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Märgi loetuks
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Wider Erwarten Liebe

Katarina wurde vom Klopfen an ihrer Zimmertür geweckt. Sie wunderte sich ein bisschen, denn es war ziemlich duster im Zimmer. Eben schien noch die Sonne von draußen herein und jetzt dämmerte es bereits. Mein Gott, wie konnte das möglich sein? Sie war doch nur ganz kurz eingenickt. Wie spät war es inzwischen? Sie sah auf die Uhr, die an der Wand hing. Der kleine Zeiger stand auf der Fünf. Wie jetzt, war heute noch heute oder schon morgen? Im Winter wurde es immer sehr zeitig dunkel, demnach war jetzt vielleicht später Nachmittag. Genauso gut konnte es aber auch früh am Morgen sein. Ganz toll.

»Ja, bitte«, rief sie und knipste die Lampe auf dem Nachttisch an.

Ein Mann kam herein, runder Kopf, Halbglatze, Ende vierzig, weißer Kittel – vermutlich ein Arzt oder Pfleger. Er ging auf Katarina zu.

»Ich bin Dr. Teddy, der Kinderarzt.«

Teddy? Der verarscht mich doch.

Ihr skeptischer Blick entging ihm nicht.

»Eigentlich Theodor«, erklärte er kurz, »aber jeder in diesem Haus nennt mich nur Teddy. Darf ich mich einen Moment setzen?«

»Ja, natürlich«, sagte Katarina vorsichtig.

Sie war auf der Hut. Dr. Teddy war sicherlich nicht hier, um ihr zu gratulieren oder gar um Small Talk zu führen. Nein, sie wusste ganz genau, warum er zu ihr gekommen war. Wegen der vier Wochen Übertragung. Wozu sonst. Natürlich hätte sie von Anfang an auf Dr. Fleischer hören sollen, aber im Nachhinein war man immer schlauer.

Dr. Teddy zog einen Stuhl heran und setzte sich zu Katarina ans Bett.

»Ich will gar nicht lange stören, deshalb fange mal an, ohne groß um den heißen Brei drum herumzureden. Also, mein Mädchen, ich habe mir Ihren Mutterpass angesehen. Der Geburtstermin, den Dr. Fleischer errechnet hat, war der zehnte November.«

Wusste ich’s doch, jetzt kommt’s.

»Der Termin lässt sich oftmals nicht exakt bestimmen. Allerdings ist eine Abweichung von ganzen vier Wochen absolut unwahrscheinlich. Ihr Gynäkologe lag mit seiner Berechnung völlig richtig. Das hat sich bei der Entbindung bestätigt.«

Dr. Teddys Tonlage enthielt nicht die Spur eines Vorwurfs. Trotz anfänglicher Bedenken fand sie ihn sogar sympathisch. Bis jetzt.

»Im Normalfall ist das Fruchtwasser sehr klar bei einer Entbindung. Hat es eine grünliche Farbe, dann zeigt uns das eine Übertragung. In Ihrem Fall war es dicker grüner Modder.«

»Ach du Scheiße«, rutschte Katarina heraus. Mit einem Mal fühlte sie sich schuldig. Und dazu brauchte es nicht einmal den Vorwurf des Doktors.

»Nicht aufregen. Sie trifft dabei keine Schuld«, setzte er fort. »Ganz im Gegensatz zu der Hebamme, die Ihnen zur Seite stand. Sie haben ihr vertraut, und das ist auch richtig so. Ihre Hebamme hätte es besser wissen müssen. Was sie getan hat, war unverantwortlich und ist nicht entschuldbar, ein fataler Fehler. Sie hat ihre Fachkompetenz maßlos überschritten und das Leben Ihres Kindes aufs Spiel gesetzt. Ob aus Unwissenheit, spielt dabei keine Rolle. Sie können Ihre Hebamme wegen Fahrlässigkeit anzeigen, wissen Sie das?«

Katarina war irritiert. »Sie hat das Leben meines Kindes aufs Spiel gesetzt?«

Dr. Teddy klärte sie in ein paar knappen Sätzen auf, was sich im OP abgespielt hatte.

»Sie und wir alle haben riesiges Glück, dass der Kleine noch lebt. Und was Schwester Else angeht, sie wird nicht ohne Konsequenzen davonkommen.«

Katarina war schockiert. Ihr fehlten die Worte und sie starrte Dr. Teddy nur an. Um ein Haar wäre ihr kleiner Schatz tot gewesen. Ihr Magen krampfte sich zusammen und ihr wurde ganz schwindelig.

