Niewetow

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4

Ich hatte das Flickzeug in der Jackentasche, als ich den Raum betrat, von dem ich wusste, dass ich dort dem Toten zum letzten Mal begegnet war. Es war der Ort, in dem die einheimischen Alten sich trafen, ein kleiner verräucherter Laden direkt neben dem Wendepunkt des Gleises, wo Süßigkeiten, Zigaretten und Zeitschriften verkauft wurden und die Fahrscheine für den grünen Triebwagen, der die Enden der Insel miteinander verband.

Der Flachbau, in dem dieser Treff sich befand, war eigentlich ein Fahrradverleih, der von zwei Kette rauchenden, hageren Brüdern betrieben wurde, die am Tag wohl kaum mehr als ein Dutzend Worte wechselten. An der Wand saßen auf einer Bank, wie Zuschauer einer Theateraufführung, rund um die Uhr eine Handvoll Männer, die damit beschäftigt waren, über die neuen Verhältnisse zu wettern und im Bier die Erinnerung daran zu ertränken, wie freudig sie sie einst begrüßt hatten. Dabei erschienen die Jahre der Zwänge und Gängeleien durch die Organe und Behörden der Einheitspartei zunehmend in ein milderes Licht getaucht unterm undurchdringlichen Qualm der Zigaretten und dem Knurren eines Bruders hinter dem Ausschank, das zuweilen in ein Bellen überging, um auf Reviergrenzen hinzuweisen zwischen Spekulation und Wissen in den Äußerungen eines Gastes, und das Erheben seiner Stimme schon im Keim ersticken konnte. Immer folgte auf das Gebell ein etwas längeres Schweigen, und wenn man genau hinhörte, konnte man in diesen bedrückenden Pausen das Rasseln des Schleims in ihren Bronchien hören wie das Knarren verhärteter Organe in der Brust, und dieselbe Härte meinte man wenig später hervorstechen zu sehen aus ihrem trüben Blick, wenn sie zwischen zwei Sätzen minutenlang verstummten und vergeblich versuchten, sich anderem zuzuwenden.

Ich trat ins Halbdunkel des Raums und starrte auf die Wand, an der die Männer schon seit Stunden saßen. Auf dem Platz, wo ich den Toten zuletzt gesehen hatte, saß heute jemand anderes, und ich konnte an ihren abweisenden Reaktionen erkennen, dass irgendetwas nicht stimmte. Auf meine Frage nach dem Verbleib des Abwesenden blickten sie mich an, als hätte ich mich in unerhörter Weise an ihrer Gemeinschaft vergangen.

Einer, es schien der Älteste zu sein, zündete sich eine Zigarre an und brummte schließlich, während er sie anrauchte: »De kümmt schun nuch.«

Die anderen starrten düster vor sich hin.

»Wo wohnt er?«, fragte ich forsch.

Der Alte hörte auf, an seiner Zigarre zu saugen.

»We wöll dat wäten?«

»Sie kennen mich doch«, erwiderte ich. »Gerade vor zwei Tagen haben Sie mir erklärt, wie ich zum ehemaligen Schießplatz gelange.«

Die Alten blickten einander nervös an.

»Es ist wichtig«, beharrte ich.

»Bi de Fru met de Vügels«, murmelte der Alte. Die Zigarre war ihm ausgegangen. Er zündete sie mit vorwurfsvollem Blick wieder an.

»Wie ist sein Name?«, setzte ich erneut an.

In diesem Moment drängte mich der Wirt mit dem Tablett beiseite, um den Männern an der Wand die Getränke zu reichen. Über die Schaumkronen auf ihren Biergläsern hinweg funkelten sie mich böse an. Da wusste ich, dass es Zeit für den Rückzug war.

»Die Frau mit den Vögeln also«, sagte ich und wandte mich so hastig zur Tür, dass ich direkt in einen rotgesichtigen Riesen hineinlief. Hinter mir hörte ich ein meckerndes Lachen. Ich ahnte, welche Frau der Alte meinte. Ich erinnerte mich an das orange Schild im Fenster einer Zoohandlung: ALLES MUSS RAUS.

Niewetow war voll von solchen Schildern in den Schaufenstern der kleinen Läden. Die Auslagen wechselten beinahe wöchentlich, wo gestern noch ein Lebensmittelgeschäft war, versuchte sich heute jemand mit Kurzwaren oder einem Copyshop. Kaum einer der Läden aus der Zeit der Planwirtschaft hatte hier dem Siegeszug der Supermärkte und Resterampen lange standgehalten. Im Vorübergehen ertappte ich mich öfter angesichts von Neueröffnungen dabei, Prognosen anzustellen über die Lebensdauer des neuen Geschäfts; beinahe immer siegte die Marktlogik in Gestalt des niedriger angesetzten Zeitraums.

