte er bereits, daß der Geraubte dorthin transportiert worden war? Dieser Sternau war ein höchst gefährlicher Mensch. Cortejo beschloß im stillen, ihm nachzureisen und ihn in Barcelona zu beobachten, vielleicht auch ganz zu beseitigen.

Der Graf hatte inzwischen das Papier zur Hand genommen und war mit demselben an den Schreibtisch getreten, wo er sich niederließ. Er gab dem Notar mit der Hand ein Zeichen, auch Platz zu nehmen, und begann dann die Lektüre des Kontrakts. Seiner schwachen Augen wegen war das Fenster noch immer von einem Vorhang verhüllt, so daß in dem Zimmer ein magisches Halbdunkel herrschte. Aus der Freude darüber, seine Augen nach so langer Blindheit wieder gebrauchen zu können, las er laut, wie um seine eigene Stimme zu hören.

Cortejo hatte sich zum Sitz einen Sessel gewählt, der ganz nahe am Frühstückstisch stand, so daß er mit der Hand die Tasse des Grafen erreichen konnte. Während die laute Stimme des Grafen jedes andere leise Geräusch unhörbar machte, zog er das Fläschchen hervor und öffnete es. Der Graf kehrte ihm den Rücken zu. Cortejo erhob sich ein wenig und streckte den Arm mit dem Fläschchen aus. Wurde er entdeckt, so war sehr leicht eine Ausrede gefunden. Er hielt das Fläschchen über die Tasse, hob es vorsichtig und zählte zwei Tropfen ab, die in die Schokolade fielen. In diesem Augenblick hatte Don Emanuel einen größeren Satz beendet und drehte sich herum, ganz unwillkürlich, als ob er sehen wolle, ob Cortejo ihm auch aufmerksam zuhöre. Er sah die Hand des Sachwalters über der Tasse schweben.

»Señor, was tut Ihr?« fragte er überrascht. – »Verzeihung, Erlaucht; es war nur eine Fliege, die ich verjagte!« antwortete der Giftmischer gefaßt. Er hatte das Fläschchen so in der hohlen Hand, daß der Graf es mit seinen ohnehin schwachen Augen nicht zu sehen vermochte. Darum drehte sich dieser befriedigt wieder um, las weiter und sagte, als er geendet hatte:

»Der Kontrakt ist ganz nach meinem Wunsch. Ich werde ihn unterschreiben. Besorgt ihn zu dem Pächter, damit auch dieser seine Unterschrift gibt.«

Dann trat er an den Tisch und griff zur Tasse. Cortejo hatte sich erhoben und folgte mit gespanntem Auge den Bewegungen des Grafen. In seinem Blick lag kein Erbarmen, keine milde Regung und keine Reue, sondern nur die kalte, gefühllose Gier des Raubtiers. Jetzt hob der Graf die Tasse zum Mund, setzte sie an, trank und leerte sie bis zum letzten Tropfen, um sie dann wieder abzusetzen. Ein Seufzer der Erleichterung, der Befriedigung klang leise durch das Zimmer, er kam aus dem Mund des Advokaten, der nun mit dem demütigen Ton eines Dieners den Grafen fragte, ob er noch etwas zu befehlen habe. Dieser antwortete:

»Ich habe allerdings eine kleine Arbeit für Euch, Señor Cortejo. Ich beabsichtige nämlich, den Doktor Sternau länger an mein Haus zu fesseln. Setzt doch einmal eine Bestallung auf, ähnlich wie sie dem Doktor Cielli vorgelegt wurde, aber bemerkt dabei ein jährliches Gehalt von dreitausend Duros. Ich werde sie dem Doktor Sternau vorlegen, um zu sehen, ob er sie akzeptiert.« – »Ich werde mich noch heute an die Arbeit machen, Erlaucht. Dürfte ich mir die Frage erlauben, ob zu diesem Gehalt außerdem noch vollständig freie Station auf Rodriganda kommt?« – »Das versteht sich! Haltet Ihr diese Stellung für zu glänzend? Señor Sternau hat sie verdient. Leider ist es noch sehr die Frage, ob er sie annehmen wird. Für jetzt sind wir fertig. Lebt wohl!«