Toll, Katarina. Ihre innere Stimme schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Sie war wütend. Jetzt schieb bloß nicht Hanni den schwarzen Peter zu. Du warst diejenige mit der lächerlichen Angst vor dem Krankenhaus. Du wolltest nicht auf Dr. Fleischer hören. Da kam dir Hanni mit ihrem Voodoo und den Tröten gerade recht. Wie konntest du nur so dumm sein.

»Ich wollte Sie das nur wissen lassen, falls Sie gegen Ihre Hebamme etwas unternehmen wollen. Und machen Sie sich keine Vorwürfe, okay? Ihr Baby lebt. Für die nächsten Tage liegt es erst einmal zur Überwachung im Inkubator. Wir müssen abwarten, wie es sich entwickelt. Aber bis jetzt macht sich Ihr Kleines sehr gut, es braucht nur viel Ruhe.«

Dr. Teddy verabschiedete sich und Katarina war wieder allein. Jedoch nicht lange. Etwa eine halbe Stunde später kam Schwester Anne mit einem Berg Wäsche in ihr Zimmer. Sie hatte jede Menge Stoffwindeln und eine Decke auf dem Arm und steuerte damit direkt auf Katarina zu.

Was hatte Schwester Anne vor? War sie denn völlig blind? Sie musste doch sehen, dass jemand in dem Bett lag. O Gott, sie wollte den Haufen Wäsche hoffentlich nicht auf ihr ablegen, oder doch?

Jetzt grinste Anne. Sie hatte Katarina also gesehen, was für ein Glück. Blieb die Frage, warum wollte ihr die Schwester Windeln andrehen? Katarina hatte ihr Baby ja nicht einmal bei sich. Und überhaupt, seit der Pampers-Revolution benutzte doch kein Mensch mehr Stoffwindeln. Kein Wunder, dass dieser Saftladen von Dinosauriern beherrscht wurde wie Schwester Else.

Was hatte Schwester Anne bloß geritten, sie legte den Windelberg tatsächlich direkt in Katarinas Arme.

»Nur für ein paar Minuten«, flüsterte sie und ging anschließend hinaus.

Katarina starrte ihr entsetzt hinterher. Wie jetzt, nur ein paar Minuten. War diese Klinik schon derart runtergekommen, dass sie als Wäscheständer herhalten sollte? Vielleicht noch Windeln falten und damit die Krankenhauskosten abarbeiten? Meine Güte, in was für einem Irrenhaus war sie hier eigentlich gelandet.

Sie schaute auf den Windelhaufen und überlegte, was sie damit tun sollte. Plötzlich stockte ihr der Atem. Zwischen den Windeln blickten sie zwei riesige tiefschwarze Kulleraugen an. Was für ein zartes, kleines Gesichtchen. Katarina war überwältigt. Sie hatte nicht mal den Hauch einer Chance. Von einem Augenblick zum nächsten verliebte sie sich in diesen wundervollen Winzling. Das war ihr Baby, ihr kleiner Schatz. Das hübscheste Baby, das sie je gesehen hatte. Und den kleinen Schmollmund hatte es eindeutig von ihr. Mein Gott, war es winzig.

Sie holte hastig tief Luft. Beim Anblick ihres Babys hatte sie völlig vergessen weiterzuatmen. Schade, dass Schwester Anne ihren Schatz gleich wieder wegbringen würde. Sie streichelte über seine Wange und hauchte ein Küsschen auf seine Stirn.

»Alles wird gut, das verspreche ich dir.«

Das war ihr kleiner Junge. Was für ein Unsinn, sich auf ein Mädchen zu versteifen. Er war so perfekt, sie würde ihn nie wieder hergeben. Und mit einem Mal war es da, das Gefühl, eine richtige Mama zu sein.

Am Abend kam Schwester Anne erneut zu Katarina ins Zimmer.

»Wie fühlen Sie sich?«

»Als wäre ich der Schlachtbank gerade entkommen. Ich befürchte, mein Bauch ist aufgerissen. Kann das passieren, es fühlt sich so an.«

»Normalerweise nicht, aber zeigen Sie mal.«

Katarina schlug die Bettdecke beiseite.

»Nein, nein«, sagte sie sofort. »Kein Sorge, alles gut vernäht. Sonst würden Sie bluten, aber da ist nichts. Die Schmerzen lassen bald nach.«

»Von wie lange sprechen Sie?«

»Schwer zu sagen.« Schwester Anne hob die Schultern. »Das ist von Frau zu Frau verschieden. Manche haben bereits wenige Stunden nach der Operation kaum noch Probleme, andere hingegen fühlen sich erst nach zwei Wochen einigermaßen gut.«

»Das sind ja glänzende Aussichten«, sagte Katarina. »Da gehöre ich garantiert zu den anderen. Meine Schmerzgrenze liegt nämlich noch unter dem untersten Level.«

Schwester Anne sah sie mitfühlend an. »Es wird mit jedem Tag ein klein wenig besser. Vielleicht tröstet Sie das etwas.«

Toll. Katarina versuchte zu lächeln, doch ihr Versuch war eher Gesichtsakrobatik und endete mit einer kläglichen Grimasse.