Am Ende der Hauptstraße fand ich zwischen den neuen Büros eines Versandhauses und einer Versicherungsgesellschaft unter dem Ladenschild mit der Aufschrift »Zoobedarf« auch das orange Blatt mit den schwarzen Lettern. Es hing in einem vom Straßenschmutz beinahe blinden Schaufenster, die Buchstaben des mittleren der drei Worte waren zum überwiegenden Teil vom Hintergrund abgelöst, wie kurz vor dem Fall nach vorn gebeugt; das große R war schon abgestürzt. Irgendwer musste vor einer Ewigkeit diese dreizehn schwarzen Lettern sorgsam mit Leim auf ein damals noch rotes Blatt geklebt und das Schild dann mit Klebestreifen von innen an der Scheibe befestigt haben, um sich danach nicht weiter darum zu kümmern. Daneben standen ein leeres Vogelbauer und ein zur Hälfte mit Sand gefülltes Terrarium.

Ich griff nach der Klinke. Die Tür glitt auf. Der Laden war wie das gesamte Erdgeschoss leergeräumt. Tote Fliegen lagen auf dem Fensterbrett, in einem Winkel an der Decke darüber wehte ein altes Spinnennetz. Von irgendwo weit oben fiel eine einzelne Feder herab, berührte sanft die Luft.

»Niemand zu Hause?«, rief ich laut durch den Spalt der Korridortür ins Treppenhaus dahinter.

Aus weiter Ferne meinte ich ein Wispern zu hören.

Ich stieß die Tür weiter auf. Sie gab mit einem lauten Quietschen nach, und mir schien, dass sie deswegen nicht geschmiert worden war, damit die rostigen Angeln den unangemeldeten Besucher verrieten.

Ich stieg die Treppe hinauf, vorüber an gerahmten Hundefotos. Einige der Tiere waren neben Pokalen abgelichtet, andere mit Medaillen behängt.

Ganz deutlich vernahm ich jetzt von oben Stimmen. Ich zögerte vor der Tür am Ende der Treppe, die Stimmen dahinter schienen nicht von Menschen zu kommen. Mit angehaltenem Atem trat ich ein.

Mitten in dem Zimmer stand im Licht des flimmernden Fernsehbildschirms ein hoher Lehnsessel, in dem, die Augen geschlossen, den Mund weit offen, eine alte Frau saß, so winzig klein und hager und verloren wie eine dort abgelegte Gliederpuppe.

Ritter Kalbutz, dachte ich unwillkürlich.

Ich hatte die mumifizierte Leiche des Ritters vor Jahren in einer brandenburgischen Dorfkirche besichtigt, in seinem Sarg dem Staunen der erschauernden Besucher präsentiert. Dieser abgewetzte Fernsehsessel und sein Inhalt erschienen mir wie Reste einer untergegangenen Zivilisation, aufgetaucht vor meinen Augen nach Äonen aus den Tiefen des Meeres oder unter der Asche eines ruhenden Vulkans. Sie lag so hager und zart hingegossen da, dass ich nicht glauben konnte, ein lebendes Wesen vor mir zu haben, sondern ein Fossil, unberührt vom Vergehen der Zeit.

»Ja?«

Der winzige vergilbte Kopf, der kaum unter der Perücke auszumachen war, öffnete die Augen. Das flimmernde Licht des Fernsehapparats funkelte aus winzigen Scherben.

»Aquarienfische?«, hörte ich mich fragen. »Das Schild in Ihrem Fenster. Haben Sie noch welche?«

»Ah«, seufzte die Frau, »das meinen Sie.«

Sie schien sich dunkel zu erinnern. Vielleicht war sie ewig nicht mehr unten gewesen. Oder ich war der Erste, der seit langem hier heraufkam.

»Oh«, flüsterte sie, »das ist lange her. Ich hatte ein paar schöne Kanarienvögel. 1971? 72? 73? Und wie sie gesungen haben, die süßen Kleinen. Manch einer kam in den Laden nur, um zuzuhörn.«

Ich schaute mich um. Ganz hinten in der Ecke stand ein Vogelbauer und noch zwei weitere oben auf dem Kleiderschrank.

