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Märgi loetuks
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02. Dezember, 22 Tage überfällig

Seit zwei Tagen schluckte Katarina nun regelmäßig diese widerliche Plörre. Das Gesöff sollte ja eigentlich die Wunderwaffe sein. Für Katarina traf das sogar zu. Sie wunderte sich nämlich tatsächlich, und das schon seit dem ersten Glas. Denn sie wartete noch immer darauf, dass der Schuss dieser tollen Waffe endlich seine Wirkung zeigen würde.

Laut Hanni sollte diese definitiv schon nach zwei bis sechs Stunden eintreten. Doch selbst nach zwei ganzen Tagen gab es weder von Wehen noch von Katarinas Baby die geringste Spur. Nicht mal durch ein klitzekleines Ziehen machte sich ihr kleiner Schatz bemerkbar. Diese sogenannte Wunderwaffe war und blieb in ihren Augen sehr, sehr wunderlich.

Dennoch schluckte sie davon noch rasch ein Glas, auf ex natürlich, versteht sich, und kaute gleich hinterher eine dicke Scheibe Zitrone als Brechreizkiller. Danach machte sie sich auf den Weg. In ein paar Minuten war sie mit Hanni verabredet.

Im Geburtshaus stand wie üblich die vorsintflutliche Untersuchung mit der Tröte im Vordergrund. Freilich, das konnte genauso gut als moderne Technik gelten. Das wollte Katarina der Hebamme auch gar nicht absprechen. Immerhin hatte sie von derartigen Geräten keine Ahnung. Womöglich war das der neueste Schrei. Grundsätzlich musste diese Methode also noch lange nichts Schlechtes bedeuten. Wie auch immer, alles war exakt so, wie sie es erwartet hatte, nämlich im grünen Bereich.

»Ihr Kind ist wohlauf.«

Katarina zog eine blöde Grimasse. Natürlich unbewusst. Normalerweise verkniff sie sich so etwas und behielt sich derartige Ausbrüche lieber für später vor. Andererseits gehörte sie ohnehin zu der Sorte Mensch, in deren Gesicht man wie in einem offenen Buch lesen konnte.

Aber zu spät, Hanni hatte ihren Gesichtsausdruck bemerkt und untermauerte ihre Aussage sofort.

»Glauben Sie mir«, sagte sie auf Katarinas unausgesprochene Zweifel, »das Baby kommt, wenn es so weit ist. Es bestimmt selbst den Termin. Die Zeit ist eben noch nicht reif.«

Katarina gingen diese Worte mittlerweile gehörig auf den Wecker. Anfangs zerstreuten sie noch ihre Zweifel, doch jetzt konnte sie die Sprüche nicht mehr ertragen. Jedes Mal das Gleiche. Inzwischen hatte sie auch genug von der Schwangerschaft. Von diesen verdammten Kreuzschmerzen ebenso wie von der psychischen Folter, ob mit ihrem Schatz alles in Ordnung war. Dr. Fleischers Aussage hatte bei ihr eine bleibende Unsicherheit hinterlassen, vor allem wenn sie an diese komische Tröte dachte.

»Beim letzten Mal wollte ich nicht sofort in die Vollen gehen«, sprach Hanni weiter und riss Katarina damit aus ihren Gedanken. »Der Cocktail schlägt nicht bei allen gleich an. Das ist von Frau zu Frau verschieden. Ich schlage vor, sobald wenn Sie zu Hause sind, nehmen Sie die doppelte Menge zu sich. Es sollte dann heute Abend, spätestens aber diese Nacht losgehen.«

Katarina hatte sich gerade noch so weit im Griff, ihre Augen nicht zu verdrehen. Sie war genervt. Immer wieder dieselbe Leier. Hatte Hanni nichts Besseres auf Lager?

»Ist gut«, antwortete sie stattdessen.

Was sollte sie auch sonst tun. Sie hatte nur die Wahl zwischen Hanni und dem Krankenhaus. Und Letzteres stand schon mal gar nicht zur Debatte.

