Salzburger Rippenstich

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»Todesursache?«, will sie wissen.

»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er hinten zerdetscht und vorne zermatscht war.«

Die Vroni spitzt die Lippen und zieht die Augenbrauen hoch. »Beim nächsten Geocacher-Stammtisch werd ich den Roderich anzapfen. Also übermorgen.«

Ich bin geflasht; Vroni steckt voller Überraschungen! Jetzt kennen wir uns seit über 30 Jahren, aber was in Gottes Namen sind Geocacher? Und seit wann macht Vroni bei denen mit? Die Erklärung kommt umgehend und ausführlich. Während mir die Vroni die Basics ihres neuen Hobbys erklärt, verdrücken unsere Kinder acht Schokobrezen, drei Leberkässemmeln und sieben Fruchtspieße. Sie redet auch noch, als die Kinder mit dem Kettenkarussell wild im Kreis fahren und das Gegessene mühsam bei sich behalten. Eine geschlagene Stunde später bin ich schlauer. Ich weiß jetzt, dass Geocachen nichts mit dem Schulfach Geografie zu tun hat, wohl aber mit Koordinaten und Orientierung. Man versteckt und sucht Sachen. Und je schwieriger irgendein Cache zu finden ist, desto lustiger das Ganze. Angeblich. Und gecacht, erklärt mir die Vroni, wird überall auf der Welt.

»Ja«, sagt sie und beißt krachend auf die letzte gebrannte Mandel aus dem Papiersackerl, »und die Geocacher, die sind eine riesige Community, weißt du. Jede Ortsgruppe trifft sich einmal im Monat am Stammtisch.« Sie schwärmt mir von den netten Leuten vor, die bei der Community sind, von den Nicknames und den Adventures. Ich bin eher skeptisch. Am helllichten Tag freiwillig nach Sachen zu suchen, die irgendwer vorher versteckt hat, und das Ganze dann auch noch in ein Logbuch einzutragen, entspricht nicht meiner Vorstellung von Entspannung! Sachen suchen muss ich täglich daheim, wenn die Kinder oder der Laurenz wieder mal was verlegt haben. Meine diesbezüglichen Erfolge würden kein Schwein interessieren, selbst wenn ich die ganze Welt via Internet dran teilhaben lasse. Socke war unterm Bett, bitte Applaus! Aber die Vroni sagt, für sie ist das ein Ausgleich. Denn ihre Vormittage verbringt sie entweder mit gestörten Schülern oder deren gestörten Eltern. Beibringen kann man denen nix mehr, sagt sie, denn die Schüler sind Bestien und die Eltern beratungsresistent. Und irgendwann braucht sie dann halt auch ein Erfolgserlebnis. Dann packt sie sich am Nachmittag mit ihren Mädels zusammen und geht suchen. Wurscht, was. Hauptsache suchen. Manchmal große Sachen, manchmal kleine. Denn die Caches sind unterteilt in verschiedene Größen. Mikro, Mini, Maxi und so. Ich höre ihr ehrfürchtig zu. Sie scheint das ernst zu meinen, das mit der Entspannung.

»Und wer ist jetzt dieser Roderich?«, lenke ich sie zum eigentlichen Thema zurück. Es braucht ein paar Sekunden, bis es schnackelt in ihrem Hirnkastl.

»Ach soooooo, der! Ist bei der Polizei in Anif. Ganz ein Netter. Der braucht das auch als Ausgleich, das Geocachen.« Laut Vroni ist der Roderich seit einem Jahr verwitwet und züchtet Bienen. Nicht hauptberuflich, natürlich. Als Hobby. Seinen Honig könnte sie mir wärmstens empfehlen. Und eben diesen Roderich wird sie beim Stammtisch ein bisserl aushorchen, was die laufenden Ermittlungen in Sachen Leiche an der Glan betrifft.

Die Sonne hat sich verabschiedet; es wird kühl. Zeit, heimzufahren. Als Abschluss fahren wir alle gemeinsam noch einmal mit dem Sturmsegler; seit Kindertagen mein persönlicher Pflichttermin auf jedem Ruperti-Kirtag. Wir brauchen ganze drei Boote, weil wir ja zu neunt fahren. Franz setzt sich mit seinen zwei Mädchen in das erste Boot, Max, Susi und Lisi in das nächste, und im dritten sitzen Laurenz, Vroni und ich. Die Boote füllen sich, der Kassier sammelt die Plastikchips ein und dann bimmelt die Schiffsglocke in der Mitte. Los geht’s! Die Segelbooterl fahren rasant im Kreis, immer leicht auf und ab. Es kribbelt im Bauch, die Haare wehen. Ein schöner Herbsttag, alle gemeinsam auf dem Kirtag und jeder hat seinen Spaß – Herz, was willst du mehr?