»Entschuldigen Sie, ich muss vergessen haben, das Schild aus dem Fenster zu nehmen.«

Ich ging hinüber zu dem Käfig. Den Boden bedeckte eine Ausgabe des Neuen Deutschland von 1973: »X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Berlin feierlich eröffnet.«

Ich schloss die Augen und wandte mich von diesem längst vergangenen Jahr ab. Ich sah auf den Fernsehsessel und sie, die verschrumpelt, vom Leben beiseitegeschoben, darin saß. Dann fragte ich: »Haben Sie manchmal am Sonntagmorgen im Berliner Rundfunk die Sendung ›Im Tierpark belauscht‹ gehört?«

»Mit Professor Doktor Dathe und Annemarie Rohn? Sieben bis Zehn in Spree-Athen!«, rief die alte Frau aus, von einer Freude erfüllt, die sie um Jahre jünger wirken ließ.

»Einmal haben sie Kanarienvögeln Musik vorgespielt und aufgezeichnet, wie sie dazu sangen«, erinnerte ich mich.

»Oh ja, sie waren phantastisch.«

»Ich war mir damals sicher, man hätte Notenblätter im Käfig verteilt.«

»Sie müssen ein sehr phantasievolles Kind gewesen sein.«

Der Kopf sank ihr erschöpft auf die Brust, und sie schloss die Augen.

»Aber«, flüsterte sie nach einer kurzen Pause, »Sie sind eigentlich wegen etwas anderem gekommen.«

»Ja«, gestand ich. »Wegen dem alten Mann, der bei Ihnen im Haus wohnt.«

»Ist er tot?«

Ehe ich ihr antworten konnte, fuhr sie fort.

»Seit gestern früh war nichts mehr zu hören vom ihm unten in der Küche. Als Sie dann eben die Haustür geöffnet haben, wusste ich, irgendwas stimmt nicht.«

»Das tut mir leid.«

»Schon gut. Ich hab ihn schon seit letzter Weihnacht nicht mehr gesehen. Die Frau vom Pflegedienst kümmert sich um mich, die, die mir auch mein Essen bringt. Dann stimmt es also, dass er tot ist? Haben Sie ihn näher gekannt? Falls Sie zur Beerdigung gehen, dort auf der Kommode liegen fünf Mark. Kaufen Sie ihm ein Gebinde von mir.«

Es lag kein Geld auf der Kommode, aber ich tat, als wäre es so, und steckte die fünf Mark, die es nicht gab, ein.

»Kommen Sie doch in ein paar Wochen wieder, wenn’s mir besser geht und ich mich wieder um den Laden kümmern kann … Sie schauen die ganze Zeit zur Tür. Müssen Sie los?«

 

»Ja«, sagte ich. »Ihre Haustür war übrigens offen.«

»Meinen Sie, jemand wird eine alte Frau wie mich ausrauben?«

Sie hob ein letztes Mal den Kopf. Ihre Augen funkelten, und irgendetwas tief drinnen ließ sie vor Schmerz das Gesicht verziehen. »Diese Treppe herauf wird niemand kommen, um mich zu erlösen.« Ihre Stimme schwand wie der langsam gedrosselte Ton eines Radiogerätes, und als sich die Augenlider senkten, verstummte sie völlig.

Mein Gott, dachte ich, sie will, dass jemand kommt und ihr einen schrecklichen Gefallen tut. »Aber nicht ich«, entfuhr es mir unwillkürlich.

»Nein«, seufzte sie. »Sie sind es nicht. Aber warum wohl kommt er nie herein.«

Sie hielt inne, blieb stehen wie eine Uhr. Sie atmete noch, doch sie wartete, dass ich ging.

»Auf Wiedersehen«, rief ich ihr zu.

Schweigen.

Ich hätte noch bleiben, mit ihr Tee trinken sollen, aber ich war nicht ihretwegen hier.

In der Tür blieb ich nochmal stehen und lauschte. Stöhnte sie noch irgendetwas in ihrem alten Schlaf? Ich spürte, wie mich ihr Atem hinausschob.

Auch die Tür des alten Mannes war nicht abgeschlossen, schien darauf zu warten, dass der Wind oder der Regen oder irgendein bleicher Fremder eintrat. Stattdessen tat ich es, zögernd.