Nun gut, vielleicht lag Hanni ja dieses Mal richtig und das alles war völlig normal. Warum sollte auch ausgerechnet sie ein Sonderfall sein. Schließlich war Hanni eine Hebamme mit jahrelanger Erfahrung. Aber warum machte dann Dr. Fleischer derart Panik? Es war zum Verzweifeln. Was sollte Katarina bloß tun. Sie vertraute Hanni, andererseits hatte sie zuvor auch Dr. Fleischer vertraut. Ihre Unsicherheit wurde nicht weniger, im Gegenteil.

Zu Hause befolgte sie Hannis Rat und mixte sich gleich eine doppelte Portion von dieser Brechreiz erzeugenden Pampe. Indessen hatte sie darin eine gewisse Routine, sowohl beim Mixen als auch beim Hinunterwürgen. Denn das war nun der dritte Tag infolge, dass sie dieses Zeug schluckte, zumal sie davon heute Morgen schon ein Glas getrunken hatte.

Etwas mulmig war ihr durchaus zumute. Mit dieser Portion hatte sie jetzt die dreifache Menge intus und die doppelte war schon viel, wie Hanni beteuerte. Hoffentlich bekam sie davon keine Hammerwehen, umgekehrt betete sie darum, überhaupt welche zu bekommen.


03. Dezember, 23 Tage überfällig

Verdammt. Wieder mal Fehlanzeige. Diese Warterei machte Katarina fertig und bis zum nächsten Termin bei Hanni musste sie noch bis morgen ausharren. Aber wer weiß, ob das was brachte. Sie konnte jetzt schon hören, was Hanni sagen würde. Sie war diese Sprüche so leid. Mal sehen, welchen Ratschlag sie diesmal auf Lager hatte. Vielleicht wusste sie ja selbst nicht, wie es weitergehen sollte. Doch was war in der Zwischenzeit, heute?

Katarina musste etwas tun, andernfalls würde sie noch durchdrehen. Sie fasste deshalb einen Entschluss: Für heute galten ihre eigenen Maßnahmen.

Hannis Vorschlag war gründlich nach hinten losgegangen, mal wieder. Demnach war sogar die doppelte Menge viel zu wenig. Außerdem hatte sie gestern Morgen schon ein Glas getrunken. Da half nur eines, noch mehr davon trinken, egal wie widerlich das Zeug auch war. Also besser gleich die dreifache Menge, und das jeweils früh, am Mittag und am Abend. Wenn schon richtig, dann wollte sie gleich die volle Dröhnung und zusätzlich die Tipps aus dem Internet anwenden.

Sie trank die Cocktails und legte sich in die warme Badewanne zusammen mit ätherischem Öl, Ingwerstücken und Nelken. Anschließend massierte sie lange ihren Bauch und trank reichlich Himbeerblättertee. Sie schöpfte alles aus, was sich an Möglichkeiten bot. Sie knetete ihre Brustwarzen, bis es ihr vor Schmerzen reichte, und hatte zudem noch Geschlechtsverkehr mit Felix. Letzteres ähnelte dann zwar mehr einer Zirkusnummer, diente aber eh nur als Mittel zum Zweck.

Am Ende des Tages war Katarina so richtig stolz auf sich. Sollten die Wehen in dieser Nacht einsetzen, wäre das ganz allein ihr Verdienst.

Doch leider blieb das nur ein Wunschtraum. Denn unglücklicherweise ließ sich ihr Baby davon überhaupt nicht beeindrucken. Katarina war enttäuscht, hatte aber mehr oder weniger schon damit gerechnet.


04. Dezember, 24 Tage überfällig

Ein Morgen wie jeder andere. Katarina war nach wie vor schwanger, ohne irgendein Anzeichen, dass sich dieser Zustand je ändern würde. Auch die Untersuchung bei ihrer Hebamme brachte nichts Neues. Das Ergebnis blieb konstant. Ihr Baby wollte einfach nicht kommen.

