Aus meinem Merkbuch

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Aus meinem Merkbuch
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Karl Schönherr

Aus meinem Merkbuch

Erzählungen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

DIE LEHRERIN

DER BERGPFARRER

REINIGUNG

DER ROSENWIRT

DER HIRT

DIE HOFFNUNG DER MUTTER

DER SCHNAUZL

DER KAISER

DER LETZTE SOMMERGAST

DIE ERSTE BEICHT

AUF DEM FRIEDHOF

DER NEUE DOKTOR

ABGESTÜRZT

ALS DER VATER STARB

DER GLASSCHRANK

RAUFER

DER EHRENPOSTEN

DIE MÜTTER

MEINE ERSTE BEGEGNUNG MIT DEM DICHTER ADOLF PICHLER

Impressum neobooks

DIE LEHRERIN

Gestern habe ich ein ganz nettes, bedeutungsvolles Genrebildchen gesehen. Da steht in der Gasse gegenüber meinem Fenster ein etwas baufälliges Haustor weit offen. Dahinter gähnt ein dunkler Flur. Vor dem Tor steht ein kleines, etwa vierjähriges Bübel, an dem man es wieder einmal so recht deutlich sehen konnte, daß der Mensch aus Erde und Lehm gemacht ist. Der Kleine benützt das Tor als Schreibtafel. Der rechte Zeigefinger dient ihm als Feder. Auf dem Boden in einem Grübchen ist Straßenkot zu Brei gerührt; das ist die Tinte, in die der Junge dann und wann die Feder taucht. Er hat im Eifer des Schreibens die Zunge ängstlich zwischen die Zähne geklemmt und schielt immer wieder kleinverzagt nach hinten.

Ein etwa fünfjähriges Mägdlein sitzt ängstlich zusammengeduckt auf dem Wehrstein nebenan und hält die Hände, zwei liebweichpatschige, schmutzige Pfötchen, nach braver Schülerart schön flach auf einen umgestürzten blechernen Margarinkübel. Auch sie wendet gleich dem Knaben immer wieder ihr herziges Köpfchen in halber Wendung furchtsam nach rückwärts. Denn die Kinder spielen Schule, und hinter ihnen lauert die gestrenge Lehrerin. Es ist ein barfüßiges Mädel von etwa sieben Jahren, mit einem dünnen, semmelblonden Zöpfchen. Sie hatte neben sich ein Strickzeug liegen, aber weiß Gott, sie kommt nicht dazu, eine einzige Masche zu fassen. Immer wieder springt sie auf und langt nach dem Haselstäbchen. Bemüht sich auch, als Lehrerin ein gutes Schriftdeutsch zu sprechen:

»Was? Dös soll ein Haarstrich sein?« schreit sie den Knaben vor der Tafel an. »Du Fratz! Ich werde es dir lernen!« Und das Haselstäbchen saust unbarmherzig über die kleinen Finger.

Armes Bübel! Mit solcher Feder und solcher Tinte soll er auf dem alten Tor Haarstriche machen. Nichts ist der Lehrerin recht. Sie sitzt da und lauert auf Fehler und Ungehörigkeiten, wie ein Jäger auf den Fuchs. Das Stäbchen in ihrer Hand sucht nach lebendiger Betätigung. »Habe ich es dir nicht alm gesagt, du sollst die Hände gerade halten!« herrschte sie das brave Kleine auf dem Wehrstein an. »Wart, Fratz! Ich werde dich learnen!« Und das Stäbchen saust auf den Margarinkübel nieder, daß es dröhnt. Die Kleine hat ihre Pfötchen zum Glück noch rechtzeitig in Sicherheit gebracht und befleißigt sich jetzt nur noch ängstlicher einer musterhaften Haltung. Die Lehrerin nimmt nun summarisch die ganze Klasse vor:

»Ihr unkulidivierten Fratzen! Ihr verbütert mir mein ganzes Löben!« Kein lieber Zug ist an dieser Kleinen, alles streng und mitleidlos. Ich kenne das Mädel. Es ist sonst gut und sanft, aber es kopiert da offenbar seine eigene Lehrerin. So tat sich mir in dem simplen Spiel der Kinder ein getreues Widerbild einer kleinen Tiroler Dorfschule auf mit seiner ganzen trostlosen Dürre und Härte.