Viertes Kapitel

Erzählt von Muskelbergen, Langeweile und Abenteuerlust. Liebe tut weh, und zwar nicht nur im übertragenen Sinn. Außerdem sehe ich Rasentraktoren ab jetzt aus einem neuen Blickwinkel. Ich bin im Gelände unterwegs, werde fündig, aber nicht schlauer. Beim Socken-Memory erfahre ich allerhand über Trauma-Verletzungen und esse Kastanientorte.

Die kommende Arbeitswoche lässt an Abwechslung zu wünschen übrig, was im Klartext heißt: alles wie immer. Der Rettenbacher stirbt. Ein tropisches Insekt hat ihn gestochen, er ist dem Tode geweiht. Sagt er. Der vermeintliche Stachel ist dann doch nur ein stinknormaler Holzschiefer, den er sich beim Brennholzzerkleinern eingezogen hat.

Außerdem: Patient mit akuter Pilzvergiftung. Speibt uns die Ordination voll. Nicht unüblich im Herbst, wo die Schwammerlsammler in Hundertschaften ausschwärmen. Die meisten überschätzen ihre Kenntnisse und können einen Fliegenpilz kaum von einem Eierschwammerl unterscheiden. Und eine Dame mit Verdauungsproblemen bekommt einen Kamilleneinlauf, weil sonst der Darmverschluss droht. Alles in allem nichts Aufregendes.

Irgendwann ist dann auch schon wieder Freitag, und aus meiner langjährigen Erfahrung gestaltet sich das Ende der Arbeitswoche nach einem sich wiederholenden Muster. Die Patienten stocken fürs Wochenende ihre Medikamentenvorräte auf, was zur Folge hat, dass ich stundenlang Rezepte ausdrucke und der Drucker heißläuft. Auch hier macht sich der Herbst bemerkbar: Antidepressiva sind hoch im Kurs, entweder als synthetische Chemiehämmer (für Ungeduldige), als Globuli oder Johanniskrautkapseln (für die Naturbelassenen). Die Frau Doktor redet sich den Mund fusslig, dass nicht jede dahergelaufene Übellaunigkeit gleich eine ausgewachsene Depression sein muss. Aber wenn die Blätter von den Bäumen fallen und die Tage kürzer werden, sind die Leute eben grantiger. Ich ziehe Fäden bei zwei Platzwunden, schicke Stuhlproben ins Labor und bestelle Impfstoffe für den Pensionistenverband, weil eine Fernreise ansteht.

So gegen Mittag, kurz vor Praxisschluss, erscheint eine elegante Dame. Neuzugang, schätze ich. Wahrscheinlich Bandscheibenvorfall, so wie sie daherschleicht. Sie hält sich mehr schlecht als recht gerade, stützt sich mit zusammengebissenen Zähnen auf meinen Schreibtisch und verlangt Schmerztabletten. Aber Tabletten geben wir nicht einfach so aus; ohne Untersuchung läuft hier gar nix. Da könnte ja jeder kommen. Die Dame ist mir außerdem gänzlich unbekannt. In diesem Fall sind Erstuntersuchung und Datenaufnahme sowieso Pflichtprogramm.

Sie hält sich allerdings bedeckt. Weder ihre Daten noch den Grund, warum ihr Gestell so ramponiert ist, gibt sie preis. Tabletten braucht sie aber unbedingt, weil sie angeblich weder liegen noch sitzen kann vor Schmerzen. Die Frau Doktor, die im Nebenraum sitzt und alles mit angehört hat, hakt die Dame unter und nimmt sie mit ins Behandlungszimmer. Ich hinterher. Und jetzt heißt’s Oberteil und Hose ausziehen, ob sie will oder nicht. Denn wenn jemand so gar nicht rausrücken will, woher die Schmerzen rühren, dann schrillen bei der Frau Doktor die Alarmglocken. Womöglich – und darauf deutet die Geheimnistuerei hin – liegt hier eine Misshandlung vor. Dann muss Anzeige erstattet werden. Also: Hüllen fallen lassen. Was mir sofort auffällt: Sie hat den 70er zwar schon überschritten, ist aber top in Form und gepflegt. Trainierte Figur, lackierte Nägel, schöne Dessous. Jane Fonda am Untersberg. Keine hautfarbenen Frotteezelte, die man bei 95 Grad auskochen kann, falls was daneben geht, sondern mitternachtsblaue Spitze, und der BH ist in der Mitte mit Strass besetzt. Aber hallo! Und leider harmoniert der BH farblich wunderbar mit den Blutergüssen. Knapp über dem Allerwertesten riesige Flecken, und zwar alle quer und länglich. Als hätte sich da jemand mit einer Stange ausgetobt. Da kann sie noch von Glück reden, dass das Steißbein nicht gebrochen ist.