Noch bevor Hanni das Thema Maßnahmen zur Wehenförderung Runde drei aufgreifen konnte, berichtete Katarina von ihrer gestrigen Aktion. Hannis Augen wurden immer größer. Sie wollte darauf etwas erwidern, musste aber zugeben, dass es ihr für einen Moment die Sprache verschlagen hatte.

»Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll, außer, das hätten Sie nicht tun sollen. Das hätte gewaltig nach hinten losgehen können. Ich frage mich allerdings, warum hat das nichts gebracht? Normalerweise hätte dieser Wahnsinn, ich kann nichts anderes dazu sagen, also er hätte hundertprozentig Wehen bei Ihnen auslösen müssen.«

Hatte er aber nicht und das brachte Hanni an das Ende ihrer Weisheit. So sah es jedenfalls im Augenblick aus. Plötzlich war sie selbst ratlos. Darüber vergaß sie sogar ihren Standardspruch: Das Baby wird kommen, sobald die Zeit reif ist. Nun, die Zeit war längst überreif. Und zum allerersten Mal in ihrer Schwangerschaft kam Katarina der Gedanke: Ich habe einen verdammten Fehler gemacht.

»Es gibt noch ein letztes Mittel, das wir versuchen sollten.«

O bitte, wie hatte Katarina nur glauben können, Hanni hätte all ihre Wundermittel bereits voll ausgeschöpft. Hoffentlich sollte sie nicht noch mehr von dieser ekligen Plörre trinken. Hanni musste doch inzwischen bemerkt haben, dass das nichts brachte.

»Und sollte das erneut zu nichts führen, werden Sie wohl oder übel in eine Klinik gehen müssen.«

Wie jetzt, Klinik. Erst Hokuspokus Fidibus, das Baby darf so lange chillen, wie es will, und nun auf einmal Panik? Katarina fühlte sich wie in die Ecke gedrängt, denn wieder einmal wurde sie vor eine Wahl gestellt, bei der sie genau genommen gar keine hatte.

»Gut, was für ein Mittel ist es diesmal?« Sie würde noch immer alles tun, nur um das Krankenhaus zu umgehen.

»Haben Sie denn schon mal was von Akupunktur gehört?«

»Ja, sicher. Hab es vor Jahren mal probiert.«

»Sehr gut. Dann wissen Sie sicher, wie effektiv diese Methode ist. Sie treibt die Wehen voran, lindert die Schmerzen und erleichtert die Geburt.«

»Hm«, sagte Katarina gedehnt, »wenn das meine letzte Chance ist, dann sollte ich sie nicht ungenutzt lassen. Also los, ich bin bereit.«

Hanni bückte sich und verschwand hinter ihrem Schreibtisch. Sie kramte in einer Schublade.

»Das würde ich gern. Nur in unserem Haus führen wir keine Akupunktur durch.«

Inzwischen hatte Hanni gefunden, wonach sie eben suchte. Eine Visitenkarte. Diese drückte sie Katarina in die Hand.

»Hier, die Adresse von unserem Partnerhaus. Die machen das. Leider am anderen Ende der Stadt. Ich rufe gleich an, dass Sie morgen kommen.«

Prima, wieder was Neues. Katarina nahm die Karte an sich und fuhr nach Hause.

 

Im Augenblick wollte sie nur eines, sich verkriechen und ihren Frust loswerden. Schuld daran hatte der heutige Tag. Und außerdem Hanni. Und überhaupt ihre elend verfluchte Situation. Katarina war dieses ganze Affentheater so leid.

Zu Hause knallte sie die Tür hinter sich ins Schloss und rannte (watschelte) ins Wohnzimmer. Dort warf sie sich auf ihr geliebtes Sofa, soweit das mit ihrem Bauch noch möglich war, und zog sich die Decke über den Kopf.

