Kreuzfeuer

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»Irgendetwas stimmt bei alldem nicht«, sagte McMillan.

Kate schüttelte den Kopf. »Ich muss sagen, ich weiß beim besten Willen nicht, worauf Sie hinauswollen.« Sie schaute auf den Kassettenrecorder, dann fuhr sie fort. »Natürlich müssen Sie jeden Schusswechsel im Dienst genauestens prüfen. Aber dies hier ist eine sonnenklare Sache.«

»Na schön«, sagte McMillan aufgeschlossen, »Sie hatten ein paar Tage Zeit, um alles durchzudenken. Erklären Sie uns, wie sonnenklar es ist.«

Sie wies auf die Zeichnung. »Wir standen alle bereit, mit einem vorschriftsmäßigen Haftbefehl. Sergeant Hansen bat um Einlass in Apartment 9. Der Täter kam aus Apartment 7 hinter uns auf den Gang. Ein Cousin wohnt in diesem Apartment. Das konnten wir nicht wissen. Crockett hatte eine Waffe, er spannte den Hahn, ich hörte das. Ich drehte mich um, er schoss mir in die Schulter, Hansen und Torrie Holden erschossen Crockett.«

McMillans Gesichtsausdruck blieb unverändert. »Sofern das möglich ist, würden Sie sagen, dass dies ein guter Schusswechsel war?«

Kate seufzte, schaute hinunter auf ihren nutzlosen linken Arm. »Darian Crockett war siebzehn Jahre alt.«

»Ganz genau siebzehn«, sagte Phillips. »Es war sein Geburtstag. Das weiße Hemd war ein Geschenk seiner Mutter.«

Er klang beinahe väterlich, mit einem traurigen Unterton. Kate sah ihn scharf an und bemerkte, dass er einen Ehering trug.

»Beantworten Sie die Frage, Detective«, sagte McMillan. »War es ein guter Schusswechsel?«

Kate fiel auf, dass McMillan ebenfalls einen Ehering trug. Sie fragte sich, was für eine Frau einen so roboterhaften Mann heiraten mochte und ob er Kinder hatte. Sie sagte: »Alles lief vorschriftsmäßig. Crockett feuerte seine Waffe auf uns ab. Also, vergleichsweise – wenn es so etwas überhaupt geben kann – war es wohl ein guter Schusswechsel.«

»Was, wenn ich Ihnen sage, dass es nicht Crockett war, der Sie angeschossen hat?«

Sie saß vollkommen reglos da.

»Der Schuss ging durch Ihre Schulter. Der Notarzt sagte uns, dass die Kugel hinten eingetreten und vorn wieder herausgekommen ist. Holden, Hansen und Perez bestätigen Ihre Aussage in dem Punkt, dass sie alle hinter Ihnen standen, als Sie den Täter vor sich hatten. Sie wurden von einer Kugel aus den eigenen Reihen getroffen.«

Sie war fassungslos. Es war ihr keine Sekunde in den Sinn gekommen, die behandelnden Ärzte bezüglich der Beschaffenheit ihrer Wunde zu befragen. »Sie wollen mir sagen, dass Fred Hansen oder Torrie Holden mich angeschossen haben?«

»Oder Alicia Perez. Trotz Ihrer Maßnahme hat auch sie ihre Waffe abgefeuert.«

»Wissen die drei davon?«

»Natürlich wissen sie das. Sie sind ein wenig besorgt, wie Sie wohl auf diese Information reagieren werden. Also«, McMillan senkte die Stimme und fragte im James-Cagney-Ton: »Werden Sie sich rächen?«

»Die sind so gut wie tot«, parierte Kate unverzüglich.

McMillans anerkennendes Lachen war leise, tief und seltsam sympathisch.

