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Winnetou 4

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»Dein Wort, daß diese Quadern wohl eher in die Erde verschwinden werden, als daß du Lampions und Feuerwerk duldest, hat sich wie ein Gewicht auf mich gelegt. Es kommt bei dir so häufig vor, daß das, was du sagst, in Erfüllung geht, selbst wenn andere es für vollständig unmöglich halten. Zuweilen ist diese Erfüllung eine geradezu wörtliche. Und als du vorhin sprachst, hatte ich das Gefühl, als ob das, was du sagtest, eine solche Prophezeiung sei, aus dir selbst herausgestiegen, ohne alle Ahnung, woher es kommt.«

»Und das bedrückt dich nun?« fragte ich.

»Bedrücken? Nein! Es hebt mich ganz im Gegenteil innerlich empor. Es macht mich fest. Es ist mir, als ob ich ein unerbittliches Schicksal nahen höre, welches uns zu Hilfe kommt. Das macht mich still und sinnend.«

Während dieses kurzen Redewechsels hatten wir eine Stelle des Weges erreicht, von welcher aus man frei nach der Spitze des Vorberges zu schauen vermochte. Da hielt Tatellah-Satah sein Maultier an, deutete empor und fragte:

»Seht ihr innerhalb der südlichsten Felsennadel das riesige Adlernest, welches für Menschen nicht erreichbar scheint?«

Wir sahen es. Der Medizinmann fuhr fort:

»Da hinauf stieg der ,junge Adler‘, als er noch Knabe war. Er wollte sich aus dem Horst des großen Kriegsadlers seinen Namen und seine Medizin holen. Aber der Riemen zerriß, an dem er hing. Er stürzte in das Nest und konnte nicht wieder hinauf. Er tötete die zwei jungen. Da kam die Alte. Er kämpfte mit ihr und zwang sie, ihn aus jener fürchterlichen Höhe herunter in das Tal zu tragen. Nun sind ihre Federn, ihre Krallen und ihr Schnabel sein Schmuck, die Krallen und Schnäbel der jungen aber seine Medizin. Er wird seitdem der ,junge Adler‘ genannt. Ich aber bin sein Pate, denn als er mit der Adlern geflogen kam, saß ich vor meiner Tür, und er landete gerade vor meinen Füßen.«

Das klang wie ein Märchen oder gar wie eine Münchhauseniade, und doch war es wahr; das verstand sich ganz von selbst, Der »junge Adler« hatte es nicht gehört; er war weiter fortgeritten und wir folgten ihm, ohne daß ich den Alten bat, uns den Vorgang ausführlicher zu erzählen. Dem Herzle aber sah ich es an, daß sie entschlossen war, es sobald wie möglich zu hören und sich zu diesem Zweck an den jungen Mann selbst zu wenden.

Der Reitweg führte in zahlreichen Windungen so weit an der Innenseite des Berges empor, bis die Höhe des »Schlosses« erreicht worden war. Dann wendete er sich nach der vorderen, also nach der östlichen Seite des Mount Winnetou, von welcher aus, als wir sie erreichten, wir die Ober- und die Unterstadt in der Tiefe vor uns liegen sahen. Von da unten war der »junge Adler« hier heraufgeritten, um Tatellah-Satah unsere Ankunft zu melden. Hoch über uns sahen wir den Wachtturm ragen. Der »Bewahrer der großen Medizin« deutete da hinauf und sagte zu dem »jungen Adler«:

»Da oben wirst du wohnen. Jetzt aber kommst du mit uns, die Pfeife des Friedens und der Gastlichkeit zu rauchen.«