Das Zimmer sah aus wie eine Durchgangsstation. Man musste sich durch Stapel von eingedrückten und teilweise aufgerissenen Kartons zwängen, und selbst die Position der Möbel wirkte provisorisch. Auf dem Fernsehtisch stand zwischen Bergen von Briefen, Werbeprospekten und Zeitungen das Zahnputzzeug, die Wäsche war zum Trocknen auf Stuhllehnen verteilt. Wie ein Tiefseetaucher in einem alten Bootswrack bewegte ich mich durch die Hinterlassenschaften, haushaltend mit meinem Atem in dieser Atmosphäre der Versunkenheit. Plötzlich stockte ich und schnappte gierig nach Luft, denn dort an der Wand überm Bett stand ein Name. Jemand hatte ihn in den Putz gekratzt, immer wieder und wieder, als hätte er Angst, ihn zu vergessen, als schrecke ihn die Vorstellung, eines Morgens zu erwachen und keinen Namen mehr zu haben.

Wilhelm. Und Willi. Und dann ein paarmal nacheinander: Schmitt. Schmitt. Schmitt.

Und darunter dann Wilhelm Schmitt.

Und Schmitt, W.

Das Bett quietschte unter mir, als ich mein Gewicht darauffallen ließ. Ich strich mit den Fingerkuppen über den Putz. Da stand noch etwas anderes. Eine Botschaft, ein Hinweis, eine Spur?

Ich erinnerte mich an einen Trick aus alten Kriminalfilmen: Der Detektiv streicht mit einem weichen Bleistift über die unsichtbaren Eindrücke auf einem weißen Notizblock und macht den vorher auf dem fehlenden Blatt darüber verfassten Text wieder sichtbar.

Genau das tat ich jetzt. Ich strich mit einem Bleistift ganz sacht über die Wand. Kratzer zeichneten sich ab, Figuren, Formen, Fetzen aus den Wachträumen eines alten Mannes, und ganz unten, direkt neben dem Laken: Er steht wieder im Flur.

Mir knackten die Knie vor Schreck, als ich mich zusammenkauerte. Das war doch ich, dachte ich, vor zehn Minuten vor dem Zimmer der Alten oben. Und eben gerade noch vor diesem hier. Und letzte Nacht der Regen, die

Fähre. Und der Dieselgestank und das Stöhnen und das Knarren der Planken, weil hinter mir sich jemand hastig entfernt.

Er steht wieder im Flur.

Er saß hinten auf der Fähre.

Nein, das ging jetzt etwas zu weit. War es etwa ein Verbrechen, auf einer Fähre Fahrgäste zu erschrecken oder im Dunkeln in Hausfluren rumzustehen?

Ich starrte erneut auf die Zeichen an der Wand, so vage und undeutlich wie vorhin das Geflüster der Alten. Ich zog mich zurück von diesen schrecklichen Überbleibseln der Einsamkeit und der Verzweiflung.

Draußen im Hausflur suchte ich nach Spuren für den nächtlichen Aufenthalt eines Fremden, ohne zu wissen, was für welche. Natürlich fand ich gar nichts. Ich kam mir lächerlich vor.

»Man sollte einfach die Türen verriegeln!«, rief ich laut in den Flur hinauf. Doch schon mein Versuch, die Haustür zu schließen, scheiterte.

5

Als ich bei der Polizeiwache ankam, trat gerade Hauptkommissar Krummnow auf die Straße. Er wischte sich mit der Hand übers Gesicht, zog sich nochmal kurz hinter die Drehtür zurück und trat dann so vorsichtig auf mich zu, als näherte er sich einem Sprengsatz.

»Ach Sie, wie geht es Ihnen? Haben Sie sich erholt?«

»Ich weiß jetzt, wie der Ermordete heißt.«

»Ermordet?«

Krummnow ging an mir vorüber auf seinen Wagen zu, der am Straßenrand parkte.

»Jedesmal, wenn auf dieser Insel einer mit einem Herzinfarkt zusammenbricht oder in ein Schlagloch stolpert oder besoffen ins Wasser fällt, taucht am nächsten Tag jemand auf mit Hinweisen auf den wahren Verursacher des Falls. Sie haben diesen Herzinfarkt-Schlagloch-Blick, und ich hab letzte Nacht schlecht geschlafen. Also stehlen Sie mir bitte nicht meine Zeit, Sie rasender Reporter, Sie.«

»Sie wissen also, für wen ich arbeite?«

»Wer wüsste das nicht in Niewetow? Sie gehen einer Menge Leute hier gehörig auf die Nerven. Zu viel heiße Luft, mein Bester!«

»Oh.« Ich stand Krummnow gegenüber, auf der anderen Seite seines Wagens, und schluckte herunter, was ich eigentlich hätte entgegnen sollen.

Krummnows Blick nahm plötzlich den Ausdruck väterlichen Schuldbewusstseins an.

»Ach Gottchen«, seufzte er.