Auf den ersten Blick ist hier ein rabiater Ehemann die Wurzel allen Übels und die Patientin ein klarer Fall fürs Frauenhaus. Sie faselt aber dauernd was von einem Unfall im Haushalt und winselt nach Schmerztabletten und einer Überweisung zu ihrem Physiotherapeuten. Die Frau Doktor seufzt. Jedes Mal dasselbe mit den misshandelten Ehefrauen: Verdrängung. Ich hol schon einmal die Unterlagen für die Meldung an die Polizei und das Frauenhaus. Keine schöne Sache. Kommt Gott sei Dank nicht allzu oft vor. Aber es helft ned, sagt meine Tante Nanni immer, was sein muss, muss sein. Also Daten aufnehmen und aus. Und als sie merkt, dass wir nicht lockerlassen und das hier ihre einzige Chance auf Schmerzmittel ist, macht sie doch den Mund auf, die Lady. Haubinger Christina heißt sie. Da klingelt es bei mir: Könnte die Frau Gemahlin vom Bauunternehmer Haubinger sein, mit dem der Laurenz öfter zusammenarbeitet. Als Geburtsjahr gibt sie 1943 an, was bedeutet, dass sie bereits 76 Lenze zählt. Könnte passen. Lieber Gott, bitte lass mich in diesem biblischen Alter noch so topfit und gepflegt sein! Im Idealfall ohne blaue Flecken natürlich, aber trotzdem. Als ich die persönlichen Daten erfasst habe, geht’s ans Eingemachte, denn jetzt brauch ich Infos zum Unfallhergang und den Beteiligten. Aber sie will nicht. Wir tauschen einen Blick, die Frau Doktor und ich; das ist uns nicht neu. Paradoxerweise fühlen sich Opfer von häuslicher Gewalt oft selbst schuldig. Sie kommen zwar grün und blau geschlagen in die Praxis und brauchen Hilfe, wollen aber ihre Peiniger vor Unannehmlichkeiten und einer Anzeige bewahren. Die Frau Doktor legt ihr einen Arm um die Schulter.

»Schauen Sie, Frau Haubinger, das muss sein, allein schon wegen der ärztlichen Bestätigung, die Sie für die Polizei brauchen. Dann leiten wir das weiter, und alles nimmt seinen Lauf. Und ich versichere Ihnen: Sie müssen nicht dabei sein, wenn Ihr Mann von der Polizei zur Befragung abgeholt wird. Wir können Ihnen einen übergangsmäßigen Platz im Frauenhaus besorgen, damit Sie in Sicherheit sind.«

 

Und dann: Staudammbruch. Ende der Verschwiegenheit. Sie schluchzt hemmungslos und tränenreich, löst sich quasi in Wasser auf. Sturzbäche von wimperntuschegefärbten Tränen rinnen ihr hübsches Gesicht entlang in Richtung Dekolleté. Ich lege ihr eine Decke um die Schultern, damit sie nicht friert. Wir lassen ihr ein paar Minuten Zeit und setzen uns neben sie auf die Liege. Erstens, weil sie eh die letzte Patientin für heute ist, wir haben also keine Eile. Zweitens hätten wir sowieso nichts verstanden, falls sie etwas gesagt hätte. Minutenlang nur Wimmern, Schneuzen und Wehklagen. Aber irgendwann hat sie dann alle Tränen rausgeweint, alle Taschentücher angerotzt und sich einigermaßen beruhigt. Dann packt sie aus. Und zu unserer Überraschung liegen wir mit unserer Theorie vom rabiaten Ehemann gründlich daneben. Es war nämlich alles ganz anders:

Die Frau Haubinger, mit einem Baumeister verheiratet, wohlhabend, gutaussehend, aber zu Tode gelangweilt, wollte aus ihrem goldenen Käfig ausbrechen. Also hat sie sich ihrem Hausmeister, sagen wir, »genähert«. Mehr als nötig. Wie sagt der Laurenz immer: Wenn’s dem Esel zu gut geht, geht er aufs Glatteis tanzen. Das trifft es ziemlich genau. Sie sagt, ihr war nach Tapetenwechsel. Weg von den stinklangweiligen Charity-Golf-Turnieren und Vernissage-Eröffnungen, zu denen sie ihren Mann begleitet hat. Schluss mit den Fotografenterminen bei Spatenstichen und Weihnachtsmärkten. Ausbrechen aus dem immer gleichen Programm mit Tattergreisen oder Speichelleckern. War halt nicht nach ihrem Geschmack. Sie hatte Lust auf Neues, war scharf auf Abenteuer. Gierig nach Sex. Und nach Frischfleisch. Und da ist ihr der junge, braun gebrannte und muskelbepackte Hausmeister grad recht gekommen. Mit Werkzeug und Rasentraktor kümmert er sich um kleinere Reparaturen an der Villa und um unkrautfreien Rasen im Garten. Früher war er beim Baumeister als Maurer angestellt. Aber nach irgendeinem Arbeitsunfall war er auf Baustellen nicht mehr einsatzfähig, also hat ihm der Herr Haubinger eine Stelle bei sich zu Hause angeboten. Und seit ein paar Wochen hat ebendieser Hausl mit dem Luxuskörper, na ja, sein Aufgabengebiet »erweitert«. Sprich, er hat sich nicht mehr nur um Garten und Villa Haubinger, sondern auch um die Frau Haubinger gekümmert. Komplettangebot, sozusagen. Zuerst sei das alles neu und aufregend gewesen, sagt sie. Der Hausl habe sie an den unmöglichsten Orten verführt, vernascht und sie von einem Orgasmus zum nächsten gejagt. Sie habe sich wieder jung und begehrt gefühlt, sagt sie, und eigentlich will ich das gar nicht so genau wissen. Meine Sympathie für sie kühlt gleich um ein paar Grad ab, denn ihr Stolz ist mir nicht entgangen. Schließlich gibt es nicht viele Damen in ihrem Alter, die sich auf derart amouröse Abenteuer einlassen. Die bildhaften Details von ihr und dem Muskelprotz, die erhitzten Gesichter und schweißnassen Körper, überschäumend vor Lust, kurz vor der Ekstase, hätte sie uns ersparen können. Dass sie im Gartenschuppen, auf dem frisch gemähten Rasen, auf der Tischtennisplatte und einmal sogar auf dem Schreibtisch des Ehemannes übereinander hergefallen sind, darüber hätte sie Stillschweigen bewahren können. Die Bilder krieg ich nicht mehr aus dem Kopf, herzlichen Dank.

Am Anfang, erzählt Frau Haubinger, sei ihr Lover auch noch charmant gewesen. Aber nicht lange. Dann, schluchzt sie, sei er immer grober, ungenierter und zudringlicher geworden, und irgendwann ist die frisch verliebte Frau Haubinger aus ihrem hormonellen Nebel und ihrer rosa Wolke geplumpst. Ihr ist klar geworden, was für einen Fehler sie da gemacht hat. Und vor allem, mit wem. Wochenlang sind ihr nur Hauptsache und Kronjuwelen von diesem Muskelberg im Kopf herumgebimmelt und haben jegliche Vernunft verdrängt. Und das letzte, sagen wir einmal, »enge Beisammensein« war dann kein romantischer Softporno mehr, sondern die Ursache für ihr ramponiertes Becken.

»Auf dem Rasentraktor«, sagt sie kleinlaut. Den Rasentraktor kann man auf Selbstfahrmodus einstellen, wurscht, ob jemand drauf sitzt oder nicht. Eine Runde Hautkontakt und Körperflüssigkeitenaustausch geht sich da locker aus, bis das riesige Grundstück fertig gemäht ist. Blöd nur, dass Frau Haubinger dabei mit dem Rücken ans Lenkrad gedrückt wurde, daher die streifenartigen blauen Flecken. Das Ganze muss quasi frei von jeglicher Romantik vor sich gegangen sein, weil erstens unsanfter Grobian und zweitens volle Fahrt voraus. Wie auch immer. Jedenfalls sind diesem wilden Ritt nicht nur die Hortensiensträucher und ein paar Rosen zum Opfer gefallen (wie gesagt: Selbstfahrmodus), sondern auch das Becken der Baumeistersgattin. Den Kevin – so heißt der potente Kraftlackl – haben die Schmerzen seiner Sexualpartnerin nach der Paarung jedenfalls null tangiert und nur einen Lacher gekostet. Aber der Name sagt ja schon alles. Die Frau Doktor schüttelt den Kopf, nur ein ganz kleines bisschen, aber die Frau Haubinger merkt’s natürlich.

