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Winnetou 4

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»Es ist uns geläufig«, fiel das Herzle schnell ein. »Es hat sich auch in uns selbst, ohne Zutun Anderer, gebildet. Wir haben oft, sehr oft darüber gesprochen, daheim und auch hier im Land. Das letzte Mal am Niagara selbst, mit Athabaska und Algongka, den Häuptlingen der – – —«

»Mit Athabaska?« fuhr der »junge Adler« in froher Überraschung auf.

»Ja.«

»Und mit Algongka?«

»Auch mit ihm.«

»Zu gleicher Zeit?«

»Zur gleicher Zeit. Sie waren beisammen.«

Diese Nachricht ließ ihn von seinem Sitz aufspringen. Seine Freude war so groß, daß er gar nicht daran dachte, daß ein Indianer sich weder vom Schmerz noch von der Freude überwältigen lassen darf.

»Sie waren beisammen, beisammen! » rief er aus. »Der Eine hat die mühselige, weite Reise zu dem Andern gemacht! Dann sind beide nach dem Niagara gekommen, dem großen, erschütternden Bild unserer Vergangenheit und Gegenwart. Und dann – – dann – —. Wißt Ihr, wohin sie von dort aus wollten?«

»Nach dem Mount Winnetou.«

»Ist das wahr? Wißt Ihr das gewiß und wirklich, Mrs. Burton?«

»Gewiß und wirklich!« versicherte das Herzle, und ich bestätigte es.

Da legte er die Hände zusammen, hob den Blick empor, als ob er beten wolle, und sagte im Ton einer tief, tief innerlichen Freude:

»Nach dem Mount Winnetou! Gerettet – – gerettet – – gerettet!«

»Was ist gerettet, was?« fragte meine wißbegierige Gattin, die Klara, nicht das Klärchen.

Er zögerte mit der Antwort, gab sie aber doch, indem er sich langsam wieder niedersetzte:

»Der große Gedanke, der aus der Tiefe des Niagara sich erheben soll, ist gerettet.«

»So ist er also schon da? Ist schon gefunden?«

»Er brauchte nicht gefunden zu werden. Er ist schon längst, schon seit Jahrtausenden da. Er wurde mit in das Verderben, in den Sturz, in den Strudel des Niagara gerissen. Aber er wurde nicht zerschmettert und nicht zermahlen und nicht zermalmt wie wir, sondern grad als ihn die Wasser für immer verschlungen zu haben schienen, tauchte er rein, klar und wie ein Wunder glänzend aus ihren Wirbeln auf, um von den Nachkommen Derer erfaßt und festgehalten zu werden, die es einst der Mühe nicht für wert erachteten, ihn, den Gast aus Dschinnistan, in bleibenden Schutz zu nehmen.«

Er hatte in schöner, lieber Begeisterung gesprochen. Man sah und hörte ihm an, daß er mit seinem ganzen Denken und Fühlen bei dieser Sache war. Auch die neugierige Klara wurde wieder zum Klärchen, ja, zum Herzle, indem sie, ebenso enthusiasmiert wie er, ausrief:

»Ich weiß, was Ihr meint! Ich kenne ihn, diesen großen, rettenden Gedanken!«

»Das ist fast unmöglich«, warf er ein.

»O nein, o nein! Wir kennen diesen Gedanken wahrscheinlich schon eher, viel eher als Ihr! Ihr meint doch das Gesetz von Dschinnistan, nichts anderes: Ein jeder Mensch soll der Engel eines andern Menschen sein! Habe ich recht?«

Ein tiefes, aber frohes Staunen ging über sein Gesicht. Er rief aus:

»Wirklich, wirklich, Ihr habt mich begriffen! Wie ist das möglich, Mrs. Burton?«

»Weil wir dieses Gesetz, wie ich Euch schon sagte, ebenso kennen wie Ihr«, antwortete sie. »Und weil – – paßt auf, was ich Euch sage – – – weil wir Dschinnistan kennen und auch die Königin Marimeh, obwohl Ihr behauptet, daß nur die Roten das wissen, die Weißen aber nicht.«

Er wußte zunächst nicht, was er hierauf sagen sollte. Er sah mich fragend an.