Der Notar entfernte sich nach einer tiefen Verbeugung. In seinem Zimmer angekommen, warf er den wieder mit zurückgebrachten Kontrakt mit einem höhnischen Lachen auf den Tisch und sagte grollend: »Dreitausend Duros! Da könnte dieser Mensch leben wie ein Baron. Aber es soll ihm nicht so wohl werden. Die Bestallung wird nicht ausgearbeitet. Ich werde ihm jetzt sofort nach Barcelona folgen. Während meiner Abwesenheit wirkt die Medizin, und auf mich wird kein Verdacht fallen, da ich ja nicht hiergewesen bin.«

Kaum eine halbe Stunde später ritt er auf der Straße dahin, die vor ihm Sternau eingeschlagen hatte. Es begann mit diesem Ritt eine neue Episode im Kampf des Bösen gegen das Gute.

Und abermals eine halbe Stunde später kam der Kastellan aus seiner hochgelegenen Wohnung herab, um sich für heute die Befehle des Grafen zu erbitten. Er gehörte zu denjenigen, die sich nicht anmelden zu lassen brauchten, und trat daher wie gewöhnlich, ohne den Diener voran zu senden, in das Zimmer. Doch er wäre vor Schreck beinahe sofort aus demselben entflohen, denn der Graf kauerte wie ein Tier in der äußersten Ecke und stieß ein klägliches Wimmern aus.

»Oh, tut mir nichts – nichts – nichts!« bat er jammernd. »Ich weiß ja nicht, wer – wer – wer ich bin!«

Der Kastellan war kein Held, aber die Liebe zu seinem guten Herrn gab ihm Mut zu bleiben.

»Erlaucht! Don Emanuel!« rief er. »Ich komme, um zu fragen …« – »Oh, fragt doch nicht!« bat der Graf, ihn unterbrechend. »Ich weiß – weiß – weiß es ja nicht mehr!« – »Mein Gott!« rief der Kastellan. »Was ist hier geschehen! Mein lieber, teurer Don Emanuel, steht doch auf! Erlaubt, daß ich Euch aufrichte!«

Damit näherte er sich dem Grafen; dieser drückte sich jedoch noch tiefer in die Ecke hinein, streckte seine Hände abwehrend aus und schrie:

»Bleibt fort von mir! Tut mir nichts – nichts, nichts! Ich weiß es ja nicht – nicht – nicht!« – »Aber Erlaucht, kennt Ihr mich denn nicht mehr? Ich bin ja Euer treuer Alimpo!« – »Alimpo? A-limpo?« fragte der Graf sinnend, richtete sich dann langsam empor, trat einen Schritt vor und fügte hinzu: »Alimpo, ja richtig! Ich bin der treue Alimpo. O ja, jetzt weiß – weiß – weiß ich es. Ich bin Alimpo!«

Seine starren Augen erhielten einen belebteren Ausdruck. Er schritt leise im Zimmer auf und ab, ohne den Kastellan weiter zu beachten, und murmelte bald mit freudigem, bald aber auch mit schmerzlichem Ausdruck:

»Ja, ja, ich bin der treue Alimpo, ja, ja, jetzt weiß ich es. Mein Name ist Alimpo!«

Jetzt geriet der Kastellan in solche Angst, daß er schleunigst fortlief, und zwar zu seiner Elvira. Es gab ja niemand, dem er das, was er gesehen hatte, besser anvertrauen konnte als ihr. Sie befand sich gerade beim Plätten eines Wäschestücks, als er bei ihr eintrat.