»Was?«

»Wissen Sie, was mich stört an euch Amateurdetektiven?«

»Ich bin kein Amateurdetektiv, sondern Reporter von Beruf.«

»Ach so, ein Schnüffler mit Schreibmaschinenkurs. Wenn Sie schon so lange mit Mord und Totschlag beschäftigt wären wie ich, dann wüssten Sie auch, dass jeder Möchtegernzeuge, der zu uns hereinstolpert, so voller Beweise steckt, dass man über die Jahre Archive füllen könnte mit all den wilden Phantasien. Würden wir nämlich auf jeden Schwätzer etwas geben, der uns anruft, dann stünde bald die halbe Insel unter Mordverdacht. Warum also sollte ich auf einen Nachwuchsschreiberling hören, der es noch nicht mal zu einer festen Anstellung gebracht hat?«

Ich zuckte zusammen.

»Als Reporter kenne ich mich immerhin ein wenig aus mit den verborgenen Seiten des Geschehens, glauben Sie mir.«

»Dafür weiß ich mehr über Tatsachen. Oder fürchten Sie, Tatsachen könnten Sie verwirren? Sagen Sie, mussten Sie eigentlich irgendwann in Ihrem Leben jemals mit etwas wirklich Unangenehmem fertig werden?«

»Was meinen Sie?«

»Unheilbare Krankheiten, Vergewaltigung, Tod …«

»Der Tod meiner Eltern.«

»Natürlicher Tod?«

»Ja. Aber ein Onkel von mir kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben.«

»Waren Sie dabei?«

»Nein, aber …«

»Es zählt nur, wenn Sie’s mitangesehen haben. Ist Ihnen schon mal was Vergleichbares passiert, wie eine Leiche in einem versunkenen Bauwagen zu finden?«

»Nein«, antwortete ich nach kurzem Zögern.

»Na bitte. Sie stehen immer noch unter Schock. Beruhigen Sie sich, und gehen Sie wieder an Ihre Arbeit.«

Er schien zu bemerken, wie er immer lauter wurde. Er schüttelte den Kopf und brummte vor sich hin: »Oder vielleicht sollte ich mich beruhigen.«

Er öffnete die Wagentür, stieg ein, und ehe ich etwas Passendes erwidern konnte, brauste er davon.

Verärgert stürzte ich zur nächsten Telefonzelle, warf eine Münze in den Schlitz und wählte die Nummer eines Apparats jenseits des Stroms auf dem Festland. Als endlich jemand abhob, hörte ich aus einem Radio »Sunshine Reggae« dröhnen, eine Tür zuknallen, eine Toilettenspülung rauschen, und langsam begann sich meine Stimmung aufzuhellen.

Die Frau am anderen Ende hielt eine Weile den Hörer in der Hand, räusperte sich dann und fragte: »Was gibt’s?«

»Frau Kapell!«, rief ich, brach ab und begann noch einmal. »Frau Kapell, ich bin’s, Daniel.« – »Wer?« Sie überlegte eine Weile. »Sie wollen Fanny sprechen.«

»Sie brauchen ihm nur etwas auszurichten. Würden Sie das tun?«

»Kein Problem.«

»Sagen Sie ihm, ich muss ihn unbedingt sehn. Ich bin in zwei Stunden bei ihm. Danke.«

Ich legte auf.

Ich vergewisserte mich, dass ich noch genügend Münzen bei mir hatte, und rannte los, um die nächste Fähre zu erreichen. Vom Festlandhafen aus nahm ich den Bus. Eigentlich hieß Fanny Matthias Schmieder, aber nie rief ihn jemand bei seinem bürgerlichen Namen. Ich hatte ihn vor Jahren bei Recherchen zu einer Reportage über ostdeutsche Bluesbands kennengelernt, und der Kontakt zwischen uns war auch danach nicht abgerissen.

Fanny war sehr umfangreich und saß im Rollstuhl. Ich hatte ihn noch nie anders gesehen und war mir sicher, er schlief sogar auf Rädern. Er bewegte sich so wenig wie möglich, und wenn er durchs Zimmer rollte, dann nur unter schwerem Gekeuche. Er tat dies auch nur, um hinüber in die enge Küchenzeile oder ins Bad zu gelangen, wo er früher oder später nicht mehr herauszukommen, hoffnungslos in der Falle zu sitzen befürchtete. »Mein Gott«, stöhnte er oft, »stell dir vor, die Feuerwehr müsste mich eines Tages da herausschneiden.« Und dann rollte er zurück an seinen Stammplatz neben der Stereoanlage, nur eine Armlänge vom Kühlschrank entfernt, der bis obenhin voller Chipstüten und Bierpaletten war. Er aß und hörte ununterbrochen Musik. Neben dem Kühlschrank standen Regale, gefüllt mit Hunderten von Schallplatten und Tonbändern, frühe Aufnahmen sowohl von den Anfängen des Südstaatenblues als auch die neueste Free-Jazz-Einspielung, und ich stellte mir vor, wie Fanny, wenn gegen Morgen die letzten Takte verklungen waren und die letzte Platte knisternd aufhörte, sich zu drehen, in sich zusammensank wie ein vom Dunkel überwältigter Elefant. Die erschöpften Knochen begaben sich in ihren mächtigen Fleischbergen zur Ruhe, und sein rundes Gesicht war der Mond, der über das weite Gebiet seines geschundenen Körpers wachte.