Sie versuchte noch, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. »Wer –?«

»Wir wissen noch nicht, wer Sie angeschossen hat. Wir haben den gesamten Gang nach Kugeln abgesucht. Die Tests laufen noch. Alle drei haben mit einer Neunmillimeter geschossen. Crocketts Waffe war eine Achtunddreißiger, wie Ihre.«

»Schätze, ich bin ein wenig altmodisch«, murmelte Kate. Die Smith & Wesson war immer ihre einzige Waffe gewesen; sie hatte nicht mitgezogen, als die Kripo zu immer stärkerer Feuerkraft überging, um mit der Aufrüstung auf den Straßen Schritt zu halten. Nachdenklich sagte sie: »Ich weiß nicht, warum ich so überrascht bin. Ich weiß nicht, warum ich diese Möglichkeit nie in Betracht gezogen habe … Ich schätze, man geht immer davon aus, dass es der Schurke gewesen sein muss. Von den eigenen Leuten angeschossen werden ist … allerdings … tja, ich stand genau im Kreuzfeuer.«

McMillan lehnte sich vor. »Jetzt, wo Sie davon Kenntnis haben – sind Sie hundertprozentig sicher, dass es ein Versehen war?«

Sie setzte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Meinen Sie das im Ernst? Wollen Sie andeuten, dass einer meiner eigenen Leute die Gelegenheit genutzt hat, eine Rechnung zu begleichen?«

»Ihr Vietnam-Veteranen kennt das doch, wenn ein Kamerad durch eigene Granaten zerfetzt wird«, sagte Phillips und trommelte mit seinen stumpfen Fingern auf die Tischplatte, bis McMillan die Stirn runzelte und in Richtung des Kassettenrecorders nickte.

»Ich kann Ihnen mit ziemlicher Bestimmtheit versichern, dass es nichts dergleichen war«, sagte Kate sachlich.

»Man weiß nie«, sagte McMillan. »Jeder Mensch hat Feinde.«

Und Ihre könnten in einem Doppelring dieses Gebäude umstellen, dachte sie. Niemand vom OIS würde jemals einen Beliebtheitswettbewerb gewinnen.

McMillan fragte: »Wie empfinden Sie jetzt Ihrer Partnerin gegenüber? Ganz zu schweigen von Hansen und Perez?«

»Ich wünschte, irgendwer von ihnen hätte besser gezielt«, sagte Kate.

McMillan gönnte ihr wieder ein kleines Lachen. Er klopfte auf die oberste Akte des Stapels vor ihm. »Vierzehn Jahre bei der Mordkommission, kaum Beschwerden. Viele Belobigungen.«

McMillan schien ihre trockenen Scherze zu mögen, deshalb versuchte sie es weiter. »Ich bin nur die nette Allerweltspolizistin von nebenan.«

Aber McMillan reagierte nicht darauf. Er lehnte sich vor und schaltete den Kassettenrecorder ab. »Sie haben verdammtes Glück. Die haben endlich aufgehört, uns jedes Mal zu holen, wenn ein Polizist den Abzug durchdrückt, ganz gleich ob dabei jemand getroffen wird. Die Abteilung Internal Affairs steckt trotzdem bis zum Hals in hirnlosen Beschwerdeanträgen. Heutzutage bleibt niemand davon verschont.«

Kate nickte. Beschwerden von Zivilisten gegen Streifenpolizisten und Ermittlungsbeamte häuften sich auf allen Ebenen. In diesen Zeiten beständiger politischer Schadensbegrenzung – Rodney King und O.J. Simpson hatten ihre Spuren hinterlassen – war das Los Angeles Police Department gewappnet, aber Beschwerden über Polizeibeamte waren eine heikle Sache, und die Internal Affairs-Abteilung ging selbst den hanebüchensten Anschuldigungen nach. Manche Leute nutzten den Beschwerdeweg auch für einen Rachefeldzug gegen die Polizei. Wurde in der polizeilichen Personalakte eine Untersuchung erwähnt, so haftete das den Betroffenen für immer an, selbst wenn er oder sie entlastet wurde.

Phillips sagte: »Sie haben sich nicht ein einziges Mal wegen Überlastung beurlauben lassen.«

»Sie wissen doch, was wir bei der Mordkommission für eine ruhige Kugel schieben«, sagte sie. Was wollte er von ihr hören? Ihre Schulter fing an zu schmerzen.

»Ja, Sie sollten mal die Jungs in unserem Dezernat hören«, murmelte McMillan.

Kate ging darauf nicht weiter ein, das musste sie auch nicht. Es war bekannt, dass die Moral der Beamten des Elite-Morddezernats im Parker Center absolut im Keller war nach dem Rundumschlag der Verteidiger in der O.J. Simpson-Sache gegen die zuständigen Ermittler.

Phillips schaltete den Kassettenrecorder wieder ein. »Sie sind schon so lange Polizistin, und nicht wenigstens ein Mal wegen Überlastung beurlaubt?«, sagte er.