Die zwei kleinen Schüler haben sich ebenso wie die Lehrerin mit der ungeheuren Kraft der Kinderphantasie ganz und voll in das Milieu hineingelebt. Ganz devot und unterwürfig lassen sie alle Schelte und Schläge über sich ergehen, trauen sich nicht zu mucksen und zucken jedesmal schmerzlich zusammen, wenn die Lehrerin wieder nach dem Stäbchen langt. Sie versuchen alles ja nur recht gut und schön zu machen, aber was hilft’s? Wer sucht, der findet! Die Lehrerin hat schon wieder einen Anhaltspunkt gefunden, das schmutzige Händchen der Kleinen. Gott sei Dank, das Haselstäbchen bekommt wieder Arbeit. Die Lehrerin besah vorerst ihre eigene Hand, die auch nicht gerade sauber war. Sie spuckte heimlich darauf und wischte sie an ihrem Röcklein verstohlen aus dem gröbsten Schmutz heraus. Dann stürzte sie auf das Kleine los und riß ihr das Patschhändchen in die Höhe:

»Du Schmutzfink! Ich werde dir learnen, die Hände waschen!«

Dann schalt sie wieder mit dem Knaben vor der Tafel:

»Tut man mit der Hand die Tafel abwischen? Siechst du nicht den Schwamm, du Racker?«

Sie wies auf einen alten, rotwollenen Fetzen, der an dem Tor hing:

»Du hast den Schwamm nicht amal ausgewascht? Marsch zum Brunnen und mache den Schwamm guet naß! Und du, Schmutzfink, wasche dir die Händ, sonst schlage ich dich mausgageltot!«

Sie stieß die Kleinen mit harter Faust gegen den Brunnen zu und gab jedem noch einen Streich mit auf den Weg.

Die beiden watschelten mit ihren kurzen Beinchen furchtsam enge aneinandergeschmiegt dem Brunnen zu und wuschen und scheuerten und hatten ja gut acht, nur alles recht gut zu machen! Wohl zwanzigmal taucht die Kleine ihre Patschhändchen tief in den Brunnen, bis sie ganz rotblau waren vor Kälte. Aber was half’s? Wer sucht, der findet! Die Lehrerin stand unter dem Tor und schrie ihnen zu:

»Macht man es so? Zehn Minuten von der Schule ausgeblieben! Ihr Fratzen! Ich werde enk learnen!«

Und sie schwang viel verheißend das Haselstäbchen den angstvoll näher kommenden Kindern entgegen.

Aber da langte plötzlich ein langer, dürrer, brauner Schicksalsarm aus dem Dunkel des Hausflurs nach der Lehrerin, faßte sie hinten beim blonden Schopf und zog sie hinter das Tor. Ich hörte eine kreischende Stimme, sie gehörte wohl der Mutter an:

»Hab i nit gsagt, du sollst stricken?«

Dann vernahm ich ein dumpfes Pitsch-Patsch und das gellende Geschrei der Lehrerin.

Im Nu war die kleine Schulwelt zerstört, die sich die Kinder unter dem Haustor aufgerichtet hatten.

»O je«, lachten die beiden Kleinen. »Die Lehrerin kriegt Schlag!« Und liefen lachend davon.

Ich aber mußte lange Zeit noch an die wirkliche Lehrerin der kleinen Lehrerin denken. Ich kenne sie nicht und kenne sie doch!

DER BERGPFARRER

Habt ihr es nicht schon über Land gehen gesehen, mein liebes, weißhaariges, altes Pfarrerl; im dürftigen Schoßrock, schwarzen Kniehosen, derben Bundschuhen; den weiten, grünlich schimmernden Filzhut ins Gesicht gedrückt?

