Europäische Regionalgeschichte

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The region is not only a geographically defined zone of work and production. It is not only a popular repository for language, traditions, folklore, and religion. The region is also defined by the existence of juridical, political, ecclesiastical, and administrative structures that have affected the lives of people over centuries through a plethora of rules and practices which range from marriage to divorce, from crime to taxation, from legitimacy to inheritance, from education to health, from voting to minority rights (Jacobson et al. 2011, 55).

Es bleibt ein letzter in der Geschichtswissenschaft beheimateter Regionsbegriff anzusprechen. Es handelt sich um das „Land“ in der „Landesgeschichte“.

Das Land der Landesgeschichte

Die fachliche Diskussion der letzten dreißig Jahre, die darum kreist, welches Verständnis von Land die landesgeschichtliche Forschung hat, dokumentiert viele divergente Positionen, Perspektiven und forschungspraktische Entscheidungen, die zu diskutieren hier zu weit führt. Etwas verkürzt formuliert kann die Sache wie folgt auf den Punkt gebracht werden: Es gibt die Traditionslinie, die auf die historische Geografie und die historische Landeskunde zurückführt, und damit auf Namen wie den schon angesprochenen Friedrich Ratzel oder Rudolf Kötzschke (1867–1949) mit einem sehr differenzierten sozionaturalen Landesbegriff, der in mancher Hinsicht auf eine Art Umweltgeschichte avant la lettre hinausläuft. Und es gibt eine stärker politisch-herrschaftsgeschichtliche Orientierung, die sich entweder an historischen Territorien orientiert, wie den vielen Fürstentümern des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, oder die ganz pragmatisch – und oft ohne dies kritisch zu reflektieren – einfach „Bundeslandgeschichte“ (Freitag 2003, 60) betreibt. Das heißt, der hier untersuchte Bezugsrahmen ist diejenige unternationale Ebene, die in Österreich und Deutschland in Form des Bundeslandes besteht.

Dabei ist natürlich dem Hinweis des österreichischen Landeshistorikers Heinz Dopsch (1942–2014) zuzustimmen, dass die große territoriale Stabilität der meisten Bundesländer des heutigen Österreich einen landesgeschichtlichen Zugriff plausibel mache. Es gebe in Europa keinen Staat, so schrieb Dopsch (2011), dessen Länder ein derart hohes Alter und eine derart starke räumliche Konstanz aufwiesen wie Österreich (Kap. 3.1.1). So seien sowohl das heutige Niederösterreich als auch die Steiermark schon im 12. Jahrhundert voll ausgeprägte Länder gewesen.

Dass die Bayerische Landesgeschichte hier größere Probleme mit ihrem räumlichen Bezug hat, liegt auf der Hand, so ist sie ja nicht nur für das historische Altbayern zuständig, sondern auch für die vormals territorial zersplitterten Landesteile Schwaben und Franken. Nicht umsonst verfügt die Universität Augsburg über eine Professur für Europäische Regionalgeschichte, Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte, während man in Würzburg mit einer Professur für Fränkische Landesgeschichte aufwarten kann, in deren Denomination das Adjektiv „bayerisch“ gar nicht erst erscheint.

Die Region der Regionalgeschichte

Die Frage drängt sich auf, was nach den vielen Stimmen, die hier zu Wort gekommen sind, im Hinblick auf die Definition einer für die Regionalgeschichte brauchbaren Kategorie bleibt. Die gute Nachricht kommt von Řeznik (2019, 37): Gerade das „Wirrwarr“ der vielen verschiedenen funktional argumentierenden Regionsdefinitionen, die im Wissenschaftsbetrieb präsent sind, rege dazu an, „die historischen und kulturellen Formen und die Gründe dessen zu suchen und zu analysieren, was als Region fungiert“. Er selbst nimmt bei folgender Minimaldefinition seinen Ausganspunkt:

Definition Region

1) Regionen sind territoriale Einheiten, die sich aufgrund bestimmter Merkmale als relativ homogen definieren lassen.

2) Regionen sind daher abgrenzbar, obwohl die „Härte“, Eindeutigkeit und die kategoriale oder funktionale Grundlage der Grenzziehung unterschiedlich ist.