»Sie hat recht«, bestätigte ich. »Wir wissen sogar den richtigen Namen der Königin. Sie heißt nicht Marimeh, sondern Marah Durimeh. Diese fünf Silben wurden im Laufe der Zeit von euch in drei zusammengezogen.«

»Wenn Ihr es sagt, Ihr selbst, dann muß ich es glauben«, erwiderte er. »Wie froh ich darüber bin, wie froh! Ihr kennt die Königin; ihr kennt Dschinnistan, und ihr kennt auch das große, das wunderbar einfache und doch allumfassende Gesetz dieses Landes. Da seid Ihr uns ja eine viel, viel größere und eine viel, viel wirksamere Hilfe als Athabaska und Algongka, die Ihr auch schon kennenlerntet! Wissen sie, wer Ihr seid?«

»Nein. Ich verschwieg es ihnen. Wir waren Mrs. und Mr. Burton, weiter nichts.«

Da strahlte sein sonst so ernstes Gesicht vor Vergnügen förmlich auf.

»Wie mich auch das erfreut, auch das!« sagte er. »Welch eine Überraschung, wenn man euch erkennt! Welch ein tiefer, schöner und beglückender Eindruck auf Tatellah-Satah, meinen geliebten Meister, wenn er erfährt, daß Old Shatterhand nichts Anderes will als er! Ihr wurdet gewünscht, aber doch gefürchtet, Mr. Burton!«

»Warum gefürchtet?«

»Weil Tatellah-Satah Euch äußerlicher nimmt, als Ihr seid. Weil er befürchtet, daß Ihr dem geplanten Denkmal, diesem Prunkwerk oberflächlicher und kurzsichtiger Denker, beistimmen werdet. Eure Stimme wiegt schwer; das weiß er, und das wissen wir alle. Fällt sie auf die Seite der Prahler, so erwartet uns anstatt der ersehnten Neugeburt die völlige Vernichtung. Die Seele unserer Nation, unserer Rasse ist erwacht. Sie streckt sich; sie bewegt sich. Sie beginnt zu denken. Sie will ihre Glieder als ein Einiges, als ein Zusammengehöriges, als ein großes Ganzes empfinden. Alle Einsichtigen streben nach diesem beseligenden, Stärke verheißenden Einheitsgefühl. Nun aber seht die Sioux, die Utahs, die Kiowas, die Komantschen! Sie greifen zu den Waffen, nicht gegen die Weißen, sondern gegen sich selbst, gegen ihre eigene Seele. Sie stehen bereit, diese Seele, die soeben erst im Erwachen ist, wieder niederzutreten, sie für immer zu vernichten. Warum?«

Er wollte diese seine Frage wohl selbst beantworten, aber das Herzle kam ihm schnell zuvor:

»Weil Old Surehand, Apanatschka, ihre Söhne und ihr Anhang das wohlberechtigte Nationalgefühl dieser Stämme verletzen, indem sie im Begriff stehen, dem Häuptling der Apatschen eine beispiellos überschwängliche Ehre zu erweisen, die ihm nicht gebührt.«

Da warf er einen erstaunten, ja fast erschrockenen Blick zunächst auf sie und dann auf mich. Es war, als ob er glaube, seinen Ohren nicht trauen zu dürfen.

»Wie sagte Mrs. Burton?« fragte er. »Sie nennt diese Ehre eine beispiellos überschwängliche?«

»Ja, das tue ich!« antwortete das Herzle.

»Und daß diese Ehre ihm nicht gebühre?«

»Auch das behaupte ich!«

»Und Ihr liebt unsern Winnetou, Mrs. Burton? Und Ihr achtet ihn?«

Er war sehr ernst geworden. Er hatte in diesem Augenblick das Aussehen, als ob sein Gesicht aus Marmor gehauen sei. Denselben Ernst zeigte auch meine Frau. Sie erwiderte:

»Ich liebe ihn, und ich achte ihn, wie außer meinem Mann keinen anderen Menschen!«

»Und doch sprecht Ihr von Ueberschwang und von Unverdienst?«

Er stand langsam wieder von seinem Sitze auf. Das Herzle tat ebenso. Das Gefühl, daß der gegenwärtige Augenblick ein hochwichtiger sei, ließ Beide nicht sitzen bleiben. Auch ich erhob mich von der Erde. Ich hatte nicht nur dieselbe Empfindung, sondern mir war sogar, als ob in diesem Augenblick eine Vorentscheidung getroffen werde, von welcher Vieles und Großes abhängig sei. Ich war dreimal älter als dieser junge Mann, aber es fiel mir trotzdem nicht ein, mich nun auch für dreimal klüger zu halten. Für mich personifizierte sich in ihm nicht nur die soeben beginnende Bewegung, die mit dem Wort »Jungindianer« bezeichnet worden war, sondern das Schicksal und die Zukunft der ganzen indianischen Rasse. Er war vier Jahre lang bei den Weißen gewesen und hatte es da, wie es schien, zu ungewöhnlichen Erfolgen gebracht. Er kannte Athabaska und Algongka. Er korrespondierte mit Wakon, dem Berühmten. Er war der Schüler und, wie ich vermutete, der Liebling von Tatellah-Satah, also der Nachfolger meines Winnetou im Herzen und in der Seele des größten Medizinmannes aller roten Nationen. Da mußte ich wohl bescheiden sein. Da hatte ich mich zu hüten, mich zu überheben. Er stand trotz seiner Jugend vollständig geistig ebenbürtig vor mir. Darum entließ ich meine Frau aus dem Gespräch und antwortete an ihrer Stelle:

»Grad weil wir ihn in dieser Weise lieben und in dieser Weise achten, darf und kann ich nicht dulden, daß man ihn mir für die Nachwelt lächerlich macht. Man baue sein Monument noch so hoch, in Wahrheit steht er noch höher! Man zeichne sein Abbild noch so schön, er selbst war tausendmal schöner! Wer ihm ein sichtbares Denkmal setzt, der erhöht ihn also nicht, sondern der zwingt ihn, herabzusteigen. Er entehrt ihn, anstatt ihn zu ehren. Winnetou war weder Gelehrter noch Künstler, weder Schlachtensieger noch König. Er besaß kein einziges öffentliches Verdienst. Wofür also ein Monument? Und wozu ein so beispiellos seltsames und kostspieliges? Ein so beispiellos schreiendes? Womit hat unser unvergleichlich edler Freund eine solche Kränkung, eine solche Beleidigung verdient? Es ist wahrlich keine Herabsetzung, wenn ich von ihm behauptete, er sei nicht Gelehrter oder Künstler, nicht Schlachtensieger oder König gewesen, denn er wahr mehr als das Alles: Er war Mensch! Er war Edelmensch! Und er war der erste Indianer, in dem die Seele seiner Rasse aus dem Todesschlaf erwachte. In ihm wurde sie neu geboren. Darum war er nur Seele und wollte nur Seele sein! Und darum hat er nur Seele zu sein und Seele zu bleiben! Weg also mit allen Monumenten! Er hat in unserem Herzen gewohnt und soll diese Wohnung behalten! Wer da glaubt, ihn uns aus dem Herzen reißen und in Metall oder Stein begraben zu können, der bekommt es mit uns zu tun! Verstanden? Er soll leben und leben bleiben, in mir, in uns, in Euch, in seinem Volke, in – – – der Seele seines Volkes, die in ihm zu neuem Bewußtsein kam, und zwar zu dem Bewußtsein, daß für eine dem Untergang geweihte Nation das große Gesetz von Dschinnistan der einzige Weg ist, sich von diesem Untergang zu retten. Er hätte sich gar wohl als Held, als Feldherr aufspielen können. Er verzichtete darauf, denn er erkannte, daß dies das Ende nur beschleunigt hätte. Er riet zum Frieden, und wohin er nur kam, da brachte und gab er nur Frieden. Er war der Engel der Seinen! Er war der Engel eines jeden Menschen, der ihm begegnete, ob Freund, ob Feind, ganz gleich! Als die Seele seines Volkes in ihm erwachte, erwachte sie notwendigerweise zum Bewußtsein jenes Engelsgesetzes, in dessen letzten Tagen sie einst eingeschlafen und hingeschwunden war. Winnetou war also der seelisch direkte Nachfolger des letzten, großen, altindianischen Herrschers, zu dem die Gesandten der Königin Marimeh kamen, um dann nicht wieder zu erscheinen. Habt ihr das begriffen, ihr, seine roten Brüder? Habt ihr begriffen, daß es keinem Volk erlaubt ist, Kind zu bleiben? – Daß ihr einst Kinder waret und nur darum dem Untergange zugetrieben wurdet, weil ihr nicht aufhören wolltet, Kinder zu sein? Habt ihr begriffen, daß ihr als Kinder eingeschlafen seid, um nun nach schweren Niagaraträumen als Männer zu erwachen? Habt ihr begriffen, daß ihr nun, wenn ihr nicht Männer werdet, für immer verloren seid? Habt ihr begriffen, was es heißt, ein Mann zu werden? Eine Persönlichkeit, die aus eigener Energie zu tun und zu handeln beliebt, ohne mit sich handeln zu lassen? Eine Persönlichkeit, die ihre Ziele kennt und nach ihnen strebt, ohne nach irgendeiner Seite abzuweichen? Habt ihr begriffen, wie es gesühnt werden muß, wenn Hunderte von kleinen und immer kleineren Indianernationen und Indianernatiönchen sich tausend Jahre lang untereinander bekämpfen und vernichten? Daß es ein millionenfacher Selbstmord war, an dem ihr zugrunde gegangen seid? Daß der Blut- und Länderdurst der Bleichgesichter nur eine Zuchtrute in der Hand des großen, weisen Manitou war, deren Schläge euch aus dem Schlaf zu wecken hatten? Daß ihr nur durch Liebe sühnen könnt, was ihr durch Haß verschuldet? Daß der Himmel eurer Ahnen verlorenging, sobald ein jeder rote Mann zum Teufel seines Bruders wurde? Und daß dieser Himmel sich nur dann wieder zur Erde neigt, wenn jeder rote Mann sich bestrebt, der Engel seiner Brüder zu sein, wie es war zu jener Zeit, in welcher Marimeh, die Königin, noch nicht gezwungen war, euch aufzugeben?«