Hoch droben, auf unwirtlichem Hang, wo die Füchse einander gute Nacht sagen, wo es dreiviertel Jahr Winter und einviertel Jahr kalt ist, da haust er mitten unter ein paar armen Bergbauern. Ungewohnt des ebenen Bodens, schreitet er knieweich fürbaß, das mächtige Regendach unter dem Arm. Bald prüft er mit kundigem Auge das am Himmel ziehende Gewölk, dann wieder blättert und liest er über die weit an die Nase heruntergerutschte Hornbrille hinweg im Brevierbuch. Zwischendrein weltliches Schelten und Kosen mit dem zottigen, hinterdrein laufenden Pfarrhund und freundliche Wechselrede mit begegnenden Bauern. Treuherzig ist sein Blick und ohne Falsch und Trug seine Rede. Augen verdrehen und Heuchelei sind ihm fremd. Den frommen Glauben an den Herrgott trägt er tief im Herzen vergraben, drum rutscht er ihm auch nicht bei jeder Gelegenheit auf die Zunge und zum Munde hinaus. Dafür guckt ihm an allen Ecken und Enden schalkhafter Humor und kerniger Mutterwitz hervor.

»Wie oft hast du dö Sünd begangen?« fragte er einmal den Bauern im Beichtstuhl. Der kratzt sich nachdenklich hinter dem Ohr und meinte:

»Rat halt amal!«

»Ratn, sonst hab i nix zu tun?« wettert der Pfarrer. »Also sagn wir, fünfmal!«

»Weiter aufer!«

»Zehnmal gar?«

»Nur aufer!«

»Zwanzigmal?«

»Aufer, sag i!«

Wie der Kurat in steigendem Entsetzen auf die Zahl vierzig kam, meinte der Bauer:

»Jetz hast akkrat um zwoa zviel graten!«

Wie es zur Buße kam, fragte der Bauer: »Wieviel Bueß?«

 

»Rat amal«, bedeutete ihm der Kurat.

»Nu, etliche Vaterunser?«

»Aufer!«

»Epper an’ Rosenkranz gar?«

»Aufer, sag i!«

Und so ging es in die Höhe, bis der Bauer schweißtriefend vierzig stotterte.

»So, jetzt hast um zwoa zviel graten«, meinte nun seinerseits der Kurat.

Mit den Bauern lebt mein Pfarrerl im besten Einvernehmen. Er ist ihr Berater in aller Not. Der Bauer läßt sich von ihm den Steuerbogen prüfen, er holt seinen Rat bei einem Ankauf so gut wie vor einer Heirat ein; denn der Kurat weiß wie keiner sonst Bescheid in einzelnen Familien, er ist in alle Verhältnisse eingeweiht, die andern Leuten ewig verschlossen bleiben. Auch um Geld .kommt der Bauer zum Herrn Kurat, der zinsenlos ausleiht, wenn er nicht selber bodenleer ist, was häufig genug vorkommt; denn sein Einkommen ist nicht viel größer als das eines Tagschreibers.

Den Gottesdienst hält er gewissenhaft, doch befleißigt er sich der möglichsten Kürze. An Werktagen eine kurze Messe, am Sonntag eine gesungene Meß und eine kleine Predigt, das ist der geistliche Küchenzettel. Lächerliches Pathos und salbungsvolle Gefühlsduselei sind dem Bergpfarrer fremd. Ein Ordensmann weilte bei ihm auf Besuch und gab seiner schmerzlichen Verwunderung über die kurze Dauer des sonntägigen Gottesdienstes Ausdruck. Dem erwiderte er: »Der Gottesdienst ist kein Strudelteig, den man in die Läng ziecht!« Mein Bergpfarrerl ist den armen, geschundenen Bergbauern in Leibes und Seelennot ein getreuer Berater und Tröster. Habe selbst einmal einer Predigt dieses wahrhaft guten Menschen beigewohnt, die mir in ihrer schlichten Herzenseinfalt unvergeßlich blieb.