3) Region ist per definitionem keine holistische Kategorie; so lässt sich ein geschlossenes System nicht zugleich sinnvoll als Region beschreiben. Region lässt sich nicht für sich allein und aus sich selbst heraus bestimmen, sondern

4) Regionen sind nur denkbar als Teile von Systemen, in deren Rahmen sie funktional agieren, gedacht, konstruiert werden. Somit ist eine Region ein Teil eines Ganzen, ein Teil eines oder mehrerer Gefüge / Geflechte, wobei dann auch Regionen möglich erscheinen, die in der einen oder anderen Hinsicht grenzüberschreitend sind. Somit ist Region ein untergeordneter Teil eines übergeordneten Ganzen.

Mit Partikularität, Homogenität und Verflechtung sind hier Aspekte angesprochen, die wohl in der regionalhistorischen Forschung auf breiten Konsens stoßen.

Aus der hier vorgenommenen Sichtung historiografischer Zugänge zum Regionsbegriff lässt sich abschließend eine Arbeitsdefinition ableiten:

Region – Eine Arbeitsdefinition:

Eine Region ist zum einen ein erkenntnistheoretisches und historisch-soziales Konstrukt mit flexiblen Grenzziehungen, die es im jeweiligen Kontext genau zu definieren und argumentieren gilt, zum anderen aber verdankt sie sich konkreten räumlich-materiellen Faktoren, also einem Realsubstrat mit fassbaren Auswirkungen. Eine Region ist Teil eines übergeordneten geografischen, politischen, sozioökonomischen oder ökosystemaren Ganzen und mit ihrem Außen vielseitig verflochten.

Die räumliche Ausdehnung kann über nationale Grenzen hinausgehen (Makroregionen) und Räume unterhalb der Nation wie Bundesländer oder wesentlich kleinere Einheiten wie Städte oder Dörfer (Mikroregionen) betreffen.

Konstruiert, gestaltet, inszeniert, gepflegt und gelebt werden Regionen und regionale Identitäten aktiv und passiv von individuellen (z. B. Personen aus Politik, Journalismus, Wissenschaft, Kunst oder Werbung) und kollektiven (Massenmedien, Vereine, Institutionen, Parteien, Firmen etc.) Akteurinnen und Akteuren – dies geschieht etwa in Geschichten, Liedern, Bildern etc. und wird durch Museen, Ausstellungen und Ähnliches im kollektiven Gedächtnis verankert. Von wem, weshalb und auf welchem Wege Regionen gestaltet werden, ist kontextabhängig und mitunter eine Machtfrage.

Die folgende Grafik (Abb. 4) von Ernst Langthaler (2012) veranschaulicht ein Konzept von Region, das nicht mehr von einem absoluten Raumverständnis („Containerraum“), ausgeht, sondern Region relational im Sinne einer Summe von „Orten in Beziehung“ auffasst. Er veranschaulicht eine Loslösung vom überholten absolut(istisch)en Raumbegriff und eine Annäherung an ein relationales Verständnis von Raum. Damit kommt für den Raum- bzw. auch Regions-Begriff die zentrale Komponente von (Austausch-)Beziehungen im Verflechtungsraum zum Vorschein.


Abb. 4 Die Region: Vom Behälter- zum Verflechtungsraum (Quelle: Langthaler 2012, 33)

Literaturtipps

Jagodzinski, S., Kmak-Pamirska, A. & Řezník, M. (Hg.). (2018). Regionalität als historische Kategorie: Ostmitteleuropäische Perspektiven. Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau: Bd. 37. fibre.

Stauber, R. (2009). Regionalismus. In F. Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit:

Band 10: Physiologie – Religiöses Epos (S. 858–869). J. B. Metzler.

Werlen, B. (2008). Sozialgeographie: Eine Einführung (3. Aufl.). UTB Geographie,

Sozialwissenschaften: Bd. 1911. Haupt; UTB.

2Übersetzung (Caesar 2014 – Reclam): Von Auximum aus drang Caesar weiter vor und durchquerte in Eilmärschen das ganze picenische Land. Alle Praefekturen dieses Gebietes nahmen ihn mit größter Bereitwilligkeit auf und unterstützten sein Heer mit allem Notwendigen. […] In gleicher Weise zog er, soweit er konnte, aus den umliegenden Gegenden Kohorten zusammen, die aufgrund der pompeianischen Aushebungen gebildet worden waren.