Im Moment war sie nicht nur gestresst, sondern stand enorm unter Druck. Sie fühlte sich hin- und hergeschoben. Wusste denn Hanni tatsächlich noch, was zu tun war, oder waren das alles nur hilflose Versuche, um zu retten, was möglich war. Diese Ungewissheit lastete auf ihren Schultern wie ein schwerer Stein und mit ihrem Bauch hatte sie ohnehin schon genug zu schleppen. Sie musste diesen zusätzlichen Ballast abwerfen, jetzt.

Und schon ging es los. Katarina heulte Rotz und Wasser, und das tat verdammt gut und erleichterte. Unter ihrer Decke und bei dem Geschniefe hörte sie nicht mal, dass Felix nach Hause kam. Er stürzte sofort zu ihr ins Wohnzimmer, glaubte sonst was, das passiert war.

»Katarina«, fragte er leise, was sie jedoch bei dem lauten Gejammer nicht hörte, sondern bemerkte ihn erst, als er ihr auf die Schulter tippte. Sie zuckte zusammen und kreischte auf, dann zog sie die Decke vom Gesicht.

»Was ist denn passiert?«

»Gar nichts ist passiert«, sagte sie abgehackt und schluchzte dabei immer wieder auf, »doch das ist es ja gerade. Unser Baby will einfach nicht kommen.«

»Vielleicht sollten wir den Namen noch mal überdenken und es Terrorfratz oder Satansbraten taufen.«

Felix hatte schon bei Weitem bessere Scherze auf Lager. Der war nicht wirklich gut, aber zumindest konnte er Katarina damit ein Lächeln abgewinnen.

»Hanni hatte heute die großartige Idee, eine neue Wunderwaffe auszuprobieren.«

»Ach, echt jetzt?«, fragte Felix zynisch.

Er war von Anfang an nicht richtig überzeugt von dem Geburtshaus. Doch mit Katarina war darüber nicht zu diskutieren. Sie war stur wie ein Ochse.

»Ich soll morgen zur Akupunktur. Dazu muss ich auch noch bis ans andere Ende der Stadt. Und wenn das wieder nichts bringt, schickt sie mich ins Krankenhaus. Ich glaube, sie weiß nicht weiter.«

»Ich denke, das Krankenhaus wäre von Anfang an die bessere Option gewesen.«

»Oh, danke.« Katarina warf Felix einen drohenden Blick zu. »Vorwürfe kann ich derzeit ganz bestimmt gut gebrauchen.«

»Zugegeben, das war blöd von mir, recht habe ich trotzdem. Aber lass uns das mit der Akupunktur noch durchziehen.«

»Ja, falls ich dieses andere Geburtshaus je finden sollte.«

Katarina hatte einen Orientierungssinn wie ein rotierender Hamster im Laufrad. Und so durcheinander wie sie momentan war, würde sie wahrscheinlich auch nie dort ankommen.

»Morgen kann ich von der Arbeit nicht weg. Wenn du den Termin auf übermorgen verlegst, komme ich mit, wenn es dich beruhigt.«

»Und ob.«


06. Dezember, 26 Tage überfällig

Katarina musste sich nicht erst betteln lassen. Gleich nachdem Felix zu ihr gesagt hatte, er wolle mitkommen, hatte sie angerufen und einen neuen Termin für die Akupunktur festgemacht. Und dieser war heute um zwei Uhr nachmittags.

Das Geburtshaus zu finden, war gar kein Problem, zumindest für Felix. Aber genau deshalb und natürlich um Katarina zu unterstützen, war er schließlich mitgekommen. Sie waren pünktlich und nicht eine Minute zu früh.

»Ah, Frau Hanselmann-Breuer, Sie kommen gerade richtig,« sagte die Frau (Hebamme?) am Tresen, »der Doktor muss zu einem Außer-Haus-Termin, will Sie vorher aber noch drannehmen.«

»Der Doktor?«, fragte Katarina ungläubig. Sie waren doch hier in dem Partner-Geburtshaus, oder etwa nicht?