Wie der brave Seelenhirt seinen Pfarrkindern von der Kanzel herab begreiflich machte, sie sollten doch jetzt nicht so viel Holz schlagen lassen, die Preise seien gegenwärtig schlecht. Sie möchten doch um Gottes willen ein bißl zu warten.

»Und nacher, meine lieben Leuteln, tuets nur ein bißl sparn! Da geht ein Sechserle fort, und da wieder eins! Und zehn Sechserln machen schon an’ Gulden. Und mit ein paar Gulden derkaufts ihr schon ein junges Schweindl! Und habts dann zu Weihnacht, nach dem Amt, doch auch was Guets zum Essen!«

An hohen Festtagen bekommt das einsame Pfarrerl eine Aushilf in Gestalt eines Kapuziners oder Franziskaners aus dem nächsten Kloster.

Ein solcher Aushilfskapuziner, so erzählte mir der Pfarrer unlängst eines Abends auf der Hausbank, predigte einmal mit gewaltiger Salbung unter beständigem pathetischem Nicken seines bärtigen Hauptes. Von der Kanzel aus sieht er ein altes Weiblein im Betstuhl kauern. Es flennt vor sich hin und schaut unentwegt tränenden Auges zu der Kanzel auf. Diese Wirkung seiner Worte auf das Volksgemüt geht dem Prediger tief zu Herzen. Immer salbungsvoller wird seine Rede, immer stärker bewegt sich sein Haupt mit dem herausgestrichenen Bart auf und nieder, und immer heftiger schluchzt das Weiblein. Nach der Predigt fragt er die Alte:

»Weibele! Was hat dich an meiner Predigt so gepackt?«

»Ja mei«, meinte das Weiblein. »Wie beim Predign Enker Bart allweil so auf und nieder gegangen ist, da ist mir halt wieder meine einzige Geiß eingfallen, dö mir vor vierzehn Tag auf’n Berg obn verunglückt ist!«

»Bin sonst nit schadenfroh«, fügte das prächtige Pfarrerl lachend bei. »Aber die Abfuhr han i ihm vergönnt!« Damit stand er von der Bank auf.

»So, jetzt aber ins Bett! Morgen ist Samstag; ein strenger Tag! Vormittag heißt’s Rasiern! Die Tonsur putzt mir dann die Häuserin aus! Aber mein Hals tät ich ihr nit anvertrauen! Nachmittag heißt’s dann Predig studieren, und gegen Abnd Beicht sitzn; und das Brevier will auch noch absolviert sein!«

Das schwarzlederne Brevierbuch mit dem mattroten Schnitt und den stark abgegriffenen Blättern ist überhaupt der unzertrennliche Begleiter des Kuraten auf seinen Wanderungen durch Berg und Wald. Kein Wunder, wenn er nach und nach äußere Eindrücke unwillkürlich zum Brevier in ein gewisses Verhältnis bringt. Sooft wir auf unseren Spaziergängen an einem schönen Platz vorbeikamen, meinte er:

»Dös wär aber jetzt ein Platzl zum Brevierbetn!«

Eine Fülle von Humor liegt auch darin, wenn der geistliche Herr in seinem Zimmer betend auf und ab geht und, beim langen Psalm Diligam angelangt, energisch seiner Häuserin zuruft:

»Hoi, Häuserin! Bringts mir gschwind ein Seidl Wein, jetzt kommt der Diligam!«

Offenbar hat er eine ungewisse Furcht vor dem langen Psalm und glaubt seiner ohne Weindl nicht Herr zu werden.

Die junge, dralle Pfarrersköchin, die mit einer gewissen frivolen Absichtlichkeit gewöhnlich neben dem Pfarrer beschrieben wird, ist da oben in der Einöde nicht zu Hause. Steigt nur einmal hinauf zu meinem Pfarrerl und schaut euch das alte Fegefeuer an. Sie macht mit ihrer Herrschsucht und ihrem grämlichen Altjungferntum des Bergkuraten Hauskreuz aus.