3. Regionalgeschichte: Gegenstände, Perspektiven, Herausforderungen

3.1 Regionalgeschichte als …

3.1.1. Politikgeschichte

Von Nationen, Regionen und Peripherien

„Bayerischer Frust: Passau will zu Oberösterreich“ – Das verkündete Der Standard im Jänner 2011 (Der Standard, 22./23. 01. 2011, 17). Im südostbayerischen Städtchen Passau schlugen um den Jahreswechsel 2010/11 die Emotionen hoch, als ein von der Landesregierung eingesetzter „Zukunftsrat“ vorschlug, Investitionen verstärkt auf die Ballungsräume bzw. „Leistungszentren“ zu konzentrieren. Periphere Regionen sollten sich dagegen ökonomisch umorientieren. Ein Passauer Landtagsabgeordneter schlug eine Kooperation mit Österreich vor. Dabei wurde auch historisch argumentiert, denn immerhin sei Passau über Jahrhunderte hinweg wechselnde Grenzverhältnisse gewohnt. Östlich der Landesgrenze sekundierte der ORF (Österreichscher Rundfunk) mit einer Umfrage, in der sich 88,73 Prozent der befragten Oberösterreicherinnen und Oberösterreicher für eine Zugehörigkeit Passaus zu ihrem Bundesland aussprachen (ooev1.orf.at).

Das Passauer Beispiel lässt sich mit einigem Recht als provinzieller Sturm im Wasserglas abtun. Dessen struktureller Hintergrund aber ist ernst und weist auf drängende Probleme eines Europa der Regionen hin: Es sind Fragen nach der ökonomischen Existenzgrundlage peripherer Regionen im Zeichen des demografischen Wandels, es sind andernorts auch Fragen nach der Integrität von Nationalstaaten. Wie schnell regionale Separatismen Nationalstaaten bedrohlich werden können, lässt sich jüngst in Schottland oder Katalonien studieren. Die Aktivitäten der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung ließen manche Medien im Jahr 2017 gar einen „Aufstand der Regionen“ (Belgien: Katalanen zu Besuch, ardmediathek.de) befürchten – der 1967 von Robert Lafont (1923–2009) geprägte Begriff La révolution régionaliste wird immer wieder für verschiedene Kontexte aufgegriffen. Mithilfe der langen historischen Rückschau im Sinne des Münchner Historikers Ferdinand Kramer wird klar, dass sich immer wieder in der europäischen Geschichte regionale Kräfte von übergeordneter Herrschaft emanzipiert, territorial verselbstständigt und bisweilen gar imperiale Kraft entwickelt haben. Stichworte wären: der Aufstieg Roms, die Großreichbildung der Franken aus dem Pariser Becken heraus über ganz Europa oder Venedig, aber genauso die Aufstiege der Häuser Österreichs und Preußens (Kramer 2011, 3).

 

Nationalismus und Regionalismus

Nationen und Regionen müssen nicht unbedingt als konkurrierende Konzepte begriffen werden, auch wenn es diese Variante eines Konkurrenz- und Konfliktverhältnisses genauso gibt. In vielen Fällen wird nur eine Autonomie innerhalb des Staatsgefüges erzielt, nicht aber eine Selbstständigkeit. Peter Haslinger urteilt, „dass wir regionale und nationale Identifikation als kompatible integrative Konzepte begreifen können, die in den meisten Fällen aufeinander aufbauen“ (Haslinger 2003, 268). In dem Fall übertragen eine Region und ihre Repräsentantinnen und Repräsentanten „die Souveränitätsbehauptung an die Nation, erfahren jedoch im Gegenzug eine Anerkennung als konstitutiver Teil der Nation, und zwar in einem ‚nebenordnenden‘, ‚einordnenden‘ Sinn“ (Ebd.). Diese Konstellation wird aufgebrochen, wenn sich Bevölkerungsgruppen bzw. Regionen dem staatlichen Imperativ widersetzen und eine eigene Staatlichkeit einfordern.

Durch den staatsnationalen Fokus geraten europäische Klein- und Zwischenräume sowie (periphere) Regionen schnell aus dem Blickfeld (Ther 2003, XI). Die vermeintliche nationale Homogenität gerät aber bei einem Blick auf die Regionen, in denen sich die verschiedensten Einflüsse überkreuzen und vermischen, ins Wanken und liefert gänzlich andere Bilder. Philipp Ther bringt ein anschauliches Exempel:

„In den kartographischen Darstellungen Europas der gängigen historischen Atlanten wird das Problem, das sich damit verbindet, auf abstrakte Weise deutlich. Die modernen (National)Staaten sind in der Regel in einer Farbe verbildlicht, es wird also eine hohe sprachliche und ethnische Homogenität suggeriert“ (Ebd., IX).