 

Das war ein langer, langer Satz, den ich gesprochen hatte, fast so, als ob eine ganze Menge von Zuhörern vorhanden sei, und doch waren ihrer so wenige. Aber es stand in Winnetous Brief, daß in meinem Herzen von heute an sein Puls mit dem meinigen schlagen werde, und so kamen mir Gedanken und Worte über die Lippen, die ich sonst vielleicht zurückgehalten hätte. Der »junge Adler« stand vor mir, als ob sein Blick mir jedes einzelne Wort vom Mund nehmen wolle. Ich sah, daß er staunte und daß dieses Staunen wuchs. Kaum hatte ich das letzte Wort ausgesprochen, so erklang seine verwundene Frage:

»Sagt, Mr. Burton, waret Ihr wirklich noch nicht bei Tatellah-Satah?«

»Niemals«, antwortete ich.

»Was habt Ihr aus seiner großen Büchersammlung gelesen?«

»Nichts. Kein einziges Buch jemals gesehen, viel weniger gelesen.«

»Sonderbar, höchst sonderbar! Auch von Winnetou könnt Ihr das nicht haben!«

»Was?«

»Die Gedanken, die Ihr soeben in Worte kleidet.«

»Ein jeder Mensch hat seine eigene Gedankenwelt. Ich stehle nicht aus andern Welten. Auch die Fragen, die ich Euch vorlegte, gehören mir. Es steht Euch frei, sie zu beantworten oder nicht.«

»Ich antworte gern. Nicht nur durch das Wort, sondern auch durch die Tat. Ihr fragtet mich, ob wir begriffen haben. Vielleicht nicht Alles, aber doch wohl das meiste. Der Beweis liegt hier.«

Er deutete auf den zwölf strahligen Stern auf seiner Brust und fuhr f ort:

»Mrs. Burton wünscht zu wissen, was das zu bedeuten hat, und ich antworte: Daß wir bereit sind, die Vergangenheit zu sühnen. Daß wir nicht länger hassen, sondern lieben wollen. Daß wir aufgehört haben, die Teufel unserer Brüder zu sein, und uns bemühen, des verlorenen Paradieses würdig zu werden. Kurz, das Gesetz von Dschinnistan soll wieder bei uns gelten. Wir wollen innig verbunden sein, nicht länger auseinander streben. Wir wollen uns umschlingen, so eng, daß keine Macht dazwischen, treten, dazwischen greifen kann. Wir haben keinen Herrscher, der uns das befehlen könnte; wir befehlen es uns selbst. Von Tatellah-Satah, dem Meister, ging dieser Gedanke aus. Ich war der erste, den er zum ,Winnetou‘ ernannte. Bald wurden es zehn, dann zwanzig, fünfzig, hundert; jetzt zählen sie schon auf tausende.«

»Warum gabt ihr euch grad Winnetous Namen?« fragte das Herzle.

»Gab es irgendwo einen lieberen oder besseren?