»Wie i noch jung bin gwesen, han i, Gott verzeih mir die Sünd, so an’ Glust ghabt nach an’ Kreuzl oder Ordensband! Seit i da heroben Pfarrer bin, ist’s mir graten! Han i den höchsten österreichischen Schlachtenorden kriegt, das Theresienkreuz!«

Seine Häuserin heißt nämlich Therese.

In dem kleinen Bergkirchlein fiel mir eine überlebensgroße, gut gearbeitete Holzfigur des heiligen Michael auf, die über dem Hochaltarbild, das Mariä Himmelfahrt darstellte, angebracht war. Dräuend schwang St. Michael sein Schwert aus luftiger Höhe.

Auf die Frage, wer die Statue verfertigt, meinte der weißhaarige frische Alte: »Die han lei i gmacht!«

Die Kirche sei von alters her dem heiligen Michael geweiht gewesen, und im Hochaltarbilde sei der tapfere Heilige im Kampfe mit den rebellischen Engeln dargestellt gewesen. Da habe man in neuerer Zeit an dessen Stelle die Mariä Himmelfahrt anbringen lassen. Das sei eine unverdiente Zurücksetzung:

»Was einmal dem Michel ghört hat, hätt man ihm nit nehmen sollen!

Wißts, Herr, i heiß auch Michel! Und das hat mich schiech verdrossen, daß mein Namenspatron so mir nix, dir nix pensioniert worden ist! Die Muttergottes han i mi aber nimmer traut wegzutun; sie könnt’s ungern habn! Und so hab i halt dö Figur gschnitzelt und obern Bild auf dem Hochaltar aufgstellt, weil i dös nit hab anschauen können, daß mein kreuzbraver Namenspatron sollt im Winkel stehn!«

Der alte Herr lud mich noch auf einen kleinen Plausch in seine Stube. Es war ein freundliches, einfach getäfeltes Zimmer, an dessen Wänden allenthalben hübsche Laubsägearbeiten und Heiligenbilder in wunderlich verschnörkelten, geschnitzten Rahmen hingen. Ein besonders fein gearbeiteter Rahmen umgab ein großes, farbenreiches Bild des heiligen Michael, welches zu Häupten des Bettes hing.

»Häuserin, hoi! Bringts a Halbe Wein und ein bißl Speck für den Herrn!«

Bald stand das Beschaffte auf blühweißem Tischtuch vor uns. Es war recht wohltuend, dem Kuraten zuzuhören. Er wußte so schlicht zu erzählen. Mitten in der Rede hielt er immer wieder inne, um mein Glas vollzuschenken und mich zum Zulangen aufzufordern: »Nur zugreifn! Es ist ja da zum Essen! Wenn’s was zum Anschaugn wär, hätt i Bildeln herglegt!«

Mit warmem Dank und Händedruck empfahl ich mich.

Sucht ihn doch einmal heim, meinen alten guten Bergpfarrer, es wird ihn freuen und mich. Aber ihr dürft ihn nicht suchen in der Nähe der Städte oder an der großen Heerstraße.

Scheu wie ein Flüchtling hat er sich zurückgezogen, weit hinauf in das Gebirge, bis an die Region der Gletscher. Drunten im ebenen Land ist für ihn kein Platz und kein Gedeihen.

REINIGUNG

Wie oft habe ich den alten Auerbrugger vor meinem Fenster über die Gasse tappen sehen. Immer ängstlich an der Häuserfront entlang, einen langen Stock vor sich herschiebend, vorsichtig nach Hindernissen tastend. Er ist stockblind, weiß Gott, seit wieviel Jahren. Ich kenne ihn nicht anders. Er trägt auch seit urdenklichen Zeiten den rechten Arm in der Schlinge.