Schwester Anne hob die Bettdecke an. »Wackeln Sie mal mit den Zehen.«

»Das bekomme ich hin.« Dafür brauchte sie zum Glück keine Bauchmuskeln.

»Klappt doch prima«, sagte Schwester Anne. Dann wurde sie ernst. »Und jetzt habe ich eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Hat aber nichts mit Ihrem Baby zu tun, also keinen Schreck bekommen. Welche wollen Sie zuerst hören?«

»Auch das noch.« Katarina war genervt. »Für heute hatte ich eigentlich genug Aufregung, aber auf etwas mehr oder weniger kommt’s wohl nicht an. Dann schießen Sie mal los, ich nehme die Schlechte zuerst.«

»Fein.«

Sie klatschte in die Hände und strich ihren Kittel glatt. Wurde das jetzt sowas wie eine feierliche Ansprache?

»Kurz und gut, je länger Sie nach der Operation im Bett liegen, umso schmerzhafter wird es beim ersten Aufstehen. Und nun die gute Nachricht, je eher Sie aufstehen, desto schneller verschwinden die Schmerzen. Das beste Rezept jeglicher Beschwerden des Körpers ist Bewegung. Das war schon immer so und daran wird sich auch nichts ändern.«

Sie reckte beide Daumen in die Höhe, als wäre es absolut brillant, was sie da gerade von sich gegeben hatte. Katarina fand beides scheiße, aber eine dritte Variante hatte Anne wohl nicht in petto.

»Sie machen mir Angst«, sagte sie daraufhin und zog die Bettdecke bis unters Kinn. »Was genau wollen Sie mir damit sagen?«

»Wir beide machen jetzt einen kleinen Spaziergang durch das Zimmer.«

»Wenn ich nicht diese irrsinnigen Schmerzen hätte, würde ich jetzt laut loslachen. Meine Ohren spielen mir offenbar einen Streich. Ich habe verstanden, dass Sie mit mir durch das Zimmer laufen wollen. Ist das nicht ulkig?«

»Ja, wenn ich etwas anderes gesagt hätte. Habe ich aber nicht. Also los, machen Sie mit. Ich helfe Ihnen.«

 

»Scheiße, Sie meinen das wirklich ernst. Ich habe schon Probleme meinen Kopf zu heben, wie soll ich da aufstehen? Vielleicht sollten wir besser morgen …«

»Nein. Und glauben Sie mir, es geht. Kommen Sie, Sie schaffen das.«

Die nette, zurückhaltende Schwester Anne hatte sich urplötzlich in einen Oberfeldwebel verwandelt. Sie duldete kein Wenn und Aber, auch kein Vielleicht. Im Augenblick tanzte alles nach ihrer Pfeife.

Sie brachte das Kopfteil von Katarinas Bett in aufrechte Position und schlug Decke zurück.

»Sehen Sie, und schon sitzen Sie. Jetzt nur noch die Beine über die Bettkante schwingen und Sie stehen auf den Füßen.«

»Meine Wünsche, zählen die denn gar nicht«, jammerte Katarina.

»Doch natürlich. In fünf Minuten wieder.«

»Bis eben waren Sie mir eigentlich ganz sympathisch.«

»Ich mach’s wieder gut. Und jetzt los.«

Sie gab Katarina Instruktionen, wie sie aufstehen sollte, und wollte ihr dabei helfen. Sie würde unter ihre Knie greifen, gleichzeitig den Oberkörper stützen und sie dann aus dem Bett drehen. Das Ganze klang sehr nach einer kompliziert einstudierten Zirkusnummer, bei der sich Katarina eigentlich viel lieber zurücklehnen und zuschauen würde. Nur dumm, dass sie selbst die Hauptattraktion bei diesem Spektakel war.

»Halt!« Das ging eindeutig zu schnell. »Ich muss mich erst mal sammeln und dann stütze ich mich selbst hoch.«

»Gut. Machen Sie, wie es für Sie besser ist. Sagen Sie nur, wenn Sie meine Hilfe brauchen.«

Katarina umfasste die Bettkante und drehte sich ächzend auf die Seite. Und nun? Sie musste sich irgendwie aufrichten – aber wie?