»Ja, den gibt es bei uns.« Die Frau lächelte.

Wenn es einen Doktor gibt, ist sie vielleicht die Schwester.

»Kommen Sie, er schaut Sie kurz an und anschließend legen wir mit der Akupunktur los.«

Dr. Sorge war ganz in Ordnung. Er stellte ein paar Fragen und warf einen Blick in Katarinas Mutterpass. Danach waren Ultraschall und CTG an der Reihe. Von da an fühlte sich Katarina endlich wieder in guten Händen. Bei ihm war es zwar nicht so gemütlich, dafür gab es aber auch keine Tröte oder Glaskugel, sondern echte, elektronische Geräte.

»Im Moment ist alles in Ordnung«, sagte er unmittelbar nach der Untersuchung. »Allerdings könnte es morgen schon anders aussehen. Höchste Zeit, dass Ihr Baby kommt.«

Katarina bekam einen Schreck. Das waren genau die Worte von Dr. Fleischer.

»Was meinen Sie damit, es könnte morgen schon anders aussehen?«

»Sie sind in der vierundvierzigsten Woche. Das ist extrem ungewöhnlich. Normalerweise wird spätestens nach der zweiundvierzigsten Woche die Geburt eingeleitet. Was sagt denn Ihr Arzt dazu?«

O verdammt. Muss er ausgerechnet nach meinem Arzt fragen? Sie fühlte sich auf frischer Tat ertappt und druckste herum.

»Dr. Fleischer wollte mich nicht weiterbehandeln. Ich bin jetzt aber im Geburtshaus. Hebamme Hanni betreut mich.«

»Verstehe ich nicht. Warum das denn? «, fragte Dr. Sorge entsetzt. »Warum wollte Sie der Doktor nicht mehr behandeln?«

Na super, auch das noch. Muss er jetzt unbedingt nachbohren? Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Karten auf den Tisch zu legen.

»Er wollte, dass ich in eine Klinik gehe.«

»Und damit lag er völlig richtig.«

Das war ja zu erwarten und verstehen konnte er ihre Situation nicht im Mindesten. Wie auch, er war ein Mann und garantiert noch nie schwanger. Er musste sich nicht den Kopf zerbrechen wegen irgendwelcher Ängste während der Geburt. Er würde auch nicht auf der Pritsche liegen, umzingelt von weißen Kitteln. An seiner Stelle konnte sie auch gut reden haben.

»Ich bin schon seit einer ganzen Weile im Geburtshaus angemeldet und will dort entbinden. Meine Hebamme sagt, es wäre alles in Ordnung und Dr. Fleischer hätte den Termin falsch errechnet.«

»Das kann alles gut sein, doch Fakt ist, jeder Tag nach der zweiundvierzigsten Woche birgt ein Risiko. Ich nehme an, Dr. Fleischer hat Ihnen was Ähnliches erzählt.«

»Ja, so ziemlich das Gleiche. Klingt, als hätten Sie sich abgesprochen.«

Über seine Lippen huschte kurz der Anflug eines Lächelns. Wenn auch nur flüchtig, aber es beruhigte Katarina ungemein. Sie hatte Vertrauen zu ihm, obwohl er die gleichen, beunruhigenden Worte sagte wie Dr. Fleischer. Aber vielleicht lag es auch gerade daran. Außerdem benutzte er moderne Geräte und hantierte nicht mit mittelalterlichen Tröten herum.