Dabei konnte in zahlreichen Regionen und Rand- oder Grenzgebieten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein keine klare Zuweisung der Bevölkerung zu einer Nationalität vorgenommen werden.

Traditionelles Landesbewusstsein

Lange Traditionen, historisch gewachsene Identitäten oder Identitätszuschreibungen unterhalb der Nationsebene spielen prinzipiell eine große Rolle. Auch in Österreich beruft man sich, zum Beispiel, gerne auf eine lange Ländertradition, auf (Bundes)Länder, die – im Gegensatz zu Deutschland, wo die heutigen Bundesländer fast nirgends den historischen Ländern entsprechen – bis weit ins Mittelalter zurückreichen. So betonte der Landeshistoriker Heinz Dopsch im Jahr 2000: „Der fast unveränderte Bestand der österreichischen Länder vom Mittelalter bis in die Gegenwart hat zu einem ausgeprägten Landesbewusstsein geführt“ (Dopsch 2000/01, 75) (Kap. 2). Diesen starken Begriff der Länder einfach durch den Begriff der Regionen ersetzen zu wollen, erschien ihm zwar kontraproduktiv, doch verortete er andere, spezifische Typen von Regionen.

Regionstypen: Viertel, Gaue & Co.

Das sind zum Beispiel: die „Viertel“ (Mühl-, Inn-, Hausruck-, Wald- oder Weinviertel), die Salzburger Gaue (Flachgau, Tennengau, Lungau, Pongau, Pinzgau), Tourismusregionen wie das Salzkammergut, oder Grenzregionen (Innviertel–Bayern, Salzburg– Bayern etc.), Tallandschaften wie das Kärntner Lavanttal oder auch die traditionellen Gliederungen in „Ober-“ und „Unter-“ / „Nieder-“ (Ober- und Niederösterreich, Ober- und Unterkärnten, Ober-, Mittel- und Untersteiermark etc.) (Ebd., 75–76). Wenngleich sich die regionalhistorische Forschung keineswegs auf solche Typen alleine konzentrieren muss oder sollte, so bieten sie doch ein reiches Betätigungsfeld, vor allem auch für die von Dopsch geforderte Vergleichende Landesgeschichte.

Mit einem vergleichenden und regionalhistorischen Zugang und einer Anbindung an diese Tradition der Länder und Regionen lässt sich etwa auch die Geschichte der NS-Gaue untersuchen. Die nationalsozialistischen Gaue können dabei als „regionale Mittelinstanzen“ betrachtet und hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Funktionieren des Gesamtsystems der NS-Diktatur untersucht werden (John, Möller & Schaarschmidt 2007).

Klassische und Neue Politikgeschichte

Staaten, Großmächte, Regierungen

Anhand dieser Beispiele zeigt sich eine Tendenz der politikhistorischen Ausrichtung. Mit dem Begriff der Politikgeschichte sind vor allem Staaten, Großmächte, Regierungen und deren Repräsentantinnen und Repräsentanten sowie politische Ideen konnotiert. Natürlich gehören diese Aspekte zu einem Schwerpunkt der Disziplin, doch handelt es sich dabei nicht um das einzige Themenfeld. Die klassische Politikgeschichte der staatlichen Innen- und Außenpolitik und der „Männer, die Geschichte machten“, wurde seit den 1970er-/1980er-Jahren um vielseitige Perspektiven und Inhalte erweitert. So kamen etwa aus der feministischen Theorie und der Geschlechtergeschichte – welche die fehlende Berücksichtigung von Frauen im Politischen kritisierten – neue theoretische und methodische Ansätze, mithilfe derer Themen wie die Frauenbewegungen genauso inkludiert wurden wie Fragen nach einer geschlechtsspezifischen Logik der Politik (Frevert 2005, 13). Der „Raum“ des Politischen lässt sich aus regionalhistorischer Perspektive in seinen verschiedenen Bedeutungen in den Blick nehmen – sei es als Sozialraum, Machtraum, öffentlicher Raum etc. (Kap. 3.1.12).