Das »Schloß« bestand nicht etwa aus nur einem oder nur einigen Gebäuden. Es bildete eine Felsenstadt für sich. Die Jahrhunderte und Jahrtausende hatten an ihr gebaut. Darum waren alle amerikanischen Bauarten und Baustile hier vertreten, von dem erstbewohnten Felsenloch und der ersten Kordillerenhütte bis zur altperuanischen Festung, zum altmexikanischen Versammlungshaus und zum steinernen Wigwam nördlicher Gegenden. Es gab da gewaltige Felsen- und Adobeswerke nach Art der Pueblostämme. Die wurden, wie ich dann später sah, als Vorratshäuser benutzt, in denen seit undenklichen Zeiten große Mengen von Getreide und getrockneten Nahrungsmitteln aufbewahrt wurden, ohne verderben zu können. Da ragten Mauern, die aus noch größeren Riesensteinen bestanden, als ich z. B. in Baalbek und anderen berühmten orientalischen Orten gesehen hatte. Wir ritten an allen möglichen indianischen Zelten, Hütten, Häusern, Palästen, Balkonen, Veranden, Dächern, Tennen, Scheunen und Schuppen vorüber, die sich wie ein langgestrecktes, festes Mauerband um die Höhe des Berges legten und als steinerne Größe aus uralter Zeit hinunter in die Tiefe schauten, wo in der Ober- und Unterstadt das kleine Volk der Gegenwart sich mit allen Kräften dagegen wehrte, endlich einmal größer werden zu sollen. Aber so aufrichtig ich die rote Rasse liebe und so gern ich nur Gutes, Edles und Großes von ihr berichten möchte, so muß ich doch der Wahrheit die Ehre geben und darum offen bekennen, daß alle diese Bauwerke trotz ihrer teilweisen Riesenhaftigkeit mir doch so niedrig und so geistesabwesend vorkamen, daß sie mir weder imponieren noch mich erfreuen konnten. Sie machten alle einen so – so – – indianischen Eindruck auf mich. Es war nichts an ihnen, was zum Himmel strebte. Wir sahen so wenig Fenster. Es gab kein Verlangen nach freier, gesunder Luft, nach Licht und Tageshelle. Und es gab unter allen diesen Gebäuden kein einziges, welches gleich einer Kirche oder einer Moschee empor zur Höhe strebte. Hiervon bildete der Wachtturm die einzige Ausnahme; aber sein Zweck wies doch auch nur nach unten, nicht nach oben. Er war zur Beherrschung der Tiefe da, nicht aber als Fingerzeig für ein geistiges Aufwärtsstreben.

Diese Beobachtung tat mir weh. Und dem Herzle auch; das sah ich ihr an. Sie empfindet viel zarter, viel feiner als ich. Ihre Seele steht dem Leid des Erden- und des Menschenlebens viel offener als die meine. Und hier lag das ungeheure Leid einer ganzen, großen, fast untergegangenen Rasse in untrüglichen, steinernen Beweisen vor unsern Augen! Selbst der Wachtturm hatte nicht eigentlich Turmesgestalt, sondern er bildete ein niedriges, vierseitiges Prisma mit vollständig ebener Dachfläche. Die Indianer haben keine Türme, keine Minareh. Sie haben die Winke ihrer Riesenbäume nicht verstanden; sie haben keine Dome gebaut. So sind sie auch geistig an der Erde geblieben. Sie sahen den Vogel fliegen. Der Adler stand ihnen hoch. Ihr stolzester Schmuck bestand aus seinen Federn. Aber es ihm nachzutun und sich über den Boden zu erheben, dieser Gedanke bewegte sie nicht. Fliegen lernen! Fliegen lernen! Wer das nicht will, bleibt unten, sei er Volk oder sei er Person. Die andern überholen ihn. Er aber kriecht auf der Erde weiter und wird in ihr so ganz und gar verschwinden, daß von ihm kaum ein Gedächtnis übrigbleibt. Das ist das Schicksal des Indianers, wenn er nicht im letzten Augenblick noch fliegen lernt.

Dieser Eindruck des Felsenschlosses wurde dadurch gemildert, das es wohlbevölkert war. überall standen Leute, auf den Zinnen, auf den Dächern, an den Luken, vor den Türen, auf den Gassen; Männer, Frauen und Kinder. Die Männer genau wie Winnetou gekleidet, mit dem Sterne auf der Brust, auch die Frauen außerordentlich sauber und intelligenten Auges, die Kinder ebenso. Nirgends die indolenten Papusengesichter, denen man anderwärts begegnet. Und auch nirgends auf den Gesichtern der Ausdruck der stummen Klage oder jenes nationalen Trübsinns, der auf jede Freude und auf alles Glück verzichtet zu haben scheint. Ich sah nur intelligente Züge, nur heitere Mienen. Man freute sich. Man lachte. Tatellah-Satah wurde mit tiefen Verneigungen und respektvollen Handbewegungen begrüßt. Man widmete ihm die größte, die aufrichtigste Ehrfurcht, und – man liebte ihn. Mit größter Wißbegier waren die Augen auf mich und das Herzle gerichtet. Man wußte, wer es war, den der »Bewahrer der großen Medizin« in eigener Person abgeholt hatte. Man nannte meinen Namen; man rief ihn mir jubelnd zu; denn man wußte, daß nun die so lange hinausgeschobene Aktion beginnen werde.