»Was fehlt dir am Arm, Auerbrugger?«

»O mei! Er ist allweil so gwesn! Oben im Scharnier kann ich ihn nit rührn! Ein Glasl Wein tät i grad schon aufderhebn, und ’s Maul wär so weit auch in Ordnung! Aber, naja!«

Der Auerbrugger gehört zum unveräußerlichen Inventar des Armenspitals.

»Mich darf man nit verkaufn und nit versetzn!«

Armenhäuser auf dem Lande, daß Gott erbarm! Wenn er oft so in dem rattenkahlen Neste vor dem papierverklebten Fenster saß und hörte draußen das Leben vorüberlärmen, da kam’s ihm oft gar nicht so leicht vor: »Wenn nur einmal die ganze Welt der Teufel holet!«

Da war gleich die Spitalsoberin dahinter. »Hörst auf, so zu fluchn!«

»Ah, was! Er holt sie ja doch nit!«

»Auerbrugger! Es geht auf Ostern zu! Geh ins Kloster hinauf und tu dich wieder einmal reinigen! Osterbeicht machen, du brauchst’s!«

»Freilich! I schau die Weiberleut zu viel an!«

Der alte, blinde Auerbrugger war nämlich im Spital noch zu verschiedenen Arbeiten gut zu gebrauchen. So tastet er sich, vorsichtig den langen Stock vor sich herschiebend, ganz von dem Reinigungsgedanken durchdrungen, die Straße entlang.

»Wohin, Auerbrugger?«

»Reinign!«

Er sucht, mit dem Stock weit an der Gassenfront vortastend, den Einbug in das Klostergaßl.

Da standen zwei Büblein. Die lachten.

»Horts, Büebln! Jetz sagts mir grad, da rechts mueß ja gleich das Klostergaßl abschneidn!«

»Freilich schneidet’s da rechts ab!«

»Seid so guet, Büebln, und tuet mich bis zum Einbug führn!«

»Wir führn dich schon! Ganz gern!«

Der kleinere von den beiden, aber der größere Lump, faßt den langen Stock am untern Ende und zieht den Blinden hinter sich her:

»So! Jetz geh nur fest nach!«

Und führt den Alten am Klostergaßl vorüber geradenwegs vor die Einfahrt des Traubenwirtshauses.

»So! Da bist beim Einbug! Kannst nimmer fehln!«

Sie ließen den Alten stehen und liefen davon.

»Vergelts enk Gott, Büeblen!«

Der Alte tastet sich rechter Hand weiter.

»Teuflment! Seit wann ist denn im Klostergaßl a hölzerner Fueßbodn glegt? Da bin i ja heilig beim Traubnwirt! Verfluchte Büebln!«

Durch die offene Tür der Gaststube hatten ihn schon ein paar übernächtige, zechende Gäste ersehen.

»Was könnt man ihm denn gleich antun?« Das war ihr erster Gedanke. Die Leute sind ja gar so gut und freundlich.

»Halt! I hab’s! Gschwind! A Restl Wein, a Restl Bier, a Restl Schnaps! So! Alls zusammengschüttet in ein Bierglas!«

»Auerbrugger! Hast Durst? Da! Trink!«

»Was habts denn Guets?«

»A Kaisermischung!«

»A Kaisermischung? Sapperlott! Dann mueß man’s mit Andacht trinkn! Sollts alle lebn!«

Drückt die blinden Augen zu und tut einen andächtigen Schluck.

»Na! Schmeckt’s?«

Der alte Auerbrugger prüft nach alter Weinbeißerart mit der Zunge schmatzend den Geschmack nach. Er war sich noch nicht ganz klar. »Hm! Weiß nit recht, wo i’s hin tuen soll! Aber was Bsunders ist ’s! Dös spür i!«

Er macht noch einen prüfenden Schluck.

»Hm! An’ bittern Nachgschmack hat’s! Dös wird aber schon guet fürn Magn sein!«

»Na ja! Der Kaiser trinkt’s alle Nacht vor dem Schlafengehn!«

»Eben! Dös merk i schon. Die Sach hat an’ Gehalt!«

Der Trunk stieg immer höher in der Achtung des Auerbrugger. Er stürzte das große Glas in einem Zug bis auf den letzten Tropfen hinunter. Dann lachte er mehr als vergnüglich auf.