»Elvira!« rief er, vom schnellen Laufen ganz außer Atem. – »Was gibt es?« fragte sie. – »Oh, meine Elvira!«

Jetzt erhob sie die Augen von ihrer Arbeit und ließ bei dem Besorgnis erregenden Anblick ihres Mannes die glühendheiße Plättglocke mit einem lauten Krach zu Boden fallen.

»Heilige Madonna!« jammerte sie. »Was ist geschehen? Du siehst ja ganz verzweifelt aus, mein Alimpo!« – »Ja, ja, ganz verzweifelt!« ächzte er, nach Luft schnappend. »Über den Grafen. Er ist – o ach! Er ist – er ist verrückt geworden!«

Elvira trat einen Schritt zurück und öffnete den Mund, um etwas zu sagen; aber das Wort kam nicht heraus, und der Mund blieb offenstehen.

»Ja, ja, verrückt geworden, vollständig verrückt!« ergänzte der Kastellan.

Erst jetzt bei der Wiederholung des Schrecklichen, fand Elvira die Sprache wieder, aber es war kein Klagelaut, den sie ausstieß, sondern sie sagte in einem strengen, entrüsteten Ton:

»Mein teurer Alimpo, du selbst bist verrückt!« – »Ich?!« fragte er beinahe zornig. »Höre, liebe Elvira, solche Anzüglichkeiten muß ich mir verbitten! Der Graf ist in der Tat verrückt!« – »So! Und wer hat dir dies weisgemacht?« fragte sie mit examinatorischer Miene und Stimme.

»Niemand. Ich habe es selbst gesehen.« – »Unmöglich! Wer weiß, was du gesehen hast, mein teurer Alimpo!«

 

Ein solcher Zweifel war zu viel für ihn. Er faßte seine dicke Gattin am Arm, um sie aus dem Zimmer zu ziehen, und sagte:

»Komm mit, Elvira, du sollst sehen, daß ich recht habe.« – »Ja, gleich!« antwortete sie. »Laß mich nur erst den Plättstahl aufheben!«

Dann nahm sie die Plättglocke vom Boden auf, in den dieselbe bereits einen schwarzen Fleck gesengt hatte, brachte sie in Sicherheit und folgte ihrem Mann nach dem Zimmer des Grafen. Dort angekommen, fanden sie denselben noch immer mit leisen, heimlichen Schritten in dem Raum auf und ab gehend und dabei vor sich hinsagend:

»Ja, ja, tut mir nichts, denn jetzt weiß – weiß – weiß ich es, ich bin der treue Alimpo!«

Der Graf sah so verstört aus, daß gar kein Zweifel möglich war, daß plötzlicher Wahnsinn aus ihm redete.

Die Kastellanin hatte kaum den ersten Blick auf ihn geworfen, so schlug sie die Hände zusammen und schrie:

»Oh, heilige Madonna, es ist wahr; er ist wahnsinnig!«

Darauf sank sie, keiner Bewegung fähig, in einen Stuhl. Der Graf hatte ihre Stimme gehört; er wandte sich mit einem unheimlichen, gläsernen Blick um.

»Wahnsinnig?« fragte er. »Wer? Ich bin Alimpo – Alimpo – Alimpo – ja, der treue Alimpo!«

Dann setzte er sein Hin- und Hergehen wieder fort.

»Laufe, laufe, Alimpo!« stöhnte die Kastellanin. »Hole schnell die gnädige Condesa herbei!«

Alimpo folgte diesem Gebot und fand nach einigem Suchen Rosa in dem Zimmer der Engländerin. Auch sie sah es ihm sogleich an, daß etwas Böses geschehen sein müsse, und fragte ihn:

»Welche Eile, Alimpo! Was gibt es?« – »Oh, meine gnädige Condesa, erschreckt ja nicht!« bat er, beinahe zitternd. – »Mein Gott, das klingt ja höchst beunruhigend! Rede schnell, Alimpo; was ist geschehen?« – »Etwas Fürchterliches, etwas ganz Fürchterliches!«