»Und das ist seine Squaw – – seine Squaw – – – seine Squaw!« hörte ich sagen.

Ich erwähne, daß das Wort »Squaw« nicht etwa einen unterschätzenden Beigeschmack besitzt. Es gibt Romanschriftsteller, welche die Indianerfrauen als rechtlos, als die Sklavinnen ihrer Männer schildern. Das ist grundfalsch. In Wahrheit hat es schon Indianerfrauen gegeben, welche Häuptlinge gewesen sind. Die Stellung der Frau wird besonders auch dadurch erhöht, daß die Erbfolge sich gewöhnlich in weiblicher Linie vollzieht. Dem Verstorbenen folgt nicht sein eigener Sohn, sondern der Sohn seiner Schwester. Es war also keineswegs etwas Ungewöhnliches, daß man dem Herzle dieselbe Aufmerksamkeit schenkte wie mir.

Wir ritten durch das breite, sehr tiefe Tor eines sich lang ausstreckenden Gebäudes, dessen Außenmauer durch schmale, schießschartenförmige, aber sehr hohe Oeffnungen unterbrochen wurde. jede dieser Oeffnungen führte auf einen steinernen Balkon, von welchem aus man die ganze Vorebene des Mount Winnetou überblicken konnte. Durch dieses Tor gelangten wir in einen sehr geräumigen Hof, in welchem uns ein zweites, ähnliches Gebäude gegenüberstand. Auch dieses hatte ein Tor, welches in einen zweiten Hof, zu einem dritten Gebäude führte. So stieg eine ganze Folge von miteinander abwechselnden Höfen und Gebäuden in einer Felsspalte empor, die unten sehr breit war und nach oben immer enger wurde. Demgemäß waren auch die Gebäude und Höfe unten sehr breit und wurden dann um so schmaler, je höher sie stiegen. Die Seiten der Höfe wurden von den beiden Wänden der Felsenspalte gebildet, und an allen diesen Seiten führten tief eingehauene Pfade rechts und links nach dem Wald empor, auf dessen Wiesen der kostbare Pferdebestand des berühmten Medizinmannes weidete.

Im untersten, größten Hofe stiegen wir ab. Tatellah-Satah führte uns in das Haus, mich, das Herzle und den »Jungen Adler«. Niemand durfte uns folgen. Er leitete uns über Stufen zur Etage empor, nach einem ziemlich großen und ziemlich hohen Raum, in dessen Mitte eine von sechs ungeheuren Grizzlybären getragene Platte stand. Auf ihr lagen wohl über ein Dutzend Friedenspfeifen mit allem Zubehör. Hier wurden die gewöhnlichen Gäste empfangen; uns aber führte er weiter, durch eine ganze Reihe der verschiedensten Räume, bis wir an einen ledernen, köstlich gegerbten und bemalten Vorhang gelangten, den er mit der Aufforderung zurückschlug:

 

»Tretet ein, und setzet euch nieder; ich kehre schnell zurück.«

Wir taten es und sahen gleich mit dem ersten Blick, daß wir uns in einem kleinen, mit großer Liebe behüteten Heiligtum befanden. Zwei mit Glas verschlossene Luken spendeten helles Licht. Das Ganze war als Zelt eingerichtet, doch nicht als Kriegs-, sondern als Friedenszelt, dessen Bahnen abwechselnd aus höchst seltenen weisen Biber- und weißen Präriehuhnfellen bestanden. Vier schlohweiße Büffelfelle lagen am Boden, derart arrangiert, daß sie weiche Sitze bildeten, während die Köpfe mit den starken Hörnern als Ellbogen- und Rückenstütze dienten. Zwischen ihnen trugen vier Jaguarköpfe eine große, polierte Schale, die aus dem heiligen Pfeifenton des Nordens geschnitten war. Auf ihr lag ein Kalumet. Es war nicht groß, nicht kostspielig, sondern weit eher klein und ganz gewöhnlich. Es zog durch nichts, durch gar nichts den Blick auf sich, und doch erkannte ich es sofort als die wertvollste und unschätzbarste Friedenspfeife, die es hier gab und überhaupt geben konnte.

»Winnetous Pfeife!« rief ich aus. »Die Pfeife, die er trug, als ich ihn kennenlernte! Welch eine Überraschung, welche Freude!«

»Irrst du dich nicht vielleicht?« fragte das Herzle.