Die Grenzen des Politischen sind keinesfalls so eindeutig, wie es zunächst den Anschein macht, sondern diese sind selbst einem historischen Verlauf unterworfen und abhängig von zeitgebundenen Deutungen.

Kulturgeschichte der Politik

Eine „Neue Politikgeschichte“ (Frevert & Haupt 2005) bezieht auch kulturgeschichtliche Ansätze ein, woraus etwa Thomas Mergel (2002) eine „Kulturgeschichte der Politik“ formuliert hat. Symbole und Rituale sind „genuine Dimensionen des Politischen“ (Frevert 2005, 20), auch auf der sogenannten Hinterbühne, sodass eine vermeintlich klare Trennung zwischen symbolischer und echter Politik nicht aufrechterhalten werden kann. Medien und Kommunikation sind Gesichtspunkte, die in der Politik und dem politischen Handeln eine genauso bedeutende Rolle spielen (können) wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Dabei fallen Aspekte von Macht sowie Inklusion und Exklusion auch in der kulturhistorisch orientierten Politikgeschichte ins Gewicht – wie sich bereits beim Regionalismus gezeigt hat. Die Rheinlandpolitik der 1920er-Jahre – um noch ein Beispiel zu nennen – war sowohl von geostrategischen und finanziellen als auch kulturpolitischen Argumentationen geprägt. Die These einer „kulturellen Zwischenstellung der Rheinländer“ zwischen Frankreich und Deutschland führte zu separatistischen Bestrebungen und der Idee einer „Rheinischen Republik“ (Blotevogel 2001, 63–64; Storm & Ullmann 2018).

Regionale Politikgeschichte

Nun haben sich bereits einige Schnittmengen zwischen Politik und Region gezeigt. Um noch einmal etwas konkreter nachzufragen und aufzuzeigen, wie eine Verbindung aus Regional- und Politikgeschichte aussehen kann, sollen weitere Themen einer regionalen Politikgeschichte diskutiert werden.

Die Historische Friedens- und Konfliktforschung sowie die Diplomatiegeschichte (Goetze & Oetzel 2019) stellen adäquate Rahmen bereit, um sich mit den Ursachen und Auswirkungen von Krieg und Frieden auf regionaler Ebene zu befassen (Rohrschneider 2020), denn viele Konflikte und Kriege entspringen jeweils spezifischen regionalen Rahmenbedingungen. Auch die regionale Verzahnung von Friedenskongressen und den Kongressorten und die Rückwirkungen solcher Versammlungen auf das Sozial-, Wirtschafts- und Kulturleben der Kongressorte bzw. der gastgebenden Städte und Regionen ist ein spannendes Untersuchungsfeld (Duchhardt 1999; Windler 2016).

Gegenstände, die sich außerdem geradezu aufdrängen, sind etwa regionale Effekte oder Fokussierungen staatlicher Politik sowie Rückkopplungseffekte. Die thematische Vielseitigkeit reicht dabei von den Auswirkungen imperialistischer Politik auf die Gesellschaften vor Ort, oder der Grenzziehungen und künstlichen Schaffung von Grenzen auf regionale Identitäten, über das Zusammenspiel staatlicher und sozialer Macht in den lokalen Lebenswelten, bis zur „Staatsbildung von unten“ (statebuilding from below) oder gegenwartsbezogenen EU-Regionalpolitik.

Beispiel EURegionalpolitik

Andrej Werth zeigt etwa anhand der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino (ERT) auf, dass es sich bei „der Region“ um „einen dezidiert politischen oder politisch aufgeladenen Raum“ handelt (Werth 2011, 14). Im Fall der ERT treten die eigentlichen realpolitischen Agenden der ERT – in den Bereichen Verkehr, Tourismus, Bildung und Landwirtschaft – vor der geschichtspolitisch inszenierten „‚Wiedervereinigung‘ des historischen Tirols unter dem Dach der Europäischen Union“ indes in den Hintergrund. Werth urteilt, „dass von einer Landeseinheit nicht die Rede sein kann und eine ‚europaregionale Tirolität‘ in Wahrheit identitär nicht und politisch nur schwach vorhanden ist“ (Ebd., 267). „Die ERT befindet sich also im Spannungsfeld von aktuellen europäischen Entwicklungen, realpolitischen Notwendigkeiten, aber auch historischen Reminiszenzen […]“ (Ebd., 265).