War Winnetou nicht ein Vorbild in der Erfüllung aller unserer Gebote und Verpflichtungen? Hatte er nicht alle diese Gebote erfüllt, ohne hierzu verpflichtet zu sein? Und vor allen Dingen die Hauptsache: Sind die Namen Winnetou und Old Shatterhand nicht bei der roten Nation zum Sprichwort geworden? Zum Symbol der Freundes- und der Menschenliebe, der Hilfsbereitschaft und der Aufopferung sogar bis in den Tod? Gab es jemals, so weit die Geschichte reicht, zwei aufrichtigere und treuere Freunde als diese Beiden? Wo ist das Wort, daß einer der Schutzengel des Anderen war, wohl richtiger als bei ihnen? Was wir getan haben, ist nichts Besonderes. Wir haben einen Clan, einen neuen Clan gegründet, wie es deren so viele gab und heut noch gibt bei den roten Männern. Ein jedes Mitglied verpflichtet sich, der Schutzengel eines andern Mitgliedes zu sein, das ganze Leben hindurch, bis in den Tod. Wir hätten diesen Clan also den Clan der Schutzengel heißen können, haben ihn aber den Clan Winnetou genannt, weil dies bescheidener und praktischer klang. Wir treffen damit das Richtige, und wir ehren dadurch zu gleicher Zeit das Andenken des besten und geliebtesten Häuptlings aller Zeit und aller Apatschenstämme. Aber wir wollen bei der Wahrheit bleiben. Wir wollen nicht übertreiben. Es soll dies das einzige Denkmal sein, welches ihm die rote Rasse setzt. Es gibt kein besseres und kein wahreres. Ein Denkmal von Gold oder Marmor, in Riesengröße, auf herrschender Bergeshöhe, weit über Land und Volk hinschauend, würde Lüge, würde Ueberhebung sein. Ueberhebung und Lüge von uns, nicht aber von Winnetou. Er log nie, und er war bescheiden. In dieser Wahrhaftigkeit und Bescheidenheit haben wir ihm zu gleichen. Er soll unsere Seele werden, unsere Seele sein. Dann steht er höher als der höchste Punkt der Felsenberge! Und dann ist er größer, unzähligemal größer als die Kolossalstatue, die ihm kleine Menschen jetzt errichten wollen! Es macht mich glücklich, gehört zu haben, daß Old Shatterhand derselben Meinung ist. Ich wünsche, daß Tatellah-Satah dies so bald wie möglich erfährt. Erlaubt ihr mir, es ihm durch einen Boten sagen zu lassen?«

»Sehr gern. Aber wer soll dieser Bote sein?« fragte ich.

»Keiner von uns. Ich rufe ihn.«

Er wendete sich vom Feuer ab, nach Süden, legte die Hände an den Mund und ließ die drei Silben »Win – – ne – – tou!« erschallen, nicht überlaut, aber dennoch weit hinausgetragen.

»Win – —ne – —tou!« klang es zurück.

»Ist das ein Echo?« fragte das Herzle.

»Nein«, antwortete der »junge Adler«. »Es ist ein Winnetou.«

Es war Nacht. Die Sterne leuchteten. Bei ihrem Schein sahen wir nach kurzer Zeit eine Gestalt sich unserem Feuer nähern, langsam, mit sicherem Schritt und ohne Eile. Sie trug den gleichen Lederanzug wie einst mein Winnetou. Ihr Haar war oben in einen Schopf gewunden und hing dann weit auf den Rücken herab. Waffen trug sie nicht. Sie blieb still vor uns stehen. Nun traf der Schein des Feuers ihr Gesicht. Wir sahen, daß es ein Mann im Alter von vielleicht vierzig Jahren war.

»Du bist der Beschützer des Nugget-tsil?« fragte der »junge Adler«.

»Ich bin es«, antwortete der Andere.

»Sende sofort einen Boten an Tatellah-Satah. Laß ihm sagen, daß der ,junge Adler‘ zurückgekehrt ist und seine Aufgabe löste. Laß ihm ferner sagen, daß auch Old Shatterhand gekommen ist und Winnetous Nachlaß fand. Und laß ihm endlich sagen, daß er sich im Denkmalskampf auf Old Shatterhand verlassen kann wie auf sich selbst!«

Dies wurde selbstverständlich in der Sprache der Apatschen gesagt. Hierauf machte der »junge Adler« eine Handbewegung des Grußes, worauf der Winnetou sich entfernte, ohne ein weiteres Wort zu sprechen.

»Wie seltsam!« sagte das Herzle zu mir.

»Nicht seltsam, sondern im Gegenteil sehr leicht erklärlich«, entgegnete er. »Ihr werdet bei Tatellah-Satah, also am Mount Winnetou, die Organisation unseres Clan genau kennenlernen und an ihr keine Spur von Seltsamkeit entdecken.«

»Dürfen wir nicht schon jetzt Eingehendes erfahren?« fragte sie.