Tja, dachte sie bissig, da hast du eine der drei selbstverständlich minderwertigen Frauen, die am Schusswechsel in der Gramercy Street beteiligt waren.

»Die Straßen sind ziemlich gefährlich heutzutage«, sagte Phillips.

Diese Bemerkung verdiente keine Antwort. Und der Schmerz in ihrer Schulter wurde zusehends stärker, und sie würde lieber sterben als vor diesen beiden Knilchen ein Schmerzmittel einnehmen.

»Sie wirken etwas defensiv, Detective.«

»Natürlich sind die Straßen gefährlich«, bellte sie. »Denken Sie, ich verbringe meine Tage in einer heimeligen Schreibtischschublade?«

»Sie sagen Dinge, die sich von selbst verstehen, Detective.«

»Darin haben Sie viel mehr Übung als ich.«

McMillan nahm lächelnd eine Akte, öffnete sie und schrieb etwas hinein. »BSS wird eine weitere Beurteilung Ihrer Person liefern.«

»Was soll das heißen?«, wollte sie wissen. »Was versuchen Sie mir da anzutun?«

»Wir versuchen, uns Ihrer anzunehmen, Detective. Vielen Dank für Ihre Zeit. Sie bleiben weiterhin bei voller Bezahlung beurlaubt.«

»Wie lange?«

Er sah sie ausdruckslos an. »Bis Sie wieder zum Dienst bereitgestellt werden.«

McMillan schaltete den Recorder aus und stand auf. Phillips beeilte sich, es ihm nachzutun, und sammelte hastig die Akten ein.

Kate blieb am Tisch sitzen, während McMillan und Phillips das Büro verließen.

Ihren nächsten Termin hatte sie bei der Abteilung für Verhaltensforschung und therapeutische Dienste, wo sie psychologische Betreuung erhalten würde. Scheiße, dachte sie, ein Seelenklempner.

3. Kapitel

Die Therapeutin, eine Afroamerikanerin, erhob sich hinter ihrem Schreibtisch zu imposanter Größe und kam mit großen Schritten auf Kate zu, um sie zu begrüßen. »Ich bin Dr. Calla Dearborn. Aber nennen Sie mich Calla. Soll ich Kate sagen? Wie werden Sie am liebsten genannt?«

Kate antwortete der Form halber »Kate ist in Ordnung«, schüttelte ihr fest die Hand und ließ ihren Blick durch das Büro wandern, um ihre Erwartungshaltung der Umgebung anzupassen. Sie war sicher gewesen, dass der Therapeut »irgend so ein dürrer kleiner gefühlsduseliger Hohlkopf« sein würde, wie sie zu Aimee gesagt hatte.

Das Büro war ästhetisch höchst ansprechend in verschiedenen Blau- und Dunkelbrauntönen gehalten, denen man die fehlenden Mittel nicht ansah. Der Schreibtisch aus Walnussfurnier und das Sideboard passten optisch perfekt zu Aktenschrank, Couch- und Beistelltisch; das blaue Sofa passte zu den beiden Sesseln, deren Bezug den Anschein von Korbgeflecht gab; eine hohe, gesunde Birkenfeige stand in einem weißen Keramiktopf auf einem braun getupften Berberteppich neben einem Fenster mit Blick auf einförmige Dächer und triste Fassaden. Bis auf ein großes grau-blaues abstraktes Aquarell und ein halbes Dutzend Diplome und Zertifikate an der Wand hinter dem Schreibtisch gab es kaum etwas, das Rückschlüsse persönlicher Natur auf die Inhaberin dieses Büros zuließ.

 

»Bitte nehmen Sie Platz, wo Sie wollen, Kate.«

Sie fragte sich, ob die Frau von ihr erwartete, dass sie sich ganz in Beichtstimmung auf der Couch ausstreckte. Sie nahm ihre Umhängetasche von der bewegungsunfähigen linken Schulter und warf sie in eine Ecke des Sofas, ehe sie einen mit Rollen versehenen Sessel heranzog und sich setzte. Als sie an den Schreibtischbeinen dunkle, stumpfe Stellen entdeckte, fragte sie sich, ob das Trittspuren waren.