»Unmöglich!«

»So muß ich sie betrachten.«

Sie wollte hintreten und zugreifen.

»Halt!« bat ich. »Rühre ja nichts an! Ich sehe, hier ist ein heiliger Ort; den haben selbst Freunde, wie wir sind, heilig zu halten!«

Ich führte sie zu den Fenstern. Wir hatten die Ebene mit ihren Zelten und Blockhäusern unter uns liegen. Es schienen soeben wichtige Personen angekommen zu sein; das ersahen wir aus der Bewegung, die es gab. Wir fanden aber keine Zeit zur Beobachtung, denn Tatellah-Satah kam jetzt. Er hatte den Mantel abgelegt, und nun sahen wir, was für ein Gewand er darunter getragen hatte, nämlich einen ganz gewöhnlichen indianischen Anzug von weichgegerbtem, naturfarbenem Leder, ohne eine Spur von verschönender Stickerei oder sonstigem Schmuck.

Er nahm zunächst das Herzle bei der Hand und führte sie dahin, wo sie sich setzen sollte. Sein Sitz war ihr gegenüber. Ihm zur Rechten war mein Platz und zur Linken der des »jungen Adlers«. Der alte Pappermann war unten bei den Pferden geblieben. Tatellah-Satah setzte sich zunächst nicht. Er blieb stehen und sprach:

»Mein Herz ist tief bewegt, und meine Seele kämpft mit dem Leid vergangener Zeiten. Als zum letzten Mal hier an dieser Stelle das Kalumet geraucht wurde, war es ein Rauch des Abschiedes. Hier, wo jetzt unsere weiße Schwester sitzt, saß Nscho-tschi, die schönste Tochter der Apatschen, die Hoffnung unseres Stammes; hier wo jetzt Old Shatterhand sitzt, saß Winnetou, mein Liebling, den keiner so kannte wie ich; hier, an Stelle des »jungen Adlers«, saß Intschu-tschuna, der kluge und tapfere Vater dieser beiden. Sie waren gekommen, um Abschied von mir zu nehmen. Nscho-tschi wollte nach dem Osten, in die Städte der Bleichgesichter, um ein Bleichgesicht zu werden. Im Innern meines Auges standen Tränen. Die Trägerin aller unserer Wünsche und Hoffnungen verließ uns, weil ihre Liebe uns nicht mehr gehörte. Es war ein trüber Tag; draußen heulte der Sturm, und in meiner Seele war es dunkel. Sie gingen. Nscho-tschi kehrte nicht zurück. Sie wurde mit ihrem Vater ermordet. Nur Winnetou kam. Ich haderte mit ihm. Ich zürnte dem, um dessentwillen die Tochter unseres Stammes sich von uns gewendet hatte. Da legte Winnetou sein Kalumet in diese Schale und schwor, daß er diese Pfeife nicht eher wieder berühren werde, als bis ich erlaube, daß sein Bruder Shatterhand sich hier zu uns setze und den Gruß des Friedens mit uns rauche. Er war noch oft, noch oft bei mir. Er wohnte und übte und arbeitete monatelang am Mount Winnetou, nie aber hat er dieses Zelt wieder betreten, und nie hat es ein anderer betreten dürfen. Nur sein Schwur saß hier und wartete, wartete lange, lange Zeit. Winnetou starb. Er starb am Herzen Old Shatterhands. Ich zürnte mehr als vorher. Mir schien, als sei die Zukunft der Apatschen mit ihm gestorben. Ich war der Bewahrer der Medizinen. Ich ahnte die Geschichte und die Geheimnisse unserer Rasse. Ich hatte diese Rasse vom Untergang, vom Tod retten wollen. Ihre Seele sollte erwachen in Winnetou, dem gedankentiefsten, dem edelsten der Indianer. Nun war er tot, und die Seele seiner Rasse war gestorben. So glaubte ich, ich Tor!«

Er hielt inne, schaute eine kleine Weile durch das Fenster, welches ich geöffnet hatte, und fuhr dann fort:

»Es kamen helle, sonnige Tage. Die Stimme des Lebens drang wieder zu mir herein. Und wo ich sprechen hörte, sprach man von Winnetou. Er lebte. Er kam vom Hancockberg, wo er erschossen wurde, über Prärien, Täler und Berge in seine Heimat zurück. Immer näher und näher. Er war nicht tot. War er überhaupt gestorben? Seine Taten wachten auf. Seine Worte wanderten von Zelt zu Zelt. Seine Seele wurde laut. Sie begann zu sprechen, zu predigen. Sie schritt durch die Täler. Sie stieg auf die Berge. Sie kam zu uns herauf, zum »Berg der Medizinen«. Sie kam zu mir herein, und als ich sie erkannte, da war es zwar die Seele Winnetous, zugleich aber auch die Seele seines Stammes, seines Volkes, seiner Rasse. Sie ließ sich bei mir nieder. Ich hörte sie täglich und stündlich. Zu allen Türen, zu allen Luken, zu allen Oeffnungen drang der Name Winnetou zu mir herein. Er war im Munde aller roten Nationen. Er wurde zur Turmesflamme, die über die Savannen und über die Berge leuchtet. Wer Gutes, Reines und Edles wollte, der sprach von Winnetou. Wer nach Hohem, nach Erhabenem trachtete, der redete von ihm. Winnetou wuchs zum Ideal. Er ist die erste geistige Liebe seiner Rasse! Ich lernte viel begreifen, was ich früher nicht begreifen konnte. Ich lernte, still und ruhig sein, wenn ich oft und oft Old Shatterhand neben Winnetou nennen hörte. Ich stieg zu der Erkenntnis empor, daß diese beiden unzertrennlich sind im großen Menschheitsgedanken. Trat ich dann in Stunden inneren Kampfes in dieses Zelt, in dem ich jetzt zu euch spreche, so sah ich Winnetou seelisch vor mir stehen, wie er das Kalumet in die Schale legte und seine Hand zum Schwur erhob, sie ohne seinen Bruder Shatterhand nicht wieder zu berühren.«

Wieder machte er eine Pause. Wir hörten ferne Stimmen durch das offene Fenster klingen. Sie stiegen von der Stadt herauf. Es waren Begrüßungsrufe. Tatellah-Satah ging hin, schaute hinab und sagte:

»Es sind Häuptlinge angelangt; sie tragen den Federschmuck. Wer sie sind, werden wir bald erfahren.«

Dann kehrte er zu uns zurück und fuhr fort:

»Nie habe ich so deutlich wie jetzt, in diesem Augenblick, gefühlt, daß Winnetou noch lebt. Old Shatterhand kam über Land und Meer herüber, und es geht von ihm eine geheimnisvolle Bestätigung aus, daß es für seinen roten Bruder nicht die alten lügenhaften ,ewigen Jagdgründe‘ gibt, die nur für die Herdenmenge erfunden waren. Ich habe Old Shatterhand geschrieben. Ich habe ihn gebeten, zu kommen, um seinen Bruder Winnetou zu retten. Aber ich bin überzeugt, daß Old Shatterhand sehr wohl weiß, von wem diese Bitte ausgegangen ist: nicht von Tatellah-Satah, sondern von Winnetou, von der Seele der roten Nation, die von ihren eigenen Söhnen niedergerungen und erstickt werden soll. Sie will empor! Sie will fliegen lernen! Sie will nicht nur essen und trinken und daran verhungern, sondern sie will mehr. Sie will teilhaben an allem, was Manitou der ganzen Menschheit gab, nicht nur einzelnen Nationen. Sie will nicht länger Kind bleiben, denn wehe dem Volk, welches sich sträubt, mündig zu werden! Sie will wachsen. Da aber eilt die Torheit der Unverständigen herbei, dem Kind vorzulegen, daß es ein Mann, ein Held, ein Riese sei, und diese Lüge in Erz und Marmor zu verewigen. Das ist ein Mord und, da er von Personen unserer eigenen Rasse ausgeht, eine Vernichtung unserer selbst. Das kann Tatellah-Satah nicht dulden, und das darf auch Old Shatterhand nicht dulden! Ich bin so froh, so glücklich, daß er gekommen ist, uns seine Hand zu bieten. Er sitzt zu meiner Rechten wie damals Winnetou. Es drängt mich, zu denken, er sei wirklich Winnetou. Und ebenso sei unsere weiße Schwester keine andere als Nscho-tschi, der Liebling unseres Volkes. Ich bin Tatellah-Satah, der ,Bewahrer der großen Medizin‘. Ich heiße euch willkommen. Ich fühle tief in mir die Nähe dessen, den ich liebte, wie ich keinen andern liebte. Er sehe und höre, daß heut sein Schwur in Erfüllung geht. Old Shatterhand ist hier. Ich habe ihn gehaßt; nun aber liebe ich ihn. Er sei mein Bruder, wie ich der seine bin. Das Kalumet unseres Winnetou soll es bezeugen!«