Beispiel Umweltpolitik

Für die Umweltpolitik hält Joachim Radkau fest: „Effektive Umweltpolitik bleibt in der Essenz regional“ (Radkau 2011, 585). In vielen Fällen sind es nicht die auf höchster politischer Ebene verabschiedeten Abkommen und Agenden, die unmittelbare Veränderungen bewirken, sondern „Erfolgsgeschichten“ von lokalen Projekten und regionalen Umweltinitiativen – wie beispielsweise die Umsetzung der Local Agenda 21, ein Programm für Nachhaltigkeit auf lokaler Ebene und mit aktiver Bürgerbeteiligung, das 1992 auf der Umweltkonferenz in Rio de Janeiro beschlossen wurde. „Auch in der Ära der scheinbar globalen Klimapolitik kommt es letztlich auf die nationalen und regionalen Umweltinitiativen an“ (Ebd., 608). Ein (inter)nationaler Blick auf die Umweltpolitik reicht alleine also nicht aus. Für ein vollständiges Bild braucht es genauso eine kleinräumige Betrachtungsebene.

Regional Governance

Eine lokal und regional gebundene Perspektive mit Berücksichtigung einer überregionalen Metaebene bietet der Forschungsansatz zur sogenannten Regional Governance. Der Ansatz der Global Governance Studies, im Deutschen die „Übernationale Gouvernanz-Forschung“, beschäftigt sich mit dem Regiert-Werden oder -Sein jenseits des Nationalstaates und inkludiert dabei auch die gesellschaftsübergreifende Regional Governance. Diese „richtet sich auf die Frage, wie Entwicklungsprozesse auf regionaler Ebene in einer zunehmend fragmentierten und sektoralisierten Welt verwirklicht werden können“ (Fürst 2007, 353). Es geht um ein kollektives, schwach institutionalisiertes Handeln von Akteurinnen und Akteuren, um gemeinschaftlich Lösungen zu finden. Ein mögliches Untersuchungsfeld sind Großschutzgebiete wie Biosphärenreservate (Lahner 2009) oder Naturparke. Sie sind aufschlussreiche Objekte für die Governance-Forschung, da sie auf verschiedenen räumlichen Maßstabsebenen (supranational, national, regional, lokal, grenzüberschreitend) konzipiert sind und eine Zusammenarbeit von Akteurinnen und Akteuren aus verschiedensten Bereichen (Politik, Verwaltung, Vereine, Natur- und Landschaftsschutz, Land- und Forstwirtschaft, Raumplanung, Tourismus etc.) erfordern (Pütz & Job 2016). Eine regionalhistorische Perspektive ist darüber hinaus vielversprechend, da die historisch gewachsenen und mit Bedeutungsinhalten aufgeladenen (Kultur-)Landschaften nicht ahistorisch funktionieren, sondern auf Entwicklungspfaden und identitätsstiftenden Assoziationen beruhen. Für die Regional-Governance Prozesse ist es zuweilen entscheidend, dass der betreffende Raum für die Akteurinnen und Akteure eine besondere Bedeutung hat.

 

Politikerinnen und Politiker im regionalen Fokus

Diese räumliche Komponente der Politik lässt sich zudem auf individueller Ebene nachverfolgen – anhand von Biografien. Ob nun politische „Größen“ wie Otto von Bismarck (1815–1898), Margaret Thatcher (1925–2013), Richard Nixon (1913–1994) oder unbekanntere Personen aus der Lokalpolitik wie Bürgermeisterinnen, Bürgermeister oder Gemeinderätinnen und -räte, diese können als Nacherzählungen einer politischen Karriere inszeniert, oder aber auch als Lebensgeschichten in einen räumlichen Kontext eingebunden werden. Auf diese Kombination aus Raum und Biografie wird in Kap. 3.1.11 noch genauer eingegangen.