»Ich bin ein Heimkehrender, also kein zuverlässiger Belehrer. Zwar stand ich auch in der Ferne mit dem Mount Winnetou im Verkehr, aber nur in Beziehung auf Hochwichtiges und Algemeines. Um Auskunft zu erteilen, bin ich jetzt selbst nicht unterrichtet genug.«

Die beiden Enters hatten sich bisher vollständig schweigsam verhalten. Es fiel uns also auf, daß Hariman sich grad in diesem Augenblick hören ließ, indem er sagte:

»Aber diese Sache ist doch unendlich interessant für mich! Darf man nicht wenigstens erfahren, ob auch Weiße Mitglieder dieses Clan Winnetou werden können?«

Der Gefragte antwortete:

»Er wurde ursprünglich nur für Indianer gegründet, doch würde es gegen seinen Grundgedanken sein, die Weißen auszuschließen. Wir wünschen, daß die Nächstenliebe, nach der wir streben, nicht nur uns, sondern die ganze Menschheit vereine.«

»Könnte man uns wohl verbieten, für uns einen besonderen Clan Winnetou zu gründen?«

»Kein Mensch besitzt das Recht zu diesem Verbote.«

»Kann ein jedes Mitglied sich das andere Mitglied wählen, welches es beschützen will?«

»Nein. Es hat seine Wünsche zu melden, und es wird ihnen, wenn es möglich ist, Rechnung getragen. Aber wenn einem Jeden die Wahl seines Schützlings freistünde, so würde es bald sehr viele Personen geben, welche zahlreiche Beschützer haben, und ebenso viele, die gar keinen Schutzengel besitzen. Jemand, den man liebt, zu beschützen, ist kein Verdienst. Aber der Engel eines Verhaßten oder gar Verachteten zu sein, das ist ein schwerer, steiler Weg zur edlen, wahren Menschlichkeit empor.«

»Und kennt man öffentlich den Beschützer und seinen Beschützer?«

»Nein. Das ist Geheimnis. Nicht einmal der Beschützte kennt seinen Beschützer.«

»Auch später nicht?«

»Doch! Nämlich nach dessen Tod. Beide werden eingeschrieben. Und jeder Beschützer trägt den Namen seines Schützlings auf der Innenseite des Sternes auf seiner Brust. Läst man nach seinem Tod diesen Stern vom Gewand los, so sieht man, wessen Engel er gewesen ist.«

»Well! Das soll man auch bei mir sehen!«

»Bei dir?« fragte sein Bruder erstaunt.

»Ja, bei mir!« antwortete Hariman in sehr bestimmtem Ton.

Da lachte Sebulon auf und fragte:

»Bist du etwa auch ein Winnetou, nämlich ein verkappter?«

»Nein, aber ich will einer werden!«

»Laß dich nicht auslachen! Meinst du, daß man dich, grad dich, als ersten Weißen zulassen würde?«

»Nein. Das bilde ich mir nicht ein. Aber ich werde trotzdem und trotzdem ein Winnetou sein. Die Sache gefällt mir; sie gefällt mir sogar außerordentlich. Ich will sie zu der meinigen machen. Und da es mir unmöglich ist, ein roter Winnetou zu werden, so werde ich ein weißer!«

»Auf welche Weise?«

»Auf die einfachste Weise, die es gibt: Ich gründe einen Clan für weiße Winnetous.«

»Wann?«

»Heut, hier, jetzt, sogleich!«

»Verrückter Kerl.«

Er machte bei diesem Ausruf eine geringschätzige wegwerfende Handbewegung. Hariman aber ließ sich nicht irremachen. Er sagte:

»Lach, wie du willst! Und spotte darüber! Ich tue es doch! Ich muß, ich muß! Und du wirst wohl auch noch müssen!«

»Ich? Müssen? Fällt mir nicht ein!«

»Ob es dir einfällt oder nicht, ist Nebensache. Mir ist es auch nicht eingefallen. Es kommt, ohne daß man es will. Und wenn es da ist, hat man zu gehorchen. Also, ich gründe jetzt einen Clan Winnetou für Weiße. Ob ich das erste und einzige Mitglied dieses Clans bin und bleibe, darauf kommt in diesem Augenblick nichts an. Und ob ich mich damit lächerlich mache, ist mir gleichgültig. Ich wünsche aber, daß wenigstens noch Einer beitritt, und dieser Eine bist du, Sebulon!

»Darauf rechne nicht, ja nicht!« antwortete dieser.

»Ich rechne dennoch darauf, dennoch, und du wirst sehen, daß du mußt – daß du mußt! Mrs. Burton, Ihr seid eine Dame, und darum vermute ich, Ihr habt Nähzeug mit?«

»Allerdings«, antwortete das Herzle.

»Ich bitte um eine Nähnadel und um einen Faden guten, schwarzen Zwirn! Auch um eine Schere!«

»Das sollt Ihr haben«, sagte sie und ging nach dem Zelt, um das Gewünschte zu holen.

»Und Ihr, Mr. Burton, seid Schriftsteller«, wendete er sich an mich. »Ihr habt also wahrscheinlich Tinte und Feder, sogar hier, so tief im Westen?«

 

»Ein Reiseschreibzeug ist da«, erklärte ich.