Er griff nach der Pfeife, füllte sie, setzte sie in Brand, tat die sechs ersten Züge, blies den Rauch nach oben, nach unten und nach den vier Himmelsrichtungen, sprach die gebräuchlichen Formeln dazu und reichte dann mir die Pfeife. Ich stand auf und sprach:

»Ich grüße meinen Winnetou, und ich lausche dem Erwachen seines Volkes. Ich war stets er, und er war stets ich. So sei es auch heut, und so bleibe es immerdar! Dies genug der Worte; lassen wir Taten sprechen! Die Zeit dazu ist schon heut!«

Hierauf tat ich dieselben sechs Züge und gab dem Medizinmann das Kalumet dann wieder. Er reichte es dem Herzle und sprach:

»Nimm du es hin, wie unsere Nscho-tschi! Sie spreche jetzt zu uns aus deinem Munde!«

Das war eine große Ehre. Ich freute mich darüber, doch nicht ohne eine kleine Bangigkeit. Sie sollte sprechen! Was würde sie sagen? Und sie sollte rauchen! Den scharfen, mit Sumach vermischten Tabak! Sie hatte nur ein einziges Mal in ihrem Leben geraucht, zum Scherz, eine halbe Zigarette. Sie schaute mich an und las in meinen Augen die Warnung: »Herzle, ich bitte dich um Gottes willen, blamiere mich nicht etwa!« Sie aber lächelte zuversichtlich, nahm die Pfeife, stand auf und sprach:

»Ich liebe Nscho-tschi, die Tochter der Apatschen. Ich kam an ihr Grab und betete. Da fühlte ich, daß es kein Grab, kein Tod, keine Leiche sei. Nur Ueberflüssiges verwest; alles andere aber bleibt. So wie sie, schwand auch dein Volk; seine Seele aber blieb. Und seid ihr stark genug, so wird sie sich den neuen, herrlichen

Körper schaffen, der ihr schon längst gebührte. Gib mir dein Herz, o Tatellah-Satah; das meinige ist schon dein eigen!«

Sie tat mutig alle sechs Züge und gab die Pfeife dann zurück. Als sie sich wieder niedersetzte, hatte sie feuchte Augen; aber es war nicht zu unterscheiden, ob es die Rührung oder eine Folge des Tabaks war.

Hierauf bekam auch der »junge Adler« das Kalumet. Er erhob sich und sprach:

»So weit die Erde reicht, ist jetzt eine große Zeit. Doch ist diese Zeit nicht vollendet; sie steht nur erst im Werden. Sie ist noch jung; sie hat sich zu entwickeln und wir mit ihr. Die Menschheit steigt zu ihren Idealen auf. Steigen auch wir! Bleiben wir nicht unten, wie bisher! Schon regt der ,junge Adler‘ seine Schwingen. Fliegt er dreimal um den Berg, so fährt der rote Mann aus dem Scheintod auf, und der Tag, der ihm gehört, bricht heran!«

Auch er tat die vorgeschriebenen sechs Züge und gab das Kalumet dann an den »Bewahrer der großen Medizin« zurück.

Dieser hatte es langsam auszurauchen, ohne daß weiteres dabei gesprochen wurde. Hierauf war die Zeremonie vollendet. TatellahSatah geleitete uns nach dem erstbeschriebenen, großen Raum mit den vielen Friedenspfeifen. Da zeigte er auf einen dort wartenden, riesenhaften Indianer und sagte:

»Das ist Intschu-inta, euer Diener. Er wird euch nach eurer Wohnung führen. Er sagt euch alles, was ihr wissen wollt. Er war der Liebling Winnetous. Sei er nun auch der eurige! Nur einmal bitte ich euch, meine Gäste auch beim Essen zu sein, nur heut am ersten

Tage, in einer Stunde; dann aber seid ihr stets und in allem frei, könnt aber zu mir kommen, so oft es euch beliebt.«

Er reichte uns die Hand und zog sich dann zurück. Wir gingen zunächst nach dem Hof hinab, wo wir unsere Pferde gelassen hatten. Da stand aber nur der Hengst des »jungen Adlers« und das Maultier, welches sein Paket trug. Er stieg auf und ritt davon, hinauf nach dem Wachtturm, der ihm zur Wohnung angewiesen war. Unsere Pferde und Maultiere waren, wie wir von Intschu-inta erfuhren, von Pappermann nach unserm Quartier geführt worden, wohin wir ihnen jetzt nachfolgten.