Calla Dearborn machte es sich auf ihrem Stuhl mit hoher Rückenlehne bequem, öffnete eine schwarze Ledermappe, in der ein gelber linierter Schreibblock lag, und sagte: »Zuallererst muss ich Ihnen einige Informationen darüber geben, warum Sie hier sind und was Sie von unseren Unterredungen erwarten können.«

Kate nickte. Die einzige Information, die sie wirklich brauchte, war, wie lange sie diesen Quatsch über sich ergehen lassen musste.

»Ich habe natürlich gehört, was geschehen ist. Wenn Sie genauso sind wie die meisten Polizeibeamten, dann möchten Sie sicher nicht hier sein, und vielleicht gehören Sie zu den Menschen, die ein so traumatisches Erlebnis schnell wegstecken. Aber wir haben durch unsere Arbeit mit Polizeibeamten beträchtliche Erfahrungen sammeln können und wissen, dass die seelische Belastung nach einem traumatischen Erlebnis ganz normal ist, dass es dabei viele Abstufungen und Symptome gibt und die Reaktion durchaus mit einiger Verzögerung einsetzen kann. Deshalb ist es für Sie wichtig, so schnell wie möglich über den Vorfall zu reden, damit Sie lernen, Ihre eigenen Reaktionen zu erkennen und zu verstehen. Sie sind von Berufs wegen Expertin in Strategien physischen Handelns. Was wir hier zu erreichen hoffen, ist, Ihnen Strategien emotionaler Bewältigung zu vermitteln, damit Sie bei einer verspäteten Reaktion nicht völlig aus der Bahn geraten.«

Kate nickte. Auf dem Gebiet des Traumas war sie wahrlich keine Anfängerin. Und nach den vielen Verhören, die sie durchgeführt hatte, kannte sie sich mit Psychologie auch ganz gut aus.

Dearborn fuhr fort: »Einige Reaktionen können körperlicher Natur sein. Alle Erfahrungen, die Sie in dieser Hinsicht machen, sind eine ganz normale Reaktion auf das, was Ihnen widerfahren ist. Von Übelkeit über Durchfall, Schlafstörungen und Müdigkeit bis hin zum großen Zittern. Vielleicht verspüren Sie den Drang, mehr zu essen oder mehr zu trinken. All diese Dinge sind völlig normal.« Sie sah Kate erwartungsvoll an.

»Diese Symptome habe ich alle nicht«, sagte Kate. Und wenn, würde ich es dir nicht auf die Nase binden.

»Ich bin nicht hier, um Ihre beruflichen Leistungen zu beurteilen«, versicherte Dearborn ihr. »Damit habe ich überhaupt nichts zu tun. Am Ende unserer gemeinsamen Zeit bin ich verpflichtet, Ihrem Captain einen telefonischen Bericht zu geben. Unsere Sitzungen sind in dieser Hinsicht also nicht hundertprozentig vertraulich. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich mich ihm gegenüber kurz fassen werde, nicht mehr als ein oder zwei Sätze, und selbst die werde ich Ihnen vorher mitteilen, damit wir darüber diskutieren können. Sie brauchen keine Angst zu haben, dass in diesem Büro andere Dinge gesagt werden als später Ihrem Captain gegenüber. Nachdem ich meinen mündlichen Bericht abgegeben habe, werden unsere nachfolgenden Sitzungen, sollten Sie welche wünschen, vollkommen vertraulich sein.«

Während sie nickte, dachte Kate: Ehe ich freiwillig zur Therapie gehe, gibt’s in der Hölle eine Schneeballschlacht.

Kate musterte Dearborn, als diese einen schmalen grünen Kugelschreiber aus Malachit in die Hand nahm und etwas notierte. Dunkles, mit frostigem Grau durchsetztes Haar, vielleicht fünf Zentimeter lang, umrahmte wie ein Heiligenschein das ausdruckslose, beherrschte Gesicht, das nichts preisgab als offensichtliche, oberflächliche Details. Sie war mindestens sieben bis acht Zentimeter größer als Kate und jünger, Ende dreißig vielleicht, obwohl das schwer zu schätzen war. Ihre kräftige, ordentlich gepolsterte Gestalt steckte in einem gut sitzenden karamellfarbenen Kostüm. Um den Hals hing eine dünne Goldkette. An der linken Hand, die im Augenblick den Malachitstift hielt, trug sie einen Ehering und einen bescheidenen Verlobungsring mit Diamant.