»Ich will nichts gegen das Geburtshaus sagen, in dem Sie angemeldet sind. Ich kenne die Hebammen. Sie sind sehr gut und leisten hervorragende Arbeit. Nur wenn bei der Geburt irgendetwas schiefgehen sollte, ist dort auf die Schnelle kein Arzt verfügbar. Und fast immer geht es dabei um Sekunden. In Ihrem Fall halte ich einen Arzt für dringend erforderlich.«

Wieder einmal war Katarina ratlos und unsicher. Dr. Fleischer hatte sie wegen des zu hohen Risikos abgelehnt. Hanni dagegen sagte, alles wäre in Ordnung. Sie war eine erfahrene Hebamme. Andererseits erschütterte die Tröte Katarinas Vertrauen in Hanni und die erfolglose Wunderwaffe tat ihr Übriges. Und jetzt Dr. Sorge. Seine Aussage deckte sich mit der von Dr. Fleischer. Und die war nicht einfach nur banal, sondern beängstigend.

»Nun bleiben Sie mal ganz entspannt«, sagte der Doktor.

War es schon wieder so offensichtlich? Doch wie sollte es auch anders sein. Katarina war wie ein offenes Buch. Wahrscheinlich stand ihr die Unruhe deutlich ins Gesicht geschrieben, wie üblich. Ein Umstand, den sie leider nicht verbergen konnte.

»Sie machen jetzt die Akupunktur und dann sehen wir weiter.«

Felix und Katarina verabschiedeten sich und gingen zurück zum Tresen. Dort warteten sie auf die Frau. Schwester? Hebamme?

»Ich denke, du weißt, dass der Doktor recht hat«, sagte Felix. »Wenn die Akupunktur nichts bringt, gehen wir ins Krankenhaus. Einverstanden?«

»Im Moment weiß ich gar nicht mehr, was ich tun soll. Der eine sagt dies, der andere das. Diese ständigen Vorträge auf der einen Seite, wie normalerweise vorgegangen wird, und alles ist bestens auf der anderen. Das habe ich gründlich satt. Aber gut, machen wir das so, wie du sagst.«

»Ach, Sie sind ja schon fertig«, rief die Frau. Sie kam soeben aus einem anderen Zimmer und eilte auf die beiden zu. »Sie warten hoffentlich noch nicht allzu lange.«

»Keine Panik«, antwortete Felix, »wir sind gerade erst beim Doktor raus. Wie kommen wir denn jetzt zur Akupunktur?«

»Ich bringe Sie hin, einfach mir nach.«

Sie brachte die beiden in einen Raum. Und der sah ganz und gar nicht aus wie einer für Behandlungen. Katarina dachte sofort an Gymnastik – Bauch, Beine, Po – sowas in der Art. Vielleicht noch Entspannung, aber Akupunktur? Sie sah nicht eine Liege, dafür jede Menge orangefarbene Matten und Kissen. War sie im falschen Raum gelandet oder sollte sie hier zuvor erst eine Runde turnen?

»Machen Sie es sich bequem. Es geht gleich los«, sagte die Frau. Dann verschwand sie.

Katarina sah Felix unschlüssig an. Sie waren nicht die Einzigen hier. Die meisten Matten waren besetzt. Sie zählte sieben weitere Pärchen im Raum. Drei von den Frauen waren tatsächlich mit Nadeln bespickt. Demnach waren sie hier doch richtig. Die restlichen warteten genau wie sie auf die bevorstehende Folter. Folglich keine Einzelbehandlung. Sie war verwundert.

»Das ist hier wie ein Gemeinschaftsritual bei einer Sekte«, flüsterte Katarina und kicherte leise.

»Ich glaube, wir sind bei den Zeugen der Schwangeren gelandet«, flüsterte Felix zurück. »Na los, setzen wir uns dazu.«

»Setzen ist gut. Wie soll ich bis da runter auf den Boden gelangen, vom wieder Hochkommen ganz zu schweigen.«

Mit Felix’ Hilfe sank Katarina umständlich nach unten auf das Kissen. Sie hasste Nadeln und wusste schon jetzt, ihr stand eine weitere schreckliche Erfahrung bevor.

Die Tür ging auf und herein kam Hebamme Maria. Jung, blond und schlank. Na ja, was soll’s, dachte Katarina, wenn die mal schwanger ist, wird sie auch rund und fett sein.