Intschu-inta war, wie bereits gesagt, ein wahrer Hüne von Gestalt, gewiß schon über 6o Jahre alt, doch von noch jugendlicher Rüstigkeit. Ein wahrheitsliebender, treuer, stolzer Charakter. Wenn er als unser »Diener« bezeichnet worden war, so war er das freiwillig. Es hatte nichts mit dem Begriff der Unterordnung, der Gehorsamleistung zu tun. Er war trotzdem in jeder Beziehung sein eigener, selbständiger Herr. Er führte uns durch die schon erwähnten Tore nach dem zweiten, dritten, vierten, fünften und sechsten Innenhof. Das dort stehende Gebäude war für uns bestimmt, ganz allein nur für uns.

 

»Es ist Winnetous Haus,« erklärte uns das »Gute Auge«.

»Wohnte er da?« fragte ich.

»Stets, so oft er kam«, antwortete der Diener. »Die Räume, in denen Old Shatterhand wohnen wird, sind noch ganz genauso, wie sie von Winnetou verlassen wurden, als er zum letzten Male hier war. Wenn Intschu-tschuna kam, wohnte er bei seinem berühmten Sohn. Und ebenso Nscho-tschi. Unsere weiße Schwester wohnt in den Stuben, welche von der schönen, gütigen Schwester Winnetous bewohnt worden sind.«

Auch dieses Gebäude hatte Balkone vor den schmalen Schartenöffnungen der Mauerfronten. Infolge der hohen Lage mußte es da einen noch weiteren Fernblick geben als unten bei Tatellah-Satah. Unsere Pferde und Maultiere waren in einem stall- oder schuppenartigen Nebengebäude untergebracht. Wir aber stiegen die Treppe zu den Wohnräumen empor und gelangten da zunächst in eine große, indianisch ausgestattete Stube, in welcher hohe Tongefäße zum Waschen standen. Es gab da zahlreiche Sitze verschiedener Art und auch eine Platte mit Friedenspfeifen.

»Das ist der Empfangssalon«, lächelte das Herzle.

Die Wände waren mit allerlei Waffen ausgestattet. Ich sah einige Messer, Pistolen und Flinten, die ich kannte. Sie hatten Jagdgenossen von uns gehört. Der Diener führte uns durch das ganze Gebäude. Es hätte bequemen Raum für 30-40 Gäste gehabt, und ich müßte mehrere Druckbogen füllen, um die Einrichtung und Ausstattung auch nur einigermaßen zu beschreiben. Darum unterlasse ich das jetzt, zumal ich später, wenn ich »Winnetous Testament« veröffentliche, auf dieses Haus und seine Räume zurückzukommen habe.

Mit welchen Gefühlen ich die drei nebeneinanderliegenden Stuben betrat, welche den Zweck gehabt hatten, Winnetou zum eigentlichen Gebrauch zu dienen, kann man sich wohl denken. Links lag die Schlafstube. Hieran stieß die bedeutend größere Wohnstube. Hierauf folgte die ebenso große Arbeitsstube. Aus jedem dieser drei Räume konnte man hinaus auf den Balkon treten, um die herrliche Aussicht, die sich da bot, zu genießen. In der Schlafstube gab es ein sehr weiches, sehr hohes und außerordentlich sauberes Lager von Fellen und Decken. Hierzu einige Wassergefäße zum Waschen und Trinken, weiter nichts. Die Wohnstube war halb europäisch, halb indianisch eingerichtet. Es gab niedrige und hohe Sitze, niedrige und hohe Tische. Auf diesen Tischen lag und an den Wänden hing gar mancher Gegenstand, den ich kannte, weil er von mir stammte. Darunter zwei Photographien, die ich für gut getroffen gehalten hatte. Jetzt waren sie ziemlich verblichen. An der einen Wand hingen wohl gegen 20 Blätter mit Versuchen, diese Photographien nachzuzeichnen.