»So bitte, gebt mir eine Feder und einige Tropfen Tinte! Papier habe ich selbst.«

»Meine Frau wird Beides mitbringen.

»Was willst du mit Tinte und Feder?« fragte Sebulon.

»Den Namen der Person aufschreiben, die ich beschützen will.«

»Wahnsinn, wirklich Wahnsinn! Darf ich nicht wenigstens wissen, wer diese Person ist?«

»Nein! Kein Mensch soll es wissen! Du am allerwenigsten!«

Nachdem das Herzle die gewünschten Gegenstände gebracht hatte, schnitt Hariman aus dem Fell des heut verzehrten Hasen einen kleinen, zwölfstrahligen Stern heraus, von dem er mit Hilfe seines scharfen Messers die Haare schabte. Dann schnitt er sich ein Stückchen Papier zurecht und schrieb, es auf sein Knie legend, in langsamen, sorgfältigen Zügen den betreffenden Namen darauf. Hierauf bezeichnete er die betreffende Stelle auf der Brust seines Rockes, zog ihn aus und schickte sich an, den Stern dort festzunähen. Sebulon folgte jeder dieser seiner Bewegungen mit mehr als gespannten Blicken. Auf seinem Gesicht wechselte der Ausdruck des Spottes mit dem eines tiefen, ängstlichen Interesses. Hariman hatte kein Geschick zum Nähen. Schon nach den ersten Stichen trennte er sie wieder auf. Das wiederholte sich. Er wurde ungeduldig.

»Es ist, als ob es nicht sein sollte; ich tue es aber doch!« zürnte er.

Da fragte meine Frau:

»Wollt Ihr nicht mir erlauben, den Stern festzunähen? Ich bringe das wohl leichter und schneller fertig.«

»Wollt Ihr wirklich, Mrs. Burton? Wie lieb Ihr seid, wie lieb! Ja, da habt Ihr den Rock, den Stern, das zusammengeschlagene Papier, welches unter den Stern zu liegen kommt, die Schere, die Nadel und Alles! Aber bitte, schlagt das Papier ja nicht etwa auf, um es zu lesen!«

Sie legte das Papier an die bezeichnete Stelle des Rockes, den Stern darauf und begann, die Arbeit in sehr sorgfältiger Weise auszufahren. Zwölf Strahlen erforderten viele, viele Stiche.

»So große Mühe hätte ich mir nun freilich nicht gegeben! » gestand Hariman. Und nach einer Weile fügte er, wie zu sich selbst sprechend, hinzu: »Es ist doch eigentümlich, ganz, ganz eigentümlich mit dieser Sache! Als ich den Namen schrieb, war es mir, als unterschriebe ich mein Todesurteil. Und doch war es mir so leicht und so wohl dabei!«

Auch Sebulon paßte auf. Er verwandte fast keinen Blick von meiner Frau. Aber seine Aufmerksamkeit hing mehr an ihrem Gesicht als an ihrer arbeitenden Hand. Zuweilen schloß er die Augen, als ob ihm etwas darin wehe tue. Und – – was war denn das? – – ich sah einen Tropfen von seiner Stirn rinnen, und noch einen und wieder einen! Schwitzte er? Seine Hände zuckten nach dem Hasenfelle. Er schien nicht zu wollen, ergriff es aber doch. Dann nahm er die Schere und schnitt, ganz wie vorhin sein Bruder, einen zwölfstrahligen Stern daraus. Das geschah so zögernd, so widerwillig, fast wie im Traum. Dann schabte er die Haare herunter, schob dem Herzle den Stern zagend hin und ersuchte sie:

»Bitte, Mrs. Burton, mir dann auch!«

»Annähen?« fragte sie.

»Annähen«, nickte er.

»Mit einem Papier?«

»-ja, mit einem Papier und dem Namen. Den schreibe ich jetzt.«

»Also doch! Habe ich es nicht gesagt?« rief Hariman aus.

»Schweig!« fuhr sein Bruder ihn an. »Ich tue es nicht, weil du es wolltest, sondern weil ich es will! Ich kann auch beschützen! Verstanden?«

»Aber wen?« fragte Hariman.

»Das ist mein Geheimnis! Hast du mir etwa den von dir geschriebenen Namen gesagt? So erfährst also auch du den nicht, den ich schreiben werde!«

Er griff zu Feder und Papier und schrieb. Es handelte sich nur um einen kurzen Namen, also um eine Arbeit von wenigen Silben; aber er brachte doch längere Zeit damit zu. Er unterbrach sich mehrere Male. Er holte tief, tief Atem. Endlich war er fertig, ließ die Schrift trocken werden, legte das Papierchen dann mehrfach zusammen und schob es dem Herzle hin.