»Es geht nicht«

»Doch, das geht. Ich hebe jetzt Ihre Beine vom Bett und ziehe Ihren Oberkörper gleichzeitig nach oben. In Ordnung? Ich mache ganz vorsichtig.«

Katarina keuchte wie nach einem Marathon. Das war hier die reinste Folter und sie hatte panische Angst vor dem nächsten Schmerz.

»Okay«, sagte sie eine Minute später.

Sie presste die Hand fest auf ihren Bauch und Anne zog. Die Schmerzen waren die Hölle und zerrissen sie beinah. Sie wollte Anne anbrüllen, sie solle langsamer machen, doch ehe sie dazu kam, saß sie schon auf der Bettkante. Das Schlimmste war geschafft. Jetzt hockte Katarina nur da und wagte nicht, sich zu bewegen. Die Schwester stand neben ihr und wartete.

»Wenn Sie so weit sind, dann legen Sie den Arm um mich und ich helfe Ihnen hoch.«

Na klasse. Und wieder fühlte sich Katarina unter Druck gesetzt. Zentimeter um Zentimeter rutschte sie bis an den vordersten Rand. Ihr Bauch brannte wie Feuer und sie war keineswegs bereit. Trotz allem legte sie ihrem Arm um Schwester Anne und hievte sich auf die Füße.

Mit gebeugtem Oberkörper, eine Hand hatte sie fest auf ihren Bauch gepresst, schlurfte sie nun Schritt für Schritt durch den Raum. Dabei stützte sie sich die ganze Zeit schwer auf Schwester Anne. Als Revanche für ihre Folter geschah ihr das nur recht. Sie durfte ruhig auch ein bisschen leiden.

Katarina brauchte ganze fünf Minuten für die drei Meter bis zum Bad und wieder zurück zu ihrem Bett. Danach war sie völlig fertig. So ähnlich mussten sich Hundertjährige fühlen.

Am nächsten Tag ging es ihr einen winzigen Hauch besser, mehr aber auch nicht. Sie lag in ihrem Bett und war nicht fähig, sich selbständig zu bewegen. Dazu kamen jetzt Rückenschmerzen. Auch das noch.

Felix war seit dem Vormittag da und versuchte Katarina zu helfen, wo es nur ging, doch er konnte ihr nichts recht machen. Er stellte das Kopfteil ihres Bettes hoch und kurz darauf wieder runter. Er legte ihr ein zweites Kissen unter den Kopf, dann nahm er es wieder weg. Schon gar nicht durfte er sie zum Lachen bringen. Das löste höllische Schmerzen aus.

Gegen Mittag kam Schwester Anne und entfernte den Blasenkatheter. Das war weniger schlimm, als Katarina befürchtet hatte. Doch von da an hieß es aufstehen oder ins Bett machen. Und sofort kam Anne der irrwitzige Gedanke, mit Katarina eine Runde durchs Zimmer zu drehen. Bestens, das hieß demnach gleiche Folter wie gestern.

Erstaunlicherweise behielt Schwester Anne recht. Die Schmerzen waren zwar noch verdammt heftig, aber bei Weitem nicht mehr so übel wie am Tag zuvor.

»Das ging doch ganz gut«, sagte sie. »Wenn Sie sich in der Lage fühlen, gehen wir das nächste Mal bis zur Intensivstation ihren kleinen Schatz besuchen.«

»Ich stehe im Moment sowieso schon, warum also nicht gleich?«

Was für eine kühne Frage. Hatte sie da tatsächlich gerade selbst gesprochen? Sowohl Schwester Anne als auch Felix starrten sie sprachlos an. Und um ehrlich zu sein, fühlte sich Katarina ganz und gar nicht in der Lage dazu, aber sie wollte es trotzdem. Und zwar unbedingt. Sie musste zu ihrem Baby, zu ihrem kleinen Schatz.

»Na gut, versuchen wir es mal. Wenn es nicht mehr geht, sagen Sie Bescheid.«

Ganz langsam, im Schrittformat einer Kaffeebohne, hangelte sich Katarina am Handlauf entlang bis an das Ende des Flures. Dort lag die Intensivstation für die Neugeborenen. Nur Ärzte, Schwestern und die Eltern des Babys durften den Raum betreten. Niemand sonst.

Hier drin war es absolut still. Man konnte beinah eine Stecknadel fallen hören, sofern man eine bei sich trug. Nur die Apparate gaben einen regelmäßigen Piepton von sich. Zwei Babys wurden momentan überwacht. Eines davon war Felix’ und Katarinas kleiner Schatz.