Nicht nur der biografische Zugang ist indes vielversprechend, sondern für die historische Bildforschung können beispielsweise „politische Ikonen“ in ihrer Bedeutung für räumliche Identitäten, deren Konstruktionen, Narrative und Bildwelten untersucht werden. Bernhard Löffler schreibt der „politischen Ikonographie“ mit deren „kanonisierten Kultbildern“ eine geradezu „mythologische Verweiskraft“ zu (Löffler 2018, 35–36). Eine Möglichkeit, „regionale Eigenheiten ikonisch zu verdichten, sind Visualisierungen bestimmter Personen, vornehmlich starker bzw. markanter Herrscherfiguren, die man als Personifikationen des Landes sieht“ (Ebd., 37). In den verschiedenartigen Porträtbildern – ob nun in Gemälden, Amtsbildern, Wahlwerbungen oder vermeintlichen Schnappschüssen – werden nicht nur Personen und Symbole, sondern mit ihnen ein Land und dessen Geschichte, Kultur und Identität visualisiert und zeitübergreifend identifiziert. Eine solche Zuschreibung – vor allem von außen – muss keinesfalls uneingeschränkt positiv sein, sondern kann durch politische Diffamierung eine negative Identifikation von Personen mit einer Nation, einem Land oder einer Region nach sich ziehen.

Fazit

Egal ob nun „große“ und „kleine“ Politikerinnen und Politiker, Nationen, Regierungen, staatliches Handeln, Institutionen oder politische Ideen – werden sie durch die regionale bzw. regionalhistorische Perspektive betrachtet, versprechen sie neue Erkenntnisse für die Politikgeschichte, für die Geschichtswissenschaft und vor allem auch für die politische Diskussion der Gegenwart. Bei drängenden aktuellen Fragen wie dem Verhältnis von Nation, Region und Peripherie – wie sich am Beispiel des Regionalismus gezeigt hat – oder bei hochaktuellen Fragen der Umweltpolitik müssen den (inter) nationalen und globalen unbedingt kleinräumige Betrachtungen anbei gestellt werden.

Von der Staats- bis zur Erinnerungspolitik

Der Begriff des Politischen reicht von der klassischen Staatspolitik bis zur kulturellen Erinnerungs-, Geschichts- und Vergangenheitspolitik. Immerhin ist Erinnern nicht nur ein subjektives Unterfangen, sondern hochgradig politisiert – man denke an Denkmäler, Gedenktage, Riten, Bilder, Schulunterricht usw. sowie die Erinnerung an und das Anerkennen von Großverbrechen des 20. Jahrhunderts, die nicht selten mit Reparationen einhergehen (François et al. 2013). Selbst die Wissenschaft war (und ist) nicht immer gänzlich frei von politischen Dimensionen – wenn es zum Beispiel um Landesidentitäten oder „Meistererzählungen“ geht (Reinle 2018).

Politikwissenschaftliche Fragen, wie „Wer entscheidet über die Auswahl öffentlich präsenter Gedächtniselemente, aus welchem Interesse werden bestimmte Erinnerungen wachgehalten und andere vergessen?“ (Kohlstruck 2004, 176), verlaufen insbesondere auf nationaler und regionaler Ebene.

Zum Abschluss noch ein Beispiel: Die Streitfrage, wie und von wem das sogenannte Hitlerhaus bzw. Hitler-Geburtshaus im oberösterreichischen Braunau am Inn genutzt werden sollte, war in den letzten Jahren nicht nur eine kontinuierliche Schlagzeile in den Medien, sondern ein nicht unerhebliches Politikum – von lokalem bis nationalem und parteipolitischem Interesse. Im Juni 2020 erfolgte die Entscheidung, die Polizei in das Gebäude einzuquartieren, den vor dem Haus positionierten Mahnstein ins Museum zu verlagern und das Haus somit zu „neutralisieren“. Nach wiederholten Protesten wurde schließlich aber entschieden, dass „der Stein bleibt“ und eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der NS-Opfer in Braunau angestrebt werden soll (Ebner, Hitler-Geburtshaus, ooe.orf.at; Der Stein bleibt, meinbezirk.at). Ob, wo und in welcher Form an Vergangenes offiziell erinnert wird, ist und bleibt politisch.

Literaturtipps

Cole, L. (Hg.). (2007). Different Paths to the Nation: Regional and National Identities in Central Europe and Italy, 1830–70. Palgrave Macmillan.

Huovinen, A. & Sáez-Arance, A. (2000). Integration der Regionen, Vernetzung der Eliten: Perspektiven der Regionalgeschichte in Spanien (1750–1850). In S. Brakensiek & A. Flügel (Hg.), Regionalgeschichte in Europa: Methoden und Erträge der Forschung zum 16. bis 19. Jahrhundert. Forschungen zur Regionalgeschichte: Bd. 34.Ferdinand Schöningh.