Was die Brüder da taten, das war eigentlich ganz und gar nichts Außergewöhnliches. Wohl mancher an meiner Stelle hätte es als Kinderei, als Spielerei bezeichnet. Und doch wäre es mir vollständig unmöglich gewesen, darüber zu lächeln. Ich hatte das Gefühl, als ob dabei ein innerer Zwang vorhanden sei, dem weder der Eine noch der Anderere widerstehen konnte.

Als das Herzle mit der Arbeit fertig war, zogen die Brüder ihre Röcke wieder an. Sie betrachteten einander, erst ernst, fast feindselig, dann freundlicher und immer freundlicher. Endlich lachte Hariman; Sebulon aber lächelte nur.

»Weißt du nun, was du bist?« fragte der Erstere.

»Ein Winnetou«, antwortete der Letztere.

»Ja. Aber weißt du auch, was das bedeutet?«

»Daß ich der Engel eines Andern bin, den ich zu beschützen habe.«

»O, nicht nur das! Das meine ich überhaupt gar nicht, denn das versteht sich ganz von selbst. Sondern du führst jetzt den Namen dessen, den wir gehaßt haben, wie man eigentlich keinen Menschen haßt, sondern nur Bestien und Teufel!«

»Du doch ebenso!«

»Freilich wohl! Aber hast du dir überlegt, daß es nun mit diesem Haß zu Ende ist? Zu Ende sein muß – muß?«

»Nichts, gar nichts habe ich mir überlegt!« brauste Sebulon auf. »Ich tue das, was ich will! Das überlegen bringt nur fremden Willen. Ich bin ein Winnetou geworden, und – – —«

»Nein, Ihr seid keiner geworden«, fiel der »junge Adler« ein. Es war das erste Mal, daß er freiwillig zu Sebulon sprach.

»Nicht?« fragte dieser. »Fehlt etwa noch etwas daran?«

»Ja.«

»Was?«

»Der Schwur.«

»Der Schwur? Man hat zu schwören? Etwas zu beeiden? Was?«

»Daß man seiner Schutzengelpflicht getreu sein will bis in den Tod. Die roten Männer brauchen keinen Schwur. Bei ihnen genagt der Handschlag, denn er ist ihnen ebenso heilig wie der Eid.«

»Uns auch!« rief Hariman.

»Ja, uns auch!« rief Sebulon.

»So steht auf!« gebot er ihnen.

Sie taten es. Auch er erhob sich von seinem Sitz. In diesem Augenblick warf Pappermann ein großes, harziges Holzstück in das Feuer. Die Flamme loderte auf. Sie züngelte nach allen Richtungen. Da schien sich der Wald mit geistergleichen Wesen zu beleben. Die nächtlichen Schatten der Bäume und Sträucher bewegten sich. Sie huschten hin und her. Sie sprangen empor und sanken zu Boden.

»Reicht euch die Hände!« befahl der junge Indianer.

Sie gehorchten. Da trat er ganz zu ihnen heran, legte seine Hand auf die ihrigen und forderte sie auf:

»Sprecht mir die Worte nach: ,Unsern Schützlingen treu bis in den Tod!‘«,

»Unsern Schützlingen treu bis in den Tod!« erklang es vereint aus ihrem Munde.

»Dieses Wort ist unser Schwur! Sprecht das nach!«

»Dieses Wort ist unser Schwur!« fügten sie hinzu.

»So! Nun erst könnt ihr behaupten, Winnetou geworden zu sein. Denn nicht der Stern tut es, sondern der Wille. Und diesen Willen habt ihr kundgegeben. Des bin ich Zeuge. Gebt auch mir, dem Zeugen, eure Hände!«

»Hier ist die meine«, sagte Hariman, indem er sie ihm gab.

»Und hier die meine«, sprach Sebulon.

Der junge Apatsche ergriff beide, die eine mit seiner Rechten, die andere mit seiner Linken und fragte.

»Seid ihr euch der Wichtigkeit dieses Augenblicks bewußt?«

Keiner antwortete. Da fuhr er fort.

»Was ihr nicht wißt, weiß Manitou, und was ihr nicht könnt, kann er. Wer Andere beschützt, beschützt sich selbst. Indem ihr euch vorgenommen habt, die Engel eurer Schützlinge zu sein, sind in Wirklichkeit sie eure Engel geworden. Bleibt euch und ihnen treu! Das ist der einzige Dank, den sie von euch verlangen!« – – —