6

Ich stand vor der Haustür und horchte. Eine Stimme hallte durch den Hausflur. Sie hob an mit einer Art Röcheln, fiel als Jaulen herab bis ins Erdgeschoss und strömte heulend durch den Flur heraus: die unerhörte Klage einer ausweglos abgeschiedenen Seele, so fernab all dessen, was allgemein unter Gesang verstanden wurde, dass es kaum noch als menschliche Lautäußerung gelten konnte.

Als ich zum ersten Stock hinaufstieg, erkannte ich ein paar Zeilen aus »Sittin’ On The Top Of The World«. Als ich oben vor Fannys Wohnungstür stehen blieb, bestieg ein schwarzer Junge gerade den Mississippidampfer Richtung Norden und warf einen verächtlichen Blick zurück auf die erbärmliche Hütte seiner Familie. Es war die Stimme eines afrikanischen Baumwollpflückers, der nach der Plackerei unter sengender Südstaatensonne dem Himmel zur Nacht seine unerwiderte Liebe klagt. Was mich durch das alte Treppenhaus hinaufzog, war diese Stimme, ein Versprechen der Unzerstörbarkeit, die sich dort oben jemand ersehnte.

Ich wusste, der Gesang würde mit meinem Läuten abbrechen.

»Fanny«, sagte ich, »als ich die Treppe hochkam, hab ich hier oben jemanden singen gehört.«

»Wirklich?«

»Klang beinahe wie Howlin’ Wolf.«

»Seltsam. Wer das wohl gewesen sein mag?«

Wir spielten dieses Spiel seit Jahren, sprachen über Musik, diskutierten über Blues, Bebop, Modern Jazz, hörten die alten Platten wieder und wieder, aber nie, nicht ein einziges Mal in der ganzen Zeit, hatte Fanny gesungen, wenn ich im Zimmer war.

Auch heute war es nicht anders; als er mir öffnete, setzten die Instrumente ein. Fanny hatte die Nadel auf die Platte gelegt, war zur Wohnungstür gerollt und hatte mit der Klinke in der Hand gewartet. Als der Meister mit den Lippen das Blech berührte, riss er die Tür auf. Miles’ Trompete rief nach mir, zog mich unwiderstehlich hinein. Fanny half nur etwas nach.

Es war die A-Seite von »Bitches Brew«. Fanny dirigierte mich in einen wackligen Sessel, ergriff meinen Arm und drückte mir ein Whiskyglas in die leere Hand.

»Um die Zeit bitte keinen Whisky, Fanny.«

»Blödsinn. Schau dich mal im Spiegel an! Zum Wohl!«

Er stürzte sein halbvolles Glas in einem Zug hinunter und stieß befriedigt die Luft aus seinem Innern.

Ich trank den guten Tropfen in winzigen Schlucken. Es war ein sechzehn Jahre alter Single Malt, mitgebracht von einem von Fannys Liebhabern oder Musikerfreunden, die den Weg in die Provinz nicht scheuten, um sich angenehm zu unterhalten, in den Tiefen von Fannys Archiven zu versinken oder in seinen allumfassenden Umarmungen. Sie brachten außer ihren Lüsten stets auch einen guten Tropfen mit, und wenn sie wieder gingen, lag stets ein Leuchten auf ihren Gesichtern. Die Mitte der Welt kann überall sein, zum Beispiel in einem heruntergekommenen Mietshaus in der nordostdeutschen Provinz. Das Foto eines jungen Mannes von etwa zwanzig Jahren hing neben dem Wohnzimmerfenster an einer Wand dieses Hauses. Der Junge wog höchstens siebzig Kilo, doch das war lange her.

 

»Was gibt es denn so Dringendes? Du siehst aus, als ob dich etwas bedrückt. Was ist es? Nur heraus mit der Sprache«, ermunterte mich der mächtige Kerl.