Kate sagte, wie sie hoffte, entwaffnend: »Die einzigen körperlichen Beschwerden bereitet mir meine Schulter.«

»Wie geht es Ihrer Schulter jetzt?«

»Gut«, sagte Kate nachdrücklich, denn sie wollte nicht, dass diese Frau sie wegen körperlicher Versehrtheit für dienstuntauglich erklärte. »Bin in guter Verfassung. Ich hatte Glück. Die haben gesagt, ich werde wieder so gut wie neu.«

»Das freut mich. Andere Reaktionen können kognitiver Natur sein: Geistesabwesenheit, Konzentrationsschwierigkeiten, beständiges Hadern mit dem, was passiert ist, Flashbacks, ein Gefühl von Verletzbarkeit, sich der Umgebung extrem bewusst sein, Argwohn und Misstrauen –«

Kate schüttelte den Kopf. »Nein. Nichts von alldem.«

»Träumen Sie schlecht, Kate?«

»Bisher schlafe ich ganz ausgezeichnet.«

»Ich bin froh, dass Sie ›bisher‹ gesagt haben. Ein Schusswechsel im Dienst ist besonders hart. Für manche Beamte ist es, als hätte sie ein Zug überrollt. Ins Kreuzfeuer der eigenen Reihen zu geraten macht den Fall noch prekärer –«

»Es war einfach Pech.« Und die gottverdammte Dummheit von wer immer mich getroffen hat. »Ein Unfall in Bruchteilen von Sekunden. Das ist mir bewusst«, sagte sie. »Und ich kann damit leben.« Nur nicht damit, dass ich deswegen hier hocken muss.

»Auf intellektueller Ebene können Sie das, da bin ich sicher. Aber Sie könnten trotzdem eine ganze Palette von Emotionen erleben: Kummer, Benommenheit, Angstzustände, intensivere emotionale Reaktionen auf Dinge, die Ihnen im Alltag widerfahren …« Sie hielt inne und sah Kate über die Stahlfassung ihrer Brille hinweg an.

»Sie haben Recht – es war ein schlimmes Erlebnis«, sagte Kate vorsichtig. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, das Gefühlsspektrum eines Roboters zu haben. »Aber ich scheine doch ganz gut damit klarzukommen.«

»Gewisse Reaktionen im Verhalten können sehr subtil sein. Zurückgezogenheit. Oder das Gegenextrem – das Geschehene herunterspielen, übermäßiger Tatendrang. Wutanfälle …«

Kate schüttelte den Kopf. »Bisher ist nichts dergleichen vorgekommen.«

»Kate, es ist wichtig, dass Sie eines verstehen: Sie sind nicht hier, weil Sie irgendetwas falsch gemacht haben. Jedwede Reaktion, die Sie aufgrund dieser Vorfälle erleben, ist weder falsch noch schlecht. Jedwede Reaktion, die Sie erleben, ist eine normale Reaktion auf ein anormales Geschehen. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Ich verstehe Sie.« Calla Dearborns Taktik war geschliffen gut, dachte Kate. Das Ganze glich dem Verhalten eines erfahrenen Ermittlers, der versucht, in einem Gespräch mit einem Verdächtigen eine gewisse Harmonie herzustellen.

»Ich möchte, dass Sie mir von dem Vorfall erzählen«, sagte Dearborn.

Der Vorfall. Die Attacke, die Kränkung traf Kate im Innersten und sie versuchte, ihre Wut nicht durchklingen zu lassen. »Ich bin mir ganz sicher, dass Sie bereits alles wissen. Es stand in allen Zeitungen.«

Dearborn schaute sie scharf an. »Natürlich, mit Bildern und allem. Aber nur Sie wissen, was Ihnen passiert ist, und ich würde gern in Ihren Worten hören, was Sie gesehen und gehört haben.«

Kate lehnte sich resigniert im Sessel zurück und berichtete, was auf dem Gang in der Gramercy Street geschehen war. Ihre Darstellung war identisch mit dem Bericht, den sie am Morgen McMillan und Phillips gegeben hatte.