»Wie ich sehe, haben wir Zuwachs bekommen«, rief Maria. »Das freut mich.«

Sie begrüßte jedes einzelne Paar, das noch nicht einem Nadelkissen glich. Auch Katarina und Felix.

»Die Behandlung dauert ungefähr dreißig Minuten. Bei der einen etwas länger, der anderen etwas weniger. Also machen Sie es sich so bequem wie möglich.«

Katarina konnte Maria vom ersten Augenblick an nicht ausstehen. Ob es an ihrer zwanglosen jugendlichen Art lag oder mit welcher Freude sie die Nadeln in die Frauen hineinjagte, konnte sie nicht genau sagen.

Maria ging von einer zur Nächsten und spickte ihre Nadeln.

Seltsam, dachte Katarina. Wieso macht das denen nichts aus?

Keine verzog dabei ihre Miene. Im Gegenteil, sie schauten auch noch interessiert zu. Sie selbst war bisher nur ein einziges Mal bei einer Akupunktur gewesen und das war Jahre her. ›Nie wieder‹, hatte sie damals gesagt. Für sie war es eine Tortur. Doch wenn sie diese Frauen jetzt so beobachtete, fragte sie sich, ob ihr womöglich die Erinnerung nur einen Streich spielte. Vielleicht war sie damals nur empfindlich.

Maria kam in ihre Richtung. Ohne dass Katarina etwas dagegen tun konnte, beschleunigte sich plötzlich ihre Atmung, und zwar rasant. Das konnte nur an den immens großen Nadeln liegen, die Maria bei sich trug.

»Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte sie besorgt. »Haben Sie Schmerzen?« Sie sah sofort, dass etwas nicht stimmte.

»Nein«, sagte Katarina. »Noch nicht.«

Sie versuchte es wie einen Scherz klingen zu lassen. Aber Maria ging nicht darauf ein. Für sie war diese Sache ernst. Sie nahm Katarinas Arm und fühlte nach ihrem Puls.

»Es ist nichts weiter. Ich bin nur ein bisschen beunruhigt wegen dieser Monsternadeln, die sie mir hineinjagen wollen. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Maria war noch immer besorgt, grinste jedoch. »Sie haben mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Ich kann Ihnen versichern, Sie spüren so gut wie nichts, maximal einen winzigen Pikser.«

 

»Bringen wir’s hinter uns.«

»Ich beginne mit dem kleinen Zeh. Bleiben Sie ganz locker, umso weniger spüren sie davon.«

Locker bleiben, sehr witzig. Sie ist ja nicht diejenige, die gefoltert werden soll.

Maria tastete nach der richtigen Stelle an ihrem kleinen Zeh. In der anderen Hand hielt sie die riesige Nadel, bereit zum Zustoßen. Katarina schloss schnell die Augen. Sie konnte einfach nicht hinsehen. Und dann folgte der Stich. Schmerzhaft und durchdringend bis ins Mark.

Stillhalten. Jetzt bloß nicht bewegen, sonst wird es noch heftiger.

Sie hatte inzwischen laut zischend so viel von der Luft eingesogen, dass ihre Lungen am Platzen waren. Aber der Schmerz nahm noch immer kein Ende. Maria wollte ihren Zeh hoffentlich nicht komplett durchstoßen? Katarina hätte am liebsten laut losgeschrien und Maria geohrfeigt, nur käme das sicherlich nicht so gut an. Stattdessen krallte sie die eine Hand in die Matte, die andere in Felix.

»Ihren Geräuschen nach zu urteilen, hat es etwas gezwickt.«

Etwas gezwickt? Das ist wohl die Untertreibung des Jahrhunderts.

»So muss das sein. Das sagt mir, ich habe die wirksamste Stelle getroffen. War gar nicht schlimm, oder?«

Katarina riss die Augen auf und sah Maria grimmig an. Sie erwiderte nichts, sie konzentrierte sich noch immer darauf, den Schmerz wegzuatmen.

Maria nahm das mit einem amüsierten Lächeln zur Kenntnis.