Werth, A. (2011). Raum – Region – Tirol: Die (De-)Konstruktion politischer Räume am Beispiel der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino. Marie Jahoda sozialwissenschaftliche Studien: Bd. 4. Peter Lang.

3.1.2. Mikrogeschichte

Für und Wider der Mikrogeschichte

Definition und Kritik

Der Historiker Stefan Jordan bietet in seiner UTB-Einführung Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft folgende Definition von Mikrogeschichte:

Als Mikrohistorie oder Mikrogeschichte bezeichnet man eine Konzeption von Geschichtswissenschaft, die ihr Interesse auf besonders kleine Forschungsgegenstände richtet (z. B. Geschichte eines einzigen alltäglichen Gerichtsprozesses, Geschichte eines gewöhnlichen Tags im Leben eines gewöhnlichen Menschen). Im Gegensatz zu einer Makroperspektive, die auf große geschichtliche Zusammenhänge blickt, konzentriert sie sich auf eng begrenzte Forschungsfelder, verfolgt jedoch damit ein ähnliches Ziel, indem sie aus der Betrachtung des Kleinen Aufschlüsse über die Gestalt des Großen zu gewinnen versucht (z. B. aus der Geschichte eines Gerichtsprozesses über einen Diebstahl generelle Aussagen über solche Delikte und Prozesse). Damit unterscheidet sie sich von der Geschichte kleiner Räume (z. B. Lokal- und Regionalgeschichte) (Jordan 2018, 157).

Davon, dass wir, die Autorin und der Autor dieses Buches, den letzten Satz dieser Definition nicht unterschreiben würden, handelt dieses Kapitel. In den folgenden Zeilen versuchen wir aufzuzeigen, dass wir zwar nicht dem bereits eingangs von Miloš Řezník adressierten Missverständnis (Kap. 1.2) einer vermeintlich selbsterklärenden Überschneidung zwischen Regionalgeschichte und Zugängen wie der Alltagsgeschichte und Mikrogeschichte aufsitzen, aber wir wollen zeigen, dass Mikrogeschichte als regionalhistorischer Zugang großes Potenzial verspricht, wenngleich sie für die Regionalgeschichte ihre ganz eigenen Fragen und Probleme aufwirft.

Beispiel Unterfinning

Der Historiker Rainer Beck publizierte 1986 die Studie Naturale Ökonomie. Unterfinning: Bäuerliche Wirtschaft in einem oberbayerischen Dorf des frühen 18. Jahrhunderts (Beck 1986). Einige Jahre später, 1993, veröffentliche er seine Forschungen noch einmal, nun etwas populärer und sprachlich gefälliger unter dem Titel Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne (Beck 1993). Beck stellt der Einleitung seiner Studie ein Zitat des französischen Historikers Fernand Braudel (1902–1985) voran: „Alltag ist gleichbedeutend mit winzigen Fakten, die räumlich und zeitlich kaum ins Gewicht fallen. Je enger der Blickwinkel, desto besser die Aussicht, in den eigentlichen Bereich des materiellen Lebens vorzustoßen“ (Zitiert nach Beck 1986, 9). Das ist durchaus programmatisch für Becks Vorgehen zu verstehen, in dem er einen sehr engen Blickwinkel wählt. Er sieht sich ein einziges Dorf an, Unterfinning, und das tut er sehr genau. Basierend auf der Auswertung einer archivalisch überlieferten Steuererhebung des Jahres 1721, einer Familienrekonstruktion aus den Kirchenbüchern für die Jahre 1671 bis 1850 und einer Besitzrekonstruktion für die Jahre 1721 bis 1820 kann er alle rund 250 Einwohnerinnen und Einwohner, 53 Häuser und über 1000 Flurparzellen nicht nur Besitzenden zuordnen, sondern er versucht möglichst genau zu rekonstruieren, wie das Dorf funktionierte, wie es wirtschaftete, wie es unter den Bedingungen der vormodernen sogenannten Subsistenz-Landwirtschaft überlebte, welche klimatischen Rahmenbedingungen die Situation bestimmten, welche Landnutzungsoptionen eingeschlagen wurden, welche Feldfrüchte angebaut wurden, welches Handwerk im Dorf prägend war usw.