»Sie können sich gar nicht vorstellen, was für eine Überwindung mich das kostet, jemandem davon zu erzählen!« Ihr tropfen schon wieder Tränen aus den Augen; ob aus Reue oder vor Schmerzen, lässt sich nicht so genau sagen. Wahrscheinlich beides.

»Wenn irgendwer von dem Ganzen erfährt … dann sind wir ruiniert!«

Sie jammert vor sich hin, dass sie jetzt erpressbar ist und ihr Leben im Eimer. Also räume ich die Unterlagen für die Anzeige wieder weg – weil die Frau Haubinger ja nicht gut angeben kann, dass sie sich dabei verletzt hat, wie sie ihren Mann mit dem Hausmeister beschissen hat. Und noch dazu im eigenen Garten. Vom Traktor und dem Rest ganz zu schweigen. Dafür, sagt sie, liebt sie ihren Mann dann doch zu sehr. Das kann sie ihm nicht antun, mit der Anzeige. Finde ich zwar ein bisschen scheinheilig, sich zuerst mit dem Hausl durch den ganzen Garten zu schnackseln und danach die große Liebe zum Ehemann zu entdecken, aber bitte. Wer weiß, wozu man nach einer langen Ehe fähig ist. Frau Doktor Fleischer jedenfalls seufzt und hängt ihr eine Infusion gegen die Schmerzen an. Dann verschreibt sie der Patientin Salben zum Abklingen der Schwellungen. Schließlich wird irgendwann wieder der Zeitpunkt kommen, an dem der Herr Gemahl seine ehelichen Pflichten erfüllen will.

Die Frau Haubinger bedankt sich kleinlaut, und während ich kontrolliere, ob die Infusion im richtigen Tempo in ihre Venen tropft, erzählt sie vom Erpressungsversuch, den der Kevin heute früh gemacht hat. Quasi als Gipfel der groben Dreistigkeit. Er bräuchte nämlich ein Zusatzeinkommen, um seine Spielschulden zu tilgen. Also, genauer gesagt, seine hohen Spielschulden. Dieser Kevin, sagt die Frau Haubinger, hat allen Ernstes angedroht, dem Herrn Haubinger in glühenden Farben auszumalen, was und vor allem wo er es mit dessen Gemahlin getrieben hat. Oder er könnte seinem Vater, einem Juristen, der sich im Baugewerbe auskennt, von den vielen kleinen und nicht ganz so kleinen Dingen erzählen, die im täglichen Geschäft auf Baustellen passieren. Also firmeninterne Infos an Dritte weitergeben. Und da gibt’s so Einiges, was man als legale Grauzone bezeichnen kann und womit man einer gut eingeführten Baufirma schaden könnte. Das alles würde seinen Vater brennend interessieren, und der wiederum hätte Kontakte zu sämtlichen Behörden und Kontrollorganen, die eine Baustelle ratzfatz dichtmachen, wenn Ungereimtheiten auftauchen.

»Drei Wochen Bedenkzeit hat er mir gegeben, der Intelligenzbolzen! Bis Anfang November lässt er mich in Frieden, ab dann müsste ich monatlich 1.000 Euro Schweigegeld an ihn zahlen.«

Die Frau Doktor koppelt ihre Patientin vom Tropf ab und reißt die Papierauflage von der Liege. »Sonst … was?« Frau Haubinger kämpft erneut mit den Tränen. Sie zieht sich wieder an, dank Schmerzmittel merklich wendiger als noch vor einer Stunde.

»Sie wissen, ich bin an die ärztliche Schweigepflicht gebunden, Frau Haubinger. Aber für den Fall, dass Sie von Ihrem … ›Geschlechtspartner‹ noch stärker in die Enge getrieben werden, würde ich mir gern seinen vollen Namen notieren, bitte. Vorsichtshalber.«

Die Frau Haubinger nimmt den überlangen Seidenschal von der Stuhllehne und wickelt ihn kunstvoll um ihren faltenfreien Hals. Mit ihren perfekt gepflegten Hinterhufen schlüpft sie in dunkelblaue Lackballerinas, die vorne mit breiten Ripsschleifen verziert sind. Zumindest der rechte; am linken Schuh fehlt die Schleife. Sie schnappt ihre Handtasche und setzt eine riesige, mit Strass besetzte Sonnenbrille auf. »Pechtl. Er heißt Kevin Pechtl.«