»Ich hab eine Leiche gefunden, Fanny. Er war einer von den Alten, die immer in der Fahrradwerkstatt sitzen, da unten, wo die Inselbahn hält. Letzte Nacht steckte er tot in einem Bauwagen.«

»In was für einem Wagen?«

»In einem der alten Bauwagen, die im Kanal versunken sind. Und ich bin mir sicher, jemand hat ihn umgebracht, aber die Polizei will mir nicht zuhören.«

Fanny rollte zum Plattenspieler, drehte die abgelaufene Scheibe um und legte die Nadel sanft auf die polierte schwarze Oberfläche. Als die Musik einsetzte, rollte er, in majestätische Blässe und besorgtes Schweigen gehüllt, an seinen Platz zurück.

»Ist Kat immer noch in Kanada?«

»Zwei Monate ist sie jetzt weg, aber es kommt mir vor, als wären es zwei Jahre.«

»Du solltest sie unbedingt anrufen.«

»Ich weiß, aber danach geht es mir jedesmal noch dreckiger als vorher.«

»Die Liebe macht dich krank.«

»Der Tod macht mich krank. Dabei hab ich bis heute früh nicht mal den Namen des Mannes gekannt.«

Die zerhackten Akkorde und dissonanten Läufe beim Duell zwischen Keyboard und Trompete waren genau das, was ich jetzt brauchte in meiner Begierde nach Beruhigung und Vergessen. Leider hielt die Wirkung nicht lange genug an.

»Den hat einer umgebracht, Fanny. Irgendwer hat seine Leiche in diesen Wagen hineingestopft. Wie sollte er sonst da reingekommen sein?«

»Du hast eine blühende Phantasie, mein Bester.«

»Als ich zwölf war, wurde mein Onkel von einem Unbekannten überfahren, nachts auf der Straße vor seinem Haus, wahrscheinlich bei einem illegalen Autorennen. Er hatte keine Chance. Bei seiner Beerdigung haben mein Bruder und ich geschworen, dass wir den Täter finden und fertigmachen. Aber höchstwahrscheinlich lebt er immer noch unerkannt irgendwo auf der Welt. Und das war vor langer Zeit, in einer anderen Stadt. Diesmal ist es in Niewetow passiert. Der, der den alten Mann ertränkt hat, lebt dort völlig unbehelligt, Wand an Wand mit seinen ahnungslosen Nachbarn, und ist mir sicher schon irgendwo begegnet. Und wenn ich ihn erwische …«

»Übergibst du ihn der Polizei.«

Fanny beugte sich mit einer wuchtigen Bewegung nach vorn.

»Es wird dir besser gehen, wenn du mal richtig ausschläfst.«

Dann las er in meinem Gesicht.

»Nein«, kommentierte er meine erstarrte Maske, »das wird nichts nützen. Also tu, was du nicht lassen kannst, du rasender Reporter. Ich werd auch diesmal am Fenster sitzen und zusehn, wie die Männer in den Kampf ziehn, um sich gegenseitig zu massakriern.«

Er legte eine neue Platte auf, ließ die Nadel sanft in die Rille sinken.

»Ich mag Niewetow nicht. Zu wenig Zivilisten. Und dann diese verfluchten Kriegsschiffe, die im alten Hafen auf neue Besitzer warten.«

»Niewetow kriegt mich nicht, Fanny. Und auch dieses grässliche Wesen, das sich dort herumtreibt, wird mich nicht kriegen.«

Der Kerl, der vor fremden Wohnungstüren lauert, dachte ich.

Fanny thronte vor mir wie ein gigantischer Gletscher. Er studierte mein Gesicht und sah dann zur Tür, als wäre draußen ein Schatten vorübergehuscht. Ganz kurz schien er in sich zusammenzusinken, und ein Anflug von Panik lag in seinem Blick.

»Tu, was du willst.«

Seine Stimme kam plötzlich von tief unten, tönte aus den bebenden fünfhundert Pfund Fleisch herauf.

»Aber bring es bitte nicht hierher.«

»Den Tod kann man nicht einfach irgendwohin mitbringen, Fanny.«

»Sicher kann man das. Streif dir den Schmutz von den Füßen, bevor du hier eintrittst. Hast du Geld für neue Garderobe? Notfalls geb ich dir welches. Bring deine Schuhe auf Hochglanz! Putz dir regelmäßig die Zähne! Dreh dich nicht um, auch Blicke können töten. Wenn du jemanden anschaust, und der bemerkt, dass du auf deinen Mörder wartest, wird er dir folgen. Komm zu mir, Junge, aber sieh immer nur nach vorn!«

Als ich unten ankam, war es Nachmittag. Ich stand schwankend im Sonnenlicht auf dem nassen Pflaster vor dem Haus, spürte die Wirkung des Whiskys und schaute hinauf zum ersten Stock. Ich fühlte mich bereit für Niewetow bei jedem Wetter.