Schwester Anne zeigte auf einen Inkubator mit der Kennzeichnung 1B. So schnell es ging, schleppte sich Katarina zu diesem durchsichtigen Kunststoffkasten. Da lag er ihr kleiner Schatz. Halbnackt, nur mit einer Windel bekleidet. Etliche Kabel klebten und klemmten an ihm. Er sah aus wie eine Marionette, die nur durch all diese Fäden am Leben war. Armes kleines Ding. Sie schluckte schwer. Das war ihr Kind und es war ganz allein. Dabei sollte es doch eigentlich geborgen in ihren Armen liegen.

»Wir müssen ganz leise sein. Die Geburt war schwer und hat ihm sehr zu schaffen gemacht«, flüsterte Anne. »Sein Zustand ist noch immer kritisch. Im Augenblick müssen wir Geduld haben und können nur abwarten. Die Zeit bringt Gewissheit.«

Dr. Teddy hatte ihr gesagt, womöglich könnte das Gehirn geschädigt worden sein. Und auch wenn er Hanni dafür verantwortlich machte, die Schuld trug einzig sie selbst.

»Ich mache mir solche Vorwürfe«, sagte Katarina.

»Das sollten Sie nicht.«

Katarina betete innerlich darum, dass es ihr kleiner Schatz schaffen möge. Er war ein Kämpfer und hatte einen starken Willen. Das hatte er seit der vierzigsten Woche ihrer Schwangerschaft mehrfach bewiesen.

»Ihr Baby braucht ausgiebig Ruhe. Berühren Sie es bitte nur durch die Luken. Herausnehmen wäre zu viel Stress für Ihr Kind.«

Katarina öffnete eines der kleinen Fenster.

»Streicheln Sie es, das tut ihm gut. Die Nähe der Eltern ist wichtig für seine Genesung.«

Sie lächelte ihrem Baby zu und sagte: »Hallo, mein kleiner Schatz.« Sie berührte sein Gesichtchen und streichelte über sein rabenschwarzes, dichtes Haar.

Felix brachte einen Stuhl. Das lange Stehen war für Katarina anstrengend und sie wollte ihr Baby noch nicht wieder allein lassen.

Zwei Tage darauf war Katarina so weit in der Lage, ihr Bett selbständig zu verlassen. Bei einem Wettrennen wäre dabei eine Schnecke ganz klar als Sieger hervorgegangen, denn das Ganze dauerte satte zehn Minuten.

Der Kleine durfte den Inkubator noch immer nicht verlassen, darum hatte sie keine Möglichkeit, ihn zu stillen. Also pumpte sie die Muttermilch regelmäßig mit einem Gerät ab. Das war ein komisches Gefühl und schwer zu beschreiben. Man stelle sich eine leere Tüte Capri-Sonne mit Strohhalm vor, mit dem man zutscht und zutscht, um auch noch die restlichen Tropfen zu erwischen.

Das Füttern mit der Flasche durch die kleinen Luken war dann zum Glück weniger kompliziert als das Abpumpen. Anders verhielt es sich mit dem Wickeln. Dagegen waren Houdinis Kunststücke ein Witz. Auch das war nur durch die kleinen Fenster möglich und die Sicht dabei auf ihr Kind alles andere als optimal. Zudem lag permanent irgendein Kabel im Weg. Sobald Katarina eins davon bewegte oder auch nur dagegenstieß, gab der Apparat, mit dem diese blöden Dinger verbunden waren, verstörende Alarmgeräusche von sich.

Verdammt. Sie zuckte zusammen und ihr Herz raste, jedes Mal. Denn diese Töne verkündeten: Mit Fratz stimmt etwas nicht. Es geht ihm schlechter.

Sofort rannte Katarina auf den Flur und schrie um Hilfe. Die Schwester kam, beruhigte sie dann aber. Der Alarm wäre beim Wickeln völlig normal und harmlos. Und trotzdem, Katarina reagierte hochsensibel auf diese Töne.

Fünf unglaublich lange Tage, dann durfte Baby Fratz endlich diese grässliche Kiste verlassen, wenn auch nur für eine halbe Stunde. Doch diese halbe Stunde war einfach unbeschreiblich. Wie Ostern und Weihnachten auf einen Streich. Das lang Ersehnte wurde wahr, Katarina und Felix durften ihr Kind zum ersten Mal im Arm halten.

Klein und sehr zerbrechlich wirkte ihr Baby. In eine Decke gewickelt und leicht wie eine Feder lag es jetzt in Katarinas Armen. Behutsam schaukelte sie mit ihm hin und her.