Dearborn hörte aufmerksam zu, dann machte sie sich eine Notiz und sagte: »Wir werden auf das Geschehene später zurückkommen. Wie lange sind Sie schon bei der Mordkommission?«

»Vierzehn Jahre«, antwortete Kate, zog eine Visitenkarte aus einem Acrylhalter auf dem Schreibtisch und sah sie sich genauer an:

Calla Dearborn, Ph.D.

Approbierte Psychologin

Liz.-Nr. PSY 705536

Se Habla Español

Sie steckte die Karte in ihre Jackentasche. Nun, da Calla Dearborn Ph.D. mit den Spielregeln und mit den grundlegenden Fakten der Schießerei so weit durch war, stellte sie Fragen, deren Antworten sie aus Kates Akte kannte – was darauf hinwies, dass sie einer Standardprozedur folgte, die Kates geistige Gesundheit bestätigen sollte. Schon jetzt deutete sich an, dass Kate ein kaum zu ertragendes Verhör vor sich hatte, eine unfassliche Verletzung ihrer Privatsphäre.

»Eine rhetorische Frage«, sagte die Psychologin. »Aber irgendwo muss ich ja anfangen. Vierzehn Jahre sind eine lange Zeit für die Mordkommission.«

Kate antwortete nicht.

In Calla Dearborns dunklen Augen blitzte Belustigung auf. »Erfahrene Polizisten – ihr Leute seid so an Vernehmungen vor Gericht gewöhnt, dass ihr immer nur ganz knappe Antworten gebt. Wie viele Todesfälle, würden Sie sagen, haben Sie in diesen vierzehn Jahren erlebt?«

Wie viele Polizeibeamte haben Sie im Laufe Ihrer Karriere über heiße Kohlen laufen lassen?, wollte sie ihr entgegenschleudern. Sie sagte: »Ich weiß es nicht.«

»Dutzende?«

Kate zuckte mit den Schultern. »Sicher.« Sie hasste das. Hasste es.

»Hunderte?«

»In dieser Zeitspanne werden es logischerweise mehr als hundert gewesen sein.«

»Vielleicht zweihundert?«

Sie kämpfte mit ihrer Verärgerung. »Ich weiß es nicht.«

»Wissen Sie es nicht, Kate, oder wollen Sie es nicht sagen?«

»Ich weiß es. Ich kann nur keinen Nutzen darin erkennen, sie zusammenzuzählen.«

Die Psychologin machte sich eine so kurze Notiz auf ihrem gelben Block, dass Kate vermutete, dass sie Steno schrieb. Sie sagte: »Vielleicht wollen Sie einfach nicht.«

»Würden Sie wollen?«

»Möchten Sie bitte meine Frage beantworten?«

Möchte ich nicht. Aber habe ich eine Wahl? »Sie zusammenzählen heißt sich erinnern.«

»Warum wollen Sie das nicht?«

Gott, wie sie das hasste. Es war noch schlimmer, als sie gedacht hatte. Sie sagte: »Wären Sie so nett, mir zu sagen, wie lange das hier noch gehen soll?«

Calla Dearborn schaute auf die Uhr. »Noch fünfunddreißig Minuten. Für diese Sitzung.«

Kate gelang es, ihr Temperament zu zügeln. Sie sagte: »Ich meine, alles in allem.«

»Wann Sie Ihre Arbeit wieder aufnehmen können? Ihr Captain hätte Sie gern möglichst schnell zurück, wie Sie sich sicher denken können. Ich lege es absolut nicht darauf an, Sie von Ihrer Arbeit fernzuhalten, Kate, aber wir müssen einige Punkte abhandeln, besonders bei einem Schusswechsel im Dienst. Wir werden eine Sitzung nach der anderen angehen. Jede einzelne Sitzung wird bestimmen, wie die nächste angegangen wird.«

Kate schaute sie an, abschätzend, wie sie eine feindselige Verdächtige während eines Verhörs zu mustern pflegte.

Die Gesichtszüge, das musste sie widerwillig zugeben, waren interessant. Hohe Stirn, weiche nussbraune Haut, die auf Höhe der Wangen und der breiten Nase einen warmen rosa Schimmer bekam, dunkler in einer Hautfalte auf den Augenlidern und in den winzigen Linien, die sich später zu dauerhaften Furchen um ihren Mund vertiefen würden. Breite, volle Lippen, von blassem, pflaumenblauem Lippenstift leicht akzentuiert. Augenbrauen, als hätte eine Fingerspitze einen kaum sichtbaren Bogen gezogen, so dass die weit auseinanderstehenden schwarzbraunen Augen, grün gefleckt und von einem stählernen Brillengestell umrahmt, das Gesicht mit ihrer Intelligenz dominierten.