Am Heimweg mache ich mit dem Rad einen Umweg und fahre nach Fürstenbrunn. Das kleine Dorf am Fuß des Untersbergs ploppte immer wieder mal in der Geschichte auf, mal mehr, mal weniger bedeutungsvoll. Seinen Namen erhielt es, als Salzburg noch Erzbistum war und Lakaien kübelweise Wasser für die Fürsten vom Brunnen, also der Untersbergquelle, holen mussten. Den leicht rötlichen Marmor, der seit der Römerzeit noch heute in Fürstenbrunn aus dem Untersberg gebrochen wird, verwendeten Steinbildhauer und Architekten und schufen daraus Kunstwerke wie die Hauptfassade des Salzburger Doms oder die Engelsstiege in Schloss Mirabell. Die geografische Lage machte Fürstenbrunn für Schmuggler interessant: Die fußläufige Nähe zu Deutschland war gut fürs Geschäft.

Ich drossle das Tempo und steige da, wo ich die Grenze zur Gemeinde Wals vermute, von meinem Drahtesel. Hier muss die Stelle sein, wo der arme Kerl gefunden wurde. Wobei ich natürlich nicht weiß, ob der Tote zu Lebzeiten tatsächlich ein armer Kerl war. Vielleicht war er ein echtes Arschloch vor dem Herrn und hat sich seinen abrupten Abgang aus dem Diesseits selbst zuzuschreiben. Vielleicht aber auch nicht.

Ein bisschen mühsam ist es schon, mit dem verbundenen Haxen die Böschung rauf- und runterzukraxeln, aber die Mühe lohnt sich. Nach ein paar Minuten finde ich einen fußballgroßen, spitzen Felsbrocken nahe am Wasser. Am Stein klebt Blut. Die letzten Tage waren trocken, es hat nicht geregnet und der Wasserstand der Glan ist tief. Das Blut auf dem Stein ist also seit fast zwei Wochen unverändert. Ich schaue mich um. Hier also. Der geschotterte Spazierweg befindet sich gut anderthalb Meter oberhalb der Glan, die Böschung ist steil. Warum war der Mann ausgerechnet hier unten unterwegs, auf unebenem Gelände und mit dem Risiko, nasse Füße zu bekommen? Wollte er die Glan durchqueren? Nein. Der Fischer Xaverl hat nichts von Gummistiefeln gesagt. Außerdem: Die nächste Brücke ist keine 100 Meter entfernt. War er auf der Suche nach etwas? Etwas, was ihm beim Spazierengehen aus der Hand gefallen ist und was er aufheben wollte? Aber das Gesicht – warum war das so zugerichtet? Als wäre er in einen Reißwolf gekommen, hat meine Schwiegermutter erzählt. Hier ist weit und breit nichts, was einem Menschen derartige Verletzungen zufügen könnte. Weder ein Rechen für Totholz im Bach noch ein Dornenstrauch irgendwo am Ufer. Ich schaue mich um, drehe mich einmal um mich selbst. Kein Zaun, kein Stacheldraht oder sonstige scharfe, spitze Gegenstände. Nichts. Nur Wiesen und Wald. Ich schließe die Augen. Außer dem Rauschen der Autobahn und dem sanften Plätschern der Glan ist nichts zu hören. An einem Freitag zur Mittagszeit ist hier niemand unterwegs, nicht einmal ein Hundebesitzer. Allein beim Gedanken an kläffende Vierbeiner meldet sich mein Bein mit leicht ziehenden Schmerzen. Scheißhundsviech! Mit dem Smartphone mache ich ein paar Fotos von der Stelle mit dem blutigen Stein, dann radle ich nach Hause.

Am Nachmittag zieht Sturm auf. Der Herbstwind schubst die sonnige Wärme der letzten Tage unsanft beiseite, peitscht Regen und Blätter durch die Luft, hüllt den Untersberg in dunkle Wolken und zerzaust Spaziergänger und Hunde gleichermaßen. Im Kachelofen knistert das Feuer: Startschuss für Gemütlichkeit innerhalb der vier Wände.

Vor mir auf dem Tisch liegen gut 50 einzelne saubere Socken, zu einem Berg aufgetürmt. Alle schwarz, alle verschieden. Auf den ersten Blick passt keiner zum anderen; ich seufze einmal tief und beginne mit dem verhassten Sortieren. Da sind die Socken mit den Wochentagen. Sieben Paar, logischerweise. Auf jedem Paar steht in Knöchelhöhe der Wochentag. Dann die Markensocken. Burlington ist auf dem einen eingewebt, Boss auf dem anderen. Hier gilt ebenfalls: Mischen impossible. Dann die anthrazitgrauen. Wobei man klar unterscheiden muss zwischen denen, die immer schon anthrazitgrau waren, und denen, die es mit der Zeit geworden sind. Die dunkelblauen nicht zu vergessen. Und die kurzen Sportsocken. Knöchelhoch und – richtig – schwarz, dafür aber wiederum in drei verschiedenen Größen. Die textile Heimsuchung.