»Hahaha! Und wärmen tuet’s! Respekt! Dös wärmt den Magn!«

Der Auerbrugger wurde immer aufgelegter:

»Mannder! Dös geht ins Bluet! Haha! Jetzt spür i erst, daß i lebendig bin! Vergelts enk Gott! Haha! So a Mischung, da hat der Kaiser freilich leicht lustig sein! Hahaha!«

»Hahaha!« grölten die Gäste mit.

Auerbruggers tote Augensterne leuchteten in besoffenem Glanz:

»Laßt mich eins tanzen!«

»Da! Tanz!«

Er torkelte lustig besoffen in der Stube herum.

Sie stellten ihm immerfort Stühle in den Weg. Der Blinde fiel ein ums andere Mal der Länge nach hin. Die guten Leute brüllten vor Vergnügen. Der Alte lachte mit:

»Na! So fein ist’s schon lang nimmer gwesn! Führt mi ausser in Gotts freie Natur! Da herin ist’s mir heut zu eng!«

Sie führten den lebenstollen Alten in den Hof hinaus und setzten ihn auf den Düngerhaufen!

»Da ist Natur! Frisch vom Zapfn!«

»Ah! So weich bin i schon lang nimmer gsessn! Ist dös heut a Lust!«

 

Er begann auf dem Düngerhaufen einen Gesang, daß jung und alt zusammenlief:

»In Lust, in Lust leb ich!

In Lust, in Lust schweb ich!

Und wer in Lust lebt,

Der ist mein Brueder!«

»Um so an’ Brueder tät i mi schön bedanken! Packts ihn auf und führts ihn heim, das bsoffene Schwein!« sagte der Traubenwirt.

Das war für die Buben ein Spaß. Sie luden den Alten auf einen halbgefüllten Mistkarren.

Der Auerbrugger weinte vor Freude:

»Na! Jetz tun sie mi gar noch mit dem Wagn heimführn! Vergelts enk Gott, Leut! Ist dös heut a Tag!«

An hundert Leute liefen johlend neben dem Karren her. Um ihn herum lachte und tobte die Bubenschar; sie bewarfen ihn mit Schmutz, bespritzten ihn mit Wasser. Der blinde Alte aber saß wie ein König des Lebens auf dem Dünger:

»In Lust, in Lust leb ich!

In Lust, in Lust schweb ich!«

Vor dem Armenhaus luden sie ihn ab. Warfen einfach den Karren um. Der Blinde fiel in einen Straßentümpel, der noch seit dem letzten Regen stand. Denn um die Armenspitäler herum scheint wenig Sonne.

»Oha!« meinten besorgt die Buben, während um den Alten der Kot aufspritzte. »Jetz wärst bei ein Haar in die Lackn gfallen!«

Und wieder ein Gebrülle und Gelächter, daß alles Vieh in den umliegenden Ställen unruhig wurde.

Der Alte hockte mit übergeschlagenen Beinen in der Lacke und ließ seine toten Augensterne glückselig im Kreise wandern: »Leutln! I sag’s enk! Ist dös heut ein Tag! Alls kreuzlebendig, und ich mittelt drin!«

»Guet schaust aus, Auerbrugger!« schrie die Oberin erbost vom Fenster herunter. Im nächsten Augenblick stand sie schon mit rotem Kopf vor der Türe:

»Guet hast dich greinigt!«

»Schwester Oberin! Heut han i einmal was vom Himml gspürt! So fein ist’s noch nie gwesen!«

Er fiel der Oberin freudetoll um den Hals. Die gab ihm ein höchst irdisches Kopfstück und schob ihn durch das baufällige Tor.

Der dunkle, rattenkahle Hausflur schluckte gierig Auerbruggers Seligkeit.

Hartklirrend flog die Tür des Armenhauses ins Schloß.

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