Die Psychologin sah ruhig zu, wie Kate sie eingehend musterte. »Sie beantworten nicht gern Fragen.«

»Sagen wir einfach, ich bin es gewöhnt, die Fragen zu stellen.«

»Sie beantworten nicht gern Fragen«, wiederholte die Psychologin. »Und Sie reden nicht gern über Ihre Arbeit.«

 

»Keine dieser Mutmaßungen ist völlig richtig«, sagte Kate liebenswürdig.

Calla Dearborn lächelte und ein winziges Grübchen erschien auf ihrer rechten Wange. »Mit wem reden Sie über Ihre Arbeit?«

»Mit vielen Leuten. Mit meiner Einsatzpartnerin. Anderen Kollegen. Mit stellvertretenden Staatsanwältinnen … Laborangestellten … mit Verwandten der Opfer …«

»Natürlich. Und privat?«

Kate knirschte mit den Zähnen. Das war der schlimmste Übergriff in ihre Intimsphäre, und das Allerschlimmste war, sie wusste nicht, ob es ihr schaden konnte, wenn oder wie sie die Fragen beantwortete. Sie zuckte die Achseln und sagte: »Mit verschiedenen Leuten.«

»Ihren Eltern?«

»Die leben nicht mehr.«

»Beide? Seit wann?«

»Seit vielen Jahren. Meine Mutter 1963, mein Vater 1977.«

Calla Dearborn schüttelte den Kopf. »Sie haben sie so jung verloren. Sie waren nie verheiratet – was ist mit Lebensgefährten? Einer festen Beziehung?«

»Was ist damit?«

»Haben Sie so etwas?«

Kate spannte sich an. »Ja.«

»Und Sie bringen die Arbeit mit nach Hause und reden darüber.«

Die Anspannung ließ nach. »Über manches schon. Über den netten Teil. Na ja, sagen wir, den nicht allzu schlimmen Teil.«

»Was ist mit Freunden? Reden Sie mit Freunden über die Arbeit?«

»Sporadisch.« Maggie Schaeffer und ein paar der Stammgäste in der Nightwood Bar standen ihrem Beruf ziemlich nonchalant gegenüber, was an ihrer gemeinsamen Vorgeschichte lag – obwohl die emotionsgeladene Ermittlung zu Dory Quillins Tod auf dem Parkplatz hinter der Lesbenbar nach all den Jahren weniger gemeinsame Vorgeschichte als vielmehr Sagengut war. Aber die Freundinnen, die Aimee mit nach Hause brachte, waren ein anderes Kaliber. Junge Frauen einer anderen Generation, die sie anstarrten wie ein interessantes Fossil. Die zaghaften Fragen nach ihrer Arbeit zielten nur auf Horrorstorys ab, und sie war überzeugt, dass sie in ihrer Abwesenheit über sie und ihren verrückten Job herzogen wie bei einem Leichenbestatter.

Calla Dearborn beendete ihren Vermerk und fragte: »Wie kommt das?«

»Wie kommt was?« Bei ihrer Träumerei hatte sie den Faden verloren.

»Wofür hat man denn Freunde? Warum teilen Sie die Tragödien, die Sie erleben, nicht mit Ihren Freunden, denen Sie etwas bedeuten – ganz zu schweigen von Ihrer Beziehung?«

»Einzelheiten meiner Arbeit sind wirklich nichts, wofür mir irgendjemand danken würde, gäbe ich sie zum Besten.«

»Ich bin sicher, dass Ihre Freunde das anders sehen.«

»Ich bin sicher, dass das stimmt. Aber sie glauben eben nur, dass sie es wissen wollen.«

»Wieso sind Sie da so sicher?«

Diese Frau war mit Absicht begriffsstutzig. Unzählige Polizisten mussten ihr diese Frage schon beantwortet haben. Kate sagte: »Vor zwei Wochen wurde ich Zeugin eines Verkehrsunfalls. Fahrerflucht, eine alte Frau Ecke Hauser und Achte Straße – vielleicht haben Sie darüber gelesen.«

Die Psychologin schüttelte mit gerunzelter Stirn langsam den Kopf.