Tante Zenzi versüßt mir dieses nervtötende Geduldsspiel mit ihrer Anwesenheit und einer köstlichen Kastanientorte. Eine resolute Frohnatur, die keine Arbeit scheut und zupackt, wo es nötig ist. Krankenschwester zu sein ist für sie nicht nur Beruf, sondern Berufung. Dass der liebe Gott die Zenzi losgeschickt hat, um mich vor der Kapelle zu finden, war die richtige Entscheidung.

 

Wir sortieren gemeinsam Socken, schlürfen Kaffee und ratschen ein bisserl. Sie erzählt vom Alltag im Krankenhaus, in dem sie arbeitet. Und wie jedes Mal hat sie auch heute wieder eine lustige Story auf Lager. Diesmal von der Neurochirurgie.

Die Neuro ist wie ein Wiesenblumenstrauß, sagt Tante Zenzi immer. Eine bunte Mischung aus allem. Von Tragisch bis Lustig bleibt einem hier nichts erspart, und manches ist einfach nur schräg. Von allen Stationen, auf denen sie in ihrer Laufbahn als Krankenschwester schon gearbeitet hat, ist ihr die Neuro die liebste, weil es dort nie langweilig wird. Eine meiner Lieblingsgeschichten zum Beispiel ist die von den zwei Schädelverletzten. Junge Männer mit Hohlraumsausen, jeweils nach einem schweren Motorradunfall. Körperlich einigermaßen zusammengeflickt und sogar halbwegs gesund, aber das Gehirn war nur mehr eine kleine Murmel in einer großen Schüssel. Der eine hat den ganzen Tag lang in einem fort »21« gesagt. Immer nur »21«. Im Minutentakt. Nach zwei Tagen hat sich der andere beschwert und hat um Abwechslung gefleht. Darauf der andere: »22! 22!« Ja, sagt die Tante Zenzi, mit den Kopfverletzungen ist das so eine Sache. Im einen Moment bist du noch der Kraftlackl, dem die Welt zu Füßen liegt, und im nächsten Moment holen sie dich aus dem Koma und du bist nur mehr ein hilfloser Lulu. Die schwersten Kopfverletzungen gibt’s nach Motorradunfällen, sagt sie, Helm hin oder her. Und auf Baustellen.

Baustellen …!

»War bei euch auf der Station schon einmal ein Kevin?« Schließlich ist der Unfall vom Lover der Frau Haubinger noch nicht allzu lange her, und der Name ist einprägsam und macht jede nähere Beschreibung unnötig. Die Tante Zenzi denkt nach, während sie zwei schwarze lange Socken zusammenlegt. Im letzten Moment bemerkt sie aber, dass der eine ein Montag und der andere ein Freitag ist, also legt sie die zwei wieder beiseite und macht sich auf die Suche nach den jeweiligen verschwundenen Partnern.

»Kevins waren noch nicht allzu viele da. Die kann ich, glaub ich, an einer Hand abzählen. Schräge Namen sind immer gut für einen Lacher auf der Station, kannst mir glauben. Letztens war ein Isidor dabei. Und letztes Jahr die Izmir.«

»Echt? Izmir?« Dass jemand nach einer Stadt benannt wird, ist schon eher selten. Außer, man ist Spross von einem amerikanischen Popstar oder Hotelbesitzer und trägt den Namen »Paris«. Aber wer ist das schon? »Izmir, wie die Hafenstadt in der Türkei?«