»Edgar Krummnow, ich komme!«, sagte ich laut vor mich hin.

Doch dann trieb ich mich nur vor der Wache herum und kam mir vor wie ein feiges Großmaul. Mir war nicht klar, wie ich diesen Polizisten da drinnen einzuschätzen hatte, also kämpfte ich draußen auf dem Gehweg mit meiner Unentschlossenheit, bis ich jemanden, der wie Krummnow aussah, hinter den Gardinen im ersten Stock zu bemerken meinte.

Ich lief davon.

Mitten in der Nacht erwachte ich von einem Plätschern im Flur.

Ich sprang zur Tür und riss sie weit auf. Tatsächlich war am Boden eine riesige Pfütze, und Fußspuren von jemandem, der barfuß hierhergekommen war, sowie eine zweite Spur, die wieder hinausführte.

Ich stellte mir vor, wie jemand hier gestanden hatte, völlig durchnässt hatte er sich gefragt, ob ich wach war, wollte schon klopfen, ging dann aber wieder hinaus zum Kanal.

Ich folgte ihm. Ich rannte, als könnte ich den Durchnässten einholen, bis ich am Kanal stand.

Ich blickte hinab auf das ölige Wasser. Ich meinte zu erkennen, wo jemand herausgeklettert war, um durch mitternächtliche Straßen bis zu meinem Quartier zu laufen und dann mit größeren Schritten zurückzurennen und wieder hineinzuspringen. Aber wer wollte in so dreckigem Wasser schwimmen! Jemand, dem Krankheiten und Schmutz völlig gleichgültig waren. Oder jemand, der nächtliche Überfahrten im Dunkeln liebte, aus Langeweile oder aus Lust am Grauen.

Ich ging langsam am Ufer entlang, starrte angestrengt hinab, als ob gleich irgendetwas die schwarze Fläche durchbrechen würde.

Das Wasser brandete durch eine offene, verrostete Schleuse hindurch abwechselnd vor und zurück. Eine Herde Seehunde trieb vorüber, aber dann war es nur Tang, unterwegs ins Nirgendwo.

»Bist du noch da?«, flüsterte ich. »Warum bist du zu mir gekommen? Was willst du von mir?«

In einer Betonhöhlung unter der wackligen Brücke, drüben auf der anderen Seite, tauchte ein verschmiertes Haarbüschel auf und dann eine ölbedeckte Stirn; Augen starrten zu mir hinüber. Es konnte ein Otter sein oder ein Hund oder ein verirrter Tümmler, der in den Kanal geraten war; eine ganze Zeit lang ragte der Kopf zur Hälfte aus dem Wasser.

Ich erinnerte mich, was ich über Krokodile im Kongo gelesen hatte, die in Uferausbuchtungen unter der Wasseroberfläche auf ihre Beute lauern, auf irgendjemanden, der so leichtsinnig ist, dort vorüberzuschwimmen.

Ich sah hinüber auf den dunklen Kopf im Wasser. Er sah zu mir herauf, seine Augen funkelten.

Ich machte einen raschen Schritt in seine Richtung, so wie man auf etwas Ekelerregendes zuspringt, damit es verschwindet. Der dunkle Kopf ging unter, die Wasseroberfläche kräuselte sich. Er kam nicht mehr zum Vorschein.

Mich schauderte, als ich zurücklief, die Spur des dunklen Regens entlang bis zu meiner Tür, der er einen Besuch abgestattet hatte. Die Wasserlache war immer noch da, mitten in ihr lag ein Klumpen Seetang. Jetzt erst fiel mir auf, dass ich den ganzen Weg in Unterhosen zurückgelegt hatte. Ich schnappte nach Luft, blickte verlegen um mich. Dann sprang ich ins Zimmer und verriegelte die Tür.

Morgen, dachte ich, werde ich Edgar Krummnow meine Fäuste zeigen, in der rechten das Flickzeug, in der linken den Klumpen Seetang. Aber nicht auf dem Revier würde ich das tun, der Geruch von Amtsstuben ließ mir, ebenso wie der von Krankenhausfluren, jedes Mal die Knie weich werden. Krummnow musste schließlich irgendwo wohnen.

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