»Hallo, mein kleiner Schatz«, flüsterte sie, »deine Mama hat dich so lieb.«

Sie konnte nicht aufhören, ihn anzuschauen. Sie liebte ihn, ihren kleinen Jungen und konnte sich schon jetzt ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Sie berührte seine winzige Stupsnase mit ihrer und atmete langsam tief ein. Es war nur ein Hauch wie seine Haut duftete, ganz zart und wundervoll, so wie Babys nun mal riechen. Immer wieder gab sie ihm ein sanftes Küsschen und berührte seine Wange. Sie war weich wie ein Pfirsich. Seine kleinen Händchen griffen nach ihr und umschlungen fest ihren Daumen. Er wusste, dass Katarina seine Mama war und das machte sie glücklich.

Von nun an ging es bergauf. Am nächsten Tag verbrachte Fratz schon ganze zwei Stunden bei seinen Eltern. (Natürlich alles in Absprache mit Dr. Teddy, keine Frage.) Und am folgenden von früh bis spät.

Endlich waren Katarina und Felix Mama und Papa. Baden, wickeln, füttern und das Schönste – zusammen kuscheln. Katarina bekam von ihrem kleinen Schatz gar nicht genug. Sie beobachtete ihn beim Schlafen, verfolgte jeden Atemzug, jede Bewegung der kleinen Finger und jedes Zucken in seinem Gesichtchen.

»Da! Er lächelt sogar im Schlaf«, flüsterte sie. »Die Tage zuvor hat er das nicht ein einziges Mal getan.«

Zu der Zeit lag er auch ausschließlich im Inkubator. Und das konnte jetzt nur eines bedeuten: Er fühlte sich bei seiner Mama wohl und geborgen. Vielleicht träumte er gerade von ihr. Liebte er sie womöglich schon genauso wie sie ihn? Ach, wäre das schön.

Aber nicht nur sie selbst und Felix freuten sich, ihren kleinen Fratz zu sehen, sondern auch die Besucher, die nun täglich hereinschneiten.

Am frühen Nachmittag kamen die Omas und Opas. Elsbeth und Friedrich, Felix’ Eltern und Elfriede und Gustav, die Eltern von Katarina. Sie mussten sich abgesprochen haben, warum sonst sollten sie hier im Doppelpack auftauchen. Doppelt hält besser, war dazu mal wieder Felix’ Spruch, wie so oft.

»Na wo ist denn das kleine Putzelchen«, säuselte Oma Elsbeth, Felix’s Mutter, und kitzelte Fratz am Bauch und unter den Armen. Er schreckte aus seinem friedlichen Schlaf, sah in das Gesicht seiner Oma und rief leise mäh-mäh-mäh. »Na aber, Putzelchen, ich bin es doch, deine Omi Elsi.«

»Ach komm schon«, mischte sich Oma Elfriede ein, Katarinas Mutter. »Der Fritz kennt dich doch noch gar nicht.«

»Er heißt Fratz, Mutti«, sagte Katarina.

»Fritz«, rief Opa Friedrich und klatschte dabei schallend in die Hände. »Ja, da laust mich doch der Affe. Er heißt Fritz, so wie ich? Felix, mein Junge, ich bin gerührt.«

»Nein, Papa, er heißt Fratz.«

»Redet doch mal nicht alle so laut durcheinander«, warf Oma Elsbeth ein. »Der Kleine weint schon.«

»Vor allem, weil du ihn geweckt hast, Elsbeth.«

»Katarina! Ich habe schon Kinder erzogen und ein bisschen mehr Erfahrung als du. Nach den paar Tagen kannst du ja wohl kaum mitreden.«

Das hatte gesessen, wieder einmal. Danke, liebes Schwiegermonster. Katarina hätte Elsbeth am liebsten sofort aus dem Zimmer geschmissen. Doch die bekam nicht mal was mit von ihren wütenden Blicken. Für sie war das schon wieder vergessen beziehungsweise ganz normal, ihre Schwiegertochter derart abzukanzeln. Einzige Ausnahme machte sie während der Zeit in der Schwangerschaft. Da hatte sie Katarina förmlich in Watte gepackt. Aber das war jetzt endgültig vorbei. Das Monster trat wieder in Erscheinung. Doch im Augenblick galt Elsbeths ganze Aufmerksamkeit ihrem wimmernden Enkel.