»Er muß dich doch sehr, sehr lieb gehabt haben!« sagte das Herzle, indem sie diese Blätter eingehend betrachtete. »Seine Hand ist nicht talentlos gewesen. Er traf, war aber ungeübt, noch nicht einmal Schüler! Es ist das so außerordentlich rührend!«

In der Arbeitsstube stand – – ein Schreibtisch, ja, wirklich ein Schreibtisch, mit Kästen, Federn, Tinte und vielem Papier. Die Tinte war eingetrocknet. Hier hatte er, der Herrliche, sich im Schreiben geübt. Hier war er, der Bändiger der wildesten Pferde, der Meister im Gebrauche einer jeden Waffe, auf die Jagd nach orthographischen Schnitzern gegangen! Mein lieber, lieber, mein einziger Winnetou! Und hier hatte er die bedeutsamsten Kapitel seines »Testaments« geschrieben, dessen Veröffentlichung mir übertragen worden ist!

Auch anderes hatte er hier gearbeitet, mit Messer und Zange, mit Hammer und Feile, sogar mit Nadel und Zwirn! Nichts war ihm zu niedrig und zu klein gewesen. Sogar eine Ledermappe zu machen, hatte er versucht. Als ich sie öffnete, lag ein einziges Blatt darin. Darauf stand in großen Buchstaben geschrieben: »Charly, mein Charly, wie liebe ich Dich!« Und als ich es umwendete, war auch die andere Seite beschrieben, doch klein und wie mit zitternder Hand: »Charly, ich sterbe für Dich. Ich weiß es, ich weiß es! Dein Winnetou.«

Intschu-inta stand dabei und sah, daß das Herzle, als wir das lasen, weinte. Auch mir stand ein Tropfen im Auge. Er, der starke Mann, drehte sich um und fuhr sich mit der Hand ins Gesicht.

»Es ist hier alles so sauber! Grad als ob er erst vor einer Stunde hier gewesen sei!« sagte sie. »Wer hat hier auf Ordnung gehalten? Wer hat gewischt?«

»Ich,« antwortete er.

»Wann?«

»Jeden Tag.«

»Seit wann?«

»Seit er zum letzten Male hier war.«

»Diese lange, lange Zeit? Jeden Tag? Trotzdem er nicht mehr kommen konnte? Trotzdem er nicht mehr lebte?«

Da schüttelte er leise den Kopf, lächelte ebenso leise und antwortete:

»Er sagte stets, es gäbe keinen Tod, das habe ihm sein Bruder Shatterhand versichert. Und ich glaubte ihnen beiden. Ich glaube es auch noch heut.«

Er strich mit der Hand über den Lederanzug, der da an der Wand hing, und fuhr fort:

»Diese Leggins und diese Jacke trug er stets, wenn er die Absicht hatte, die Wohnung nicht zu verlassen. Bin ich hier allein, so ist es mir oft, als höre ich die Lederfalten dieses Anzuges rauschen. War das Winnetou? Ging er unsichtbar hinter mir vorüber? Wenn ich hier eintrete, ist es mir oft, als stehe er da draußen auf dem Altane, die Hände gefaltet, um zu beten, wie er zu tun pflegte, wenn ihn eine Sehnsucht oder ein Leid bewegte. Er nannte mich seinen Freund; ich aber war stolz darauf, mich seinen Diener nennen zu dürfen. Ich legte ihm die Hände unter die Füße und wäre tausendmal gern für ihn gestorben. Aber er hat sterben müssen. Denn nicht sein Leben, sondern sein Tod hat alle Stämme der Apatschen und alle roten Völker aufgeschreckt, doch endlich die Augen zu öffnen und einzusehen, wie köstlich das Leben eines einzelnen Menschen ist, um wieviel köstlicher und unersetzlicher also das Leben einer ganzen Nation, einer ganzen Rasse! Wir waren blind. Wir sind nun sehend geworden! Wie habe ich ihn lieb gehabt, wie lieb, wie unendlich lieb!«

Und plötzlich stand er vor mir, faßte meine Hand und bat:

»Nimm seine Stelle ein! Nimm sie ein! Nicht nur hier im Hause, sondern auch hier bei mir!«

Er klopfte sich an die Brust. Dann nahm er auch das Herzle an der Hand und fuhr fort:

»Und dich flehe ich an, sei uns Nscho-tschi! Sprich zu den Frauen, die sich hier versammeln wollen! Führe sie nicht zu Worten, sondern zur Tat! Tatellah-Satah ist Priester, aber nicht Krieger. Bedenkt das wohl! Darum war es die Sehnsucht unseres großen Winnetou, seinen weißen Bruder in dieses Haus zu leiten. Die Seele, die hier erwacht, braucht Schutz und Schirm vor ihrem eigenen Volk. Sie hofft auf euch, auf euch!«