»Dann mache ich jetzt weiter.«

Katarina stöhnte und schloss wieder die Augen. Verdammte Sadistin. Es half nichts. Fürs Aufstehen und Wegrennen war es inzwischen zu spät, was sie ohnehin nicht allein schaffte. Sie kam sich vor wie auf einer Schlachtbank. Ihre Erinnerung an das erste Mal war also doch real.

Autsch! Wieder ein scharfer Stich. Und gleich hinterher der nächste. Und noch einer. Sie öffnete den Mund, war gereizt und wollte fragen, wie viele davon denn noch kämen. Da schoss eine weitere Nadel in ihr Fleisch, diesmal ins Knie. Und nicht nur das, Maria drehte dieses Ding auch noch genüsslich hin und her.

»So, gleich geschafft. Nur noch die Waden.«

»Ich bin mir sicher, Sie lieben Ihre Arbeit aufrichtig«, keuchte Katarina. »Sie stecken nur im falschen Jahrhundert.«

»Ja, das stimmt.« Maria lachte laut. »Ich setze die Nadeln bewusst langsam, aber nur, um die Wehentätigkeit anzuregen. Schnell würde da nichts bringen.«

Das leuchtete Katarina ein, machte die Sache allerdings auch nicht besser. Nachdem es endlich geschafft war, dem Himmel sei Dank, sollte sie etwa dreißig Minuten, so lächerlich das auch klang, entspannen.

Sie schaute in die Runde. Unfassbar, die anderen Frauen waren tatsächlich völlig relaxt. War sie denn die Einzige, die sich fühlte wie ein Nadelkissen? Sie wagte sich noch nicht einmal zu bewegen. Stocksteif und wie gelähmt saß sie auf ihrem Kissen, Hauptsache nirgends anstoßen. Zudem hatte sie das Privileg erhalten, juhu, was für ein Glück, mehr als die anderen Frauen gepiesackt zu werden. Denn die waren nur zur Geburtsvorbereitung und nicht wegen der Wehen hier. Deshalb steckten in Katarina nicht nur Nadeln in Fuß, Knie und Wade, sondern auch in Hand und Ohr. Na, wie toll. Dafür hatte ihr Maria aber versprochen, noch irgendwann heute in den Wehen zu liegen.

Die Minuten zogen sich zäh in die Länge, jede einzelne wie eine gefühlte Stunde. Zu allem Übel kam Maria alle paar Augenblicke zu Katarina und zupfte und drehte an den Nadeln.

»Das verstärkt die Wirkung und bringt den Energiefluss so richtig auf Trab.«

»Oh«, sagte Katarina schnell, »von der Wirkung spüre ich schon seit dem ersten Einstich mehr als genug. Das können Sie sich somit sparen.«

Ein kläglicher Versuch und dazu erfolglos. Maria zupfte und drehte fleißig weiter.

Endlich hatte Katarina genug gelitten. Die dreißig Minuten waren vorüber. Maria kam zu ihr und legte noch einmal Hand an. Doch dieses Mal nur, um die Nadeln zu entfernen. Das war zum Glück halb so schlimm. Ein Ruck und raus.

»Nie wieder«, sagte Katarina. »Das war definitiv das letzte Mal.«

Felix fuhr mit ihr nach Hause. Dort legte sich Katarina mit einer Tasse Himbeerblättertee in der Hand auf die Couch und wartete. Sie war bereit. Ebenso Felix. Sie beide wollten nur noch eines, ihren kleinen Schatz gesund und munter in die Arme schließen, und zwar noch heute. Auch Hanni stand in den Startlöchern und erwartete jederzeit ihren Anruf.

Hinsetzen, fernsehen, aufstehen, hin- und herlaufen, hinsetzen, fernsehen. So verlief der komplette Abend. Kein Ziehen, keine Wehen, nichts. Schließlich gingen sie schlafen. Länger warten ergab keinen Sinn.