 

»Komm mal zu Omi Elsi, mein Fritzchen.«

»Fratz!«

»Nun sei doch nicht so kleinlich, Katarina. Da ändert ihr eben den Namen. So kurz nach einer Entbindung dürfte das wohl kein Problem sein. Friedrich würde sich darüber freuen und einfacher zu merken ist er auch.«

»Er heißt Fratz, gewöhnt euch dran.«

»Jetzt weint er noch mehr. Gib dem Kind doch endlich mal einen Schnuller. Ist ja kein Wunder, dass er weint.«

»Nichts da Schnuller.« Opa Gustav ergriff das Wort und bahnte sich den Weg zu seinem Enkel. »Else, jetzt übernehme ich mal den Kleinen.« Na der traute sich was.

»Wenn du denkst, du kannst das besser. Bitte.« Eingeschnappt legte sie Fratz in seine Arme.

»Na, Fritzchen«, brummte Opa Gustav flüsternd seinem Enkel zu. Dabei bemerkte er Katarinas drohenden Blick. »Oder auch Fratz«, korrigierte er rasch. »Lass die Weiber einfach zanken. Wir Männer halten zusammen, stimmt’s?«

Fratz verstummte bei den Worten seines Opas und klammerte eine Hand um seine riesig lange Nase.

»Na, Elsbeth, wer hat denn jetzt die Erfahrung und wer kann hier nicht mitreden?«, sagte Opa Gustav überlegen zu ihr.

Auch Opa Friedrich, er saß in der Ecke auf einem Stuhl, zwinkerte Gustav heimlich zu und grinste schadenfroh.

Fratz wurde reihum von einem Opa zur Oma und zum und zur Nächsten gereicht.

Nach einer Weile ergriff endlich Felix das Wort. »Was haltet ihr davon, ich lade euch in die Cafeteria ein. Fratz sollte jetzt etwas schlafen.«

Danke, Felix, sagten Katarinas Blicke.

Die Cafeteria lag zwei Etagen unter ihrem Zimmer, direkt am Eingang. Die Gefahr, dass ihre Sippe zurückkäme, war also gering.

Natürlich war es schön, dass ihre Eltern und auch die Schwiegereltern hier waren. Das freute Katarina tatsächlich. Selbst dass sich Elsbeth mit ihrem Hüftleiden die zwei Stockwerke hinaufgeschleppt hatte, war anzuerkennen. Aber genauso schön war es, dass sie jetzt wieder allein war mit ihrem Fratz.

Am nächsten Vormittag kam erneut Besuch. Es klopfte und Katarinas Freundin Meike steckte ihren Kopf zur Tür herein.

»Hey, Meike, komm rein.«

Hinter ihr erschien Wolfi, ihr Mann. Er hatte es wirklich geschafft, eine Klinik zu betreten, zumal er derartige Einrichtungen ebenso sehr verabscheute wie Katarina, alle Achtung. Das rechnete sie ihm hoch an. Allerdings konnte sie nun Meike nicht jedes Detail erzählen. Das fiel flach, jedenfalls im Augenblick.

»Oh, wie schön, dass ihr da seid.«

Wolfi gab ihr einen Kuss auf die Wange und Meike fiel ihr um den Hals.

»Wuah«, kreischte Katarina auf. »Sorry, Meike, mein ganzer Körper tut noch übelst weh.«

»Oje, entschuldige.«

Plötzlich klappte Katarinas Kinnlade nach unten, nahe einer Gesichtslähmung. Hinter Wolfi zwängte sich Schnorrer-Bea ins Zimmer. Konnte das wahr sein?

»Verdammt, ist das dein Ernst«, zischte sie Meike leise zu.

Die hob nur entschuldigend die Schultern.

Beate war Meikes Kollegin von der Arbeit und hin und wieder bei ihr zu Besuch. Katarina hatte sie ein paarmal bei ihr zu Hause angetroffen. Beate war zwar nett, aber sie nervte und schnorrte und Meike merkte das nicht einmal. Und jetzt war Beate hier.

Katarina zwang sich zu lächeln. »Beate, was machst du denn hier?« Sie hoffte, ihre Stimmlage würde ihren Frust nicht allzu deutlich zum Ausdruck bringen.

»Oh, ich war gerade bei Meike und dachte, ich komm mal eben mit. Du musst wissen, ich bin jetzt nämlich auch schwanger und da wollte ich mal sehen, wie es hier so zugeht.«

»Ja, toll.« Katarina kicherte gekünstelt, mehr konnte Meike von ihr angesichts dieser Situation nun wirklich nicht verlangen.

»Und wenn wir gerade dabei sind, ich wollte dir einen Vorschlag machen. Wenn mein Kind da ist, würde ich euren Kinderwagen übernehmen, vielleicht auch ein paar Strampler und so Sachen.«

Katarina stierte Beate an. »Hä?« Mehr brachte sie nicht zustande.