Die Tante Zenzi nickt und klaubt den zweiten Montag aus dem Riesenhaufen. »Also bei der Izmir haben wir alle geglaubt, die wird gar nimmer. Ihr Ehemann hat sie ja halberts zerlegt, der jähzornige Macho. Der war gründlich, aber hallo! Hirnaustritt, zertrümmerte Knöchel, gebrochene Rippen … Halbtot haben sie uns die Izmir gebracht. Aber nach ein paar Operationen und einem halben Jahr künstlichem Tiefschlaf ist sie wieder munter geworden, und zwar ganz von allein. Von da an war ihr Gehirn auf Neustart programmiert. Wahrscheinlich eine Art unbewusster Selbstschutz. Tabula rasa, sozusagen. Sie hat alles neu lernen müssen: essen, gehen, sprechen. Aber das Witzige war, dass die auf einmal im ärgsten Salzburger Dialekt geredet hat, obwohl sie vorher kaum ein deutsches Wort verstanden hat. Und dafür war alles Türkische weg. Die hat echt ihre ganze Vergangenheit hinter sich gelassen. Aber unbewusst, verstehst? Die hat nicht einmal mehr gewusst, dass sie selber Türkin ist. Quasi kompletter Neuanfang. Und ganz egal, was man sie gefragt hat, sie hat auf alles »Wurscht« gesagt. War auf einmal ihr Lieblingswort. Und drum war sie für uns nur mehr die ›Izmir Wurscht‹.«

»Und ihr Mann – was ist mit dem passiert?«

»Na ja, den hat’s natürlich schon ordentlich gefressen. 15 Jahre wegen versuchtem Mord. Eh viel zu wenig. So einer, der gehört ja beim Zipfel aufgehängt, wennst mich fragst.«

Der Krankenhausalltag härtet ab, eindeutig. Aber eigentlich wollte ich ja etwas ganz anderes von ihr wissen. »Der Kevin, von dem ich rede, hatte einen Baustellenunfall.«

»Hm …« Die Tante Zenzi runzelt die Stirn und schaut konzentriert aus dem Fenster. »Ja, da war was. Ist noch nicht allzu lang her. Vielleicht ein Jahr. Der Kevin … strammer Bursche. Maurer, glaub ich. Wieso fragst du?«

So direkt bin ich als Sprechstundenhilfe nicht an die ärztliche Schweigepflicht gebunden, finde ich. Also erzähle ich die Haubinger-Story, und zwar in der Deluxe-Version mit allen pikanten Details. Aber Tante Zenzi sagt nur:

»Massiv gesteigerter Sexualtrieb. Kann vorkommen, wenn die zuständigen Teile im Gehirn verletzt werden. Und übersteigertes Selbstbewusstsein sowieso. Alles schon dagewesen. Da denken die Mannsbilder dann nur mehr ans Rammeln. Fast schon gefährlich, wenn die in die freie Wildbahn entlassen werden.«

Mittlerweile haben alle Socken einen passenden Partner gefunden.

»Kenn ich aus meiner Zeit als freiwillige Helferin im Frauenhaus. Das ist ein echtes Problem, wenn die Männer nur mehr mit der Hauptsach denken, verstehst. Wie die Viecher. Und wenn sie nicht kriegen, was sie wollen, dann hauen sie einfach zu. Krankhaftes Sucht-Rammeln. Was die alles anrichten können, frage nicht. Die brauchen noch einmal einen ordentlichen Tetscher auf den Hinterkopf, damit sie wieder normal werden. Aber mich fragt ja keiner.«

Wir essen dann – als Belohnung für die erledigte Sockengeschichte – noch ein bisserl was von der herrlichen Kastanientorte.

Später, als Tante Zenzi schon wieder zu Hause ist und ich die Socken in die jeweiligen Laden räume, denke ich über die Pechtls nach. Der Vater: aktive Nervensäge und pensionierter Jurist. In seiner Berufszeit Sachverständiger bei einer Versicherung, zuständig für Baurecht. Der Sohn: gelernter Maurer, jahrelang auf Baustellen tätig, nach Unfall aber nur mehr überschaubar intelligent. Ebenso hoch triebgesteuert wie verschuldet. Erschnackselt sich das Vertrauen wohlhabender älterer Damen, um sie später zu erpressen und mit ihrem Geld seine Schulden zu tilgen. Denn dass die Frau Haubinger kein Einzelfall in Kevins Sündenregister ist, davon bin ich fest überzeugt. Nur dass sie möglicherweise die Einzige war, die sich getraut hat, darüber zu reden. Allerdings: Womit genau will der Kevin die Haubingers eigentlich erpressen? »Legale Grauzonen auf Baustellen«, was könnte damit gemeint sein? Die lädierte Frau Haubinger kann ich informationstechnisch nicht mehr anzapfen. Den Zeitpunkt hab ich verpasst. Nein, eigentlich war er nie wirklich da. Und wer weiß, vielleicht kennt sie sich ja im Baugeschäft auch gar nicht gut genug aus, um die Tragweite des Ganzen abschätzen zu können? Wer allerdings auf jeden Fall etwas von Baustellen versteht, das ist der Laurenz.

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