Rosa war von ihrem Sitz aufgesprungen und faßte den Kastellan bei der Schulter. »Es ist – es ist jemand – verrückt geworden!« stammelte er. – »Verrückt? Meinst du wahnsinnig?« fragte sie im Ton des Unglaubens. – »Ja, wahnsinnig!« nickte er. – »Unmöglich! Der Wahnsinn kommt nicht wie ein Dieb in der Nacht« – »Und doch ist er wahnsinnig«, behauptete der Kastellan. »Meine Elvira sagt das auch.« – »Aber wer denn?« – »Oh, meine teure Condesa, verzeiht mir, daß ich es Euch sagen muß! Es wird Euch großen Schmerz bereiten. Ich spreche von Don Emanuel.« – »Mein Vater?« fragte Rosa, ganz starr vor Erstaunen. – »Ja.« Da lächelte sie und antwortete:

»Mein guter Alimpo, da liegt jedenfalls ein gewaltiger Irrtum vor.« – »Nein, nein«, beteuerte er. »Don Emanuel ist wirklich wahnsinnig. Meine Elvira hat ihn auch gesehen. Sie ist sogar noch jetzt bei ihm.« – »Wie zeigt sich denn sein Wahnsinn?« fragte Rosa, noch immer lächelnd. – »Er knurrte wie ein Hund in der hintersten Ecke, als ich zu ihm kam. Er hatte starre, angstvolle Augen; er wimmerte und bat mich, ihm ja nichts zu tun. Er hatte vergessen, wer er ist, jetzt aber hält er sich für mich, für den Kastellan Alimpo.«

Rosa blickte den Sprecher ungläubig an, plötzlich jedoch ergriff sie wortlos den Arm der Freundin und zog diese im eiligsten Lauf mit sich fort. Der Kastellan folgte. Als sie die Wohnung des Unglücklichen betraten, saß die Kastellanin noch immer händeringend auf dem Stuhl; der Graf aber schritt katzengleich im Zimmer auf und ab und wiederholte fortwährend dieselben Worte.

Rosa hatte bis zu diesem Augenblick an irgendeinen drolligen Irrtum geglaubt desto größer aber war der Schlag, der sie beim Anblick ihres Vaters traf. Es wurde ihr schwarz vor den Augen, sie griff mit den Händen in die Luft, um einen Halt zu suchen, und sank in die Arme Amy Lindsays. Die Ohnmacht wollte sich ihrer Sinne bemächtigen, aber sie raffte sich zusammen, machte sich von der Freundin los und stürzte auf den Grafen zu.

»Vater, um Gottes willen, was hast du, was ist mit dir?« rief sie.

Der Graf blieb stehen und blickte sie mit seinen stieren, ausdruckslosen Augen an.

»Was mit dir ist?« fragte er. »Ich weiß es nicht Du brauchst mir nichts zu tun, denn ich bin ja der treue Alimpo!«

Er sprach diese Worte langsam und monoton, ohne allen Ausdruck.

»Vater, Vater!« jammerte sie, die Arme um ihn schlingend. »Was ist geschehen? Du bist krank. Kennst mich nicht?« – »Kennen?« fragte er, leise mit dem Kopf schüttelnd. »Ich kenne niemand. Ich bin Alimpo.« – »Nein, du bist nicht Alimpo«, rief sie. »Du bist mein Vater, mein lieber, lieber Vater. Komm und besinne dich!«

Mit lautem, herzzerbrechendem Weinen warf sie sich an seine Brust; sie streichelte ihm die Wangen und das wirre Haar, sie küßte ihm den Mund und die erkaltete Hand, sie drängte sich mit ihrer ganzen Liebe und ihrem ganzen Schmerz an ihn. Er aber blieb teilnahmslos in ihren Armen, wehrte sie endlich von sich ab und sagte:

»Du brauchst mich nicht zu erdrücken, du brauchst mir nichts zu tun, denn ich weiß nun, wer ich bin. Ich bin Alimpo, ja, der treue Alimpo!«

Das war zu viel. Mit einem stöhnenden Schluchzen sank Rosa auf den Diwan; ihre Freundin eilte herbei und schlang laut weinend die Arme um sie, und auch der Kastellan nebst seiner Frau weinten trostlos, als ob sie beide Kinder seien. Der Graf aber stand vor ihnen, blickte sie mit gläsernen, geistlosen Augen an und sagte:

»Weint nicht! Ich habe euch ja nichts getan. Ich bin der treue Alimpo.« – »Oh, mein Gott, was sollen wir tun?« jammerte Rosa, vor Schmerz ganz fassungslos. – »Ist Señor Sternau denn nicht da?« fragte Amy unter Tränen.

Da sprang Condesa Rosa auf.

»Sternau!« rief sie. »Oh, wie konnte ich den vergessen! Ja, nur er allein kann helfen, er allein wird helfen. Aber er ist nach Barcelona. Alimpo, rasch einen Boten ihm nach! Er soll sofort umkehren.« – »Nach Barcelona?« fragte der Kastellan, bereits auf dem Sprung. »Wo ist er da zu finden?« – »Ach Gott, das weiß ich nicht! Schicke drei, vier, fünf Boten. Sie mögen jagen, sie mögen die Pferde totreiten, wenn sie ihn nur finden. Schnell, schnell! Hier ist jede Minute kostbar.«

Rosa dachte nicht an ihren Bruder, sie dachte an niemand, als nur an den Geliebten. Der Kastellan stürzte förmlich nach den Ställen, und nach kaum zwei Minuten jagten drei Boten auf den schnellsten Pferden aus Rodriganda fort.

Graf Alfonzo stand in dem Zimmer der Schwester Clarissa am Fenster. Als er die Reiter sah, wandte er sich an die fromme Dame mit der Bemerkung:

»Es muß etwas Ungewöhnliches geschehen sein, Mutter. Der Graf sendet soeben drei Expresse ab.« – »Ah! Wohin?« – »Das läßt sich nicht sagen. Sie eilten rechts nach der Straße von Mataro oder Barcelona hinüber.« – »Ich könnte mir keine Veranlassung denken. Willst du dich nicht einmal erkundigen, mein Sohn? In unserer Lage ist alles von Bedeutung, zumal ein so ungewöhnliches Ereignis wie die Absendung von drei Boten zugleich. Wer unter so sündhaften Menschen lebt, kann nicht vorsichtig genug sein.«

Alfonzo öffnete ein Fenster und winkte den Kastellan herauf, der in diesem Augenblick aus den Ställen heimkehrte.

»Wer hat die drei Reiter abgesandt?« fragte er, als Alimpo eingetreten war. – »Ich, gnädiger Herr«, antwortete Alimpo. – »Wohin?« – »Nach Barcelona.« – »In welchem Auftrag?« – »Die gnädige Condesa hat es befohlen.« – »Ah! Was sollen diese Leute denn in Barcelona? Drei zu gleicher Zeit!« – »Sie sollen Señor Sternau suchen.«

Der Kastellan hatte nicht die mindeste Sympathie für Alfonzo; darum ließ er sich seine kurzen Antworten von ihm förmlich abkaufen.

»Warum soll der Arzt gesucht werden?« fragte der junge Graf weiter. – »Seine Erlaucht, Don Emanuel, sind plötzlich erkrankt Ich glaube, daß er wahnsinnig geworden ist.« – »Wahnsinnig? Donnerwetter!« Diesen Fluch stieß Alfonzo im Ton des Schrecks aus, ein aufmerksamer Beobachter aber hätte sehr leicht bemerken können, daß sein Auge wie unter einer unerwarteten Freude aufleuchtete. Dann sagte er zu dem Kastellan: »Es ist gut. Ich werde sofort erscheinen!«