»Ich meine, wenn es bei mir so weit ist, sitzt Fratz schon im Buggy und der Kinderwagen steht nur noch rum. Für den ist Fratz dann viel zu groß. So findet er wenigstens noch Verwendung. Und wenn ihr drauf besteht, zahle ich natürlich einen Obolus.«

Verdammte blöde Kuh.

Katarina kochte innerlich. Das machte Beate immer so, jedenfalls bei Meike. Sie fragte nicht, sondern legte fest und verpackte das Ganze so, als würde sie nur aus einem Gefallen heraus handeln. Und jetzt versuchte sie es bei Katarina.

Miststück.

»Ich muss das mit Felix besprechen und ich denke nicht, dass da ein Obolus ausreicht.« Dieses Weib ging Katarina mächtig auf die Nerven. So nicht, nicht mit mir. »Und wenn du schon hier bist, geh doch mal den Gang hinter. Da sind die Geburtenräume. Schau sie dir an. Man darf dort übrigens ohne Weiteres hineingehen, außer es entbindet gerade eine.«

»Ja, deshalb bin hier. Deinetwegen natürlich auch.« Sie gluckste. »Ich geh dann mal kurz.«

»Lass dir ruhig Zeit.«

»Sag mal, Meike, bist du wahnsinnig«, donnerte Katarina los, sobald Beate die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Das tut mir so leid. Ich hätte nicht gedacht, dass sie mit so etwas hier loslegt. Das bekommt sie nachher noch von mir zu hören.«

»So ist die immer, nur Meike will das nicht wahrhaben«, sagte Wolfi.

»Darf ich den kleinen Fratz mal aus dem Wagen nehmen?«, fragte Meike.

»Oh Themawechsel, Meike lenkt mal wieder ab.« Katarina gluckste. »Aber ja, sicher.«

»Meine Güte, bist du ein Süßer. Da werden sich Suse und Tom freuen, dass sie einen neuen Spielkameraden bekommen.«

Am Nachmittag und am Tag darauf kamen Katarinas Schwester, Nichten und Neffen, Onkel und Tanten und verschiedene Freunde von ihr und Felix zu Besuch.

Seit der Entbindung waren inzwischen zehn Tage vergangen und Katarina klagte nach wie vor über entsetzliche Schmerzen. Sie waren zwar nicht mehr so heftig wie am ersten Tag, für ihr Empfinden aber kaum auszuhalten. Sie jammerte bei allem, was in Verbindung mit ihren Bauchmuskeln stand. Und das war bei jeder kleinsten Bewegung. Nachvollziehbar und unvermeidlich, ohne Frage, schließlich pendelte ihre Schmerzgrenze bei weit unter null.

Um die Schmerzen so einigermaßen in Schach zu halten, lag ihre linke Hand die meiste Zeit wie ein siamesischer Zwilling fest auf ihrem Bauch. Sie hatte das permanente Gefühl, er würde nach unten plumpsen, wenn sie ihn nicht festhalten würde. Zum anderen wirkte sie damit der Anspannung ihrer Bauchmuskeln entgegen. Bisher hatte sie nicht annähernd für möglich gehalten beziehungsweise gar nicht erst gewusst, dass beinah jede Bewegung mit ihnen verbunden war. Das spürte sie jetzt nur allzu deutlich.

Die letzten zehn Tage hatte Katarina Fortschritte gemacht. Zumindest ein paar, wenn auch nicht viele, wie sie behauptete. Aber nicht nur sie, auch ihr Fratz war auf dem besten Weg. Mittlerweile sah er nicht mehr aus wie eine Marionette, sondern wie ein richtiges, gesundes Baby – frei von sämtlichen Kabeln.

Katarina hatte es ja gewusst. Er war ein Kämpfer mit starkem Willen, das war ihr schon sehr lange klar.

Dr. Teddy schaute täglich nach Fratz. Seinem Ziehkind. So nannte er ihn indessen, aber Katarina hatte nichts dagegen. Immerhin verdankte sie ihm, dass ihr Baby noch lebte.

Die Untersuchung fiel heute etwas gründlicher aus. EEG, Schädelsonografie und solche Sachen waren an der Reihe.

Soeben war Dr. Teddy damit fertig und streifte die Handschuhe ab. »Ihr Baby hat sich von den Strapazen gut erholt«, sagte er zu Katarina. »Alle Tests sind so weit unauffällig. Sie dürfen heute nach Hause gehen, alle beide. Außer Sie fühlen sich nach der langen Zeit so wohl bei uns, dass Sie nicht mehr fortwollen, dann muss ich das mit der Klinikleitung klären.« Er hob die Schultern und grinste dabei.