Doch, vermutlich hast du darüber gelesen, dachte Kate. Hast die kurze Notiz über Vera Cowley in deiner L.A. Times überflogen und dann schnell wieder vergessen, so wie jeder über Greueltaten, die sein Leben nicht direkt betreffen, Oh und Ach ruft und sie dann rasch vergisst.

Kate griff tief in ihr Gedächtnis und berichtete: »Der Lieferwagen erfasste das Opfer mit einer Geschwindigkeit von 95 Stundenkilometern und schleuderte es sechzehn Meter weit. Sie wissen vielleicht, dass ein Körper sich verflüssigt, wenn er mit solcher Wucht getroffen wird. Jeder Knochen in ihrem Körper wurde gebrochen: Arme, Beine, Rückgrat, Schultern, Hüften. Ihre Haut war nur noch ein violetter Sack, gefüllt mit Knochenstücken und Blut. Ihr Gesicht war vom Asphalt völlig zerfetzt, ihr Schädel pulverisiert wie ein zerschmettertes Ei.«

Calla Dearborn sah befriedigend erschüttert aus.

Kate sagte: »Und das, sagen Sie, soll ich meinen Lieben mit nach Hause bringen.«

Ihre dunklen Augen fest auf Kate gerichtet, sagte die Psychologin sanft: »Es ist ganz schön hart, dass Sie sich so etwas ansehen müssen, Kate.«

»Dafür werde ich bezahlt.«

»Sie werden dafür bezahlt, eine schwierige Arbeit zu verrichten. Aber die Erwartung, dass Sie so schreckliche Dinge … allein tragen müssen …«

Sie sprach nicht weiter, und Kate entgegnete nichts. Was sollte sie auch sagen? Jeder Mensch redigierte und bearbeitete sein Leben, jeder. Was sie redigierte, war allein ihre Entscheidung.

Calla Dearborn hatte wieder ihr ausdrucksloses Gesicht aufgesetzt und machte eine weitere kurze Notiz. »Stehen Sie einem Ihrer Kollegen persönlich nahe?«

»Ich habe mit den meisten ein freundschaftliches Verhältnis.«

»Sehen Sie sich auch außerhalb der Arbeitszeit?«

»Das LAPD bietet alle möglichen Aktivitäten an. Sportvereine – alles vom Wettlaufen bis zum Basketball.«

»Nehmen Sie an so etwas teil?«

Kate versuchte es mit Humor und wies auf ihren bewegungsunfähigen Arm. »Im Moment nicht.« Belohnt mit einem nachsichtigen Lächeln fügte sie murmelnd hinzu: »Das sind Freizeitvergnügungen für junge Leute.«

»Darf ich das als Nein verstehen?«

»Kein komplettes Nein. Ich schwimme gern; ich sollte es öfter tun.«

»Schwimmen ist eine einsame Sportart«, kommentierte Calla Dearborn und drehte ihren Stift zwischen den Fingern, während sie Kate nachdenklich ansah.

Kate sagte gereizt: »Gelegentlich gehe ich zum Basketballspiel der Dezernatsliga«, Torrie hatte sie zum letzten Spiel mitgeschleift, »und trinke hinterher mit allen ein Bier. Unter dem neuen Regime ist das gesellige Miteinander nicht mehr so einfach.«

»Sie meinen Polizeichef Williams?«

»Nein – na ja, indirekt. Ich meine das Pilotprogramm, die neuen Arbeitszeiten.«

»Ach ja, Ihr Dezernat ist eins von den vieren in diesem Programm. Wie kommt es denn so an?«

»Die Streifenpolizisten sind begeistert – so viel Freizeit. Nur nicht von den Engpässen bei der Ausrüstung, wenn wir zusätzliche Kräfte zu einer Schicht anfordern müssen.«

Das neue sechzehnmonatige Pilotprogramm verlangte von den Streifenpolizisten, an drei aufeinanderfolgenden Tagen zwölf Stunden am Stück Dienst zu schieben, gefolgt von vier freien Tagen – ein Versuch, die Krankmeldungen zu reduzieren, die Kosten für Überstunden abzubauen, die am städtischen Etat zehrten, und vor allem der Versuch, nach den jüngsten Prozessen, die durch sämtliche Medien gegangen waren, die Moral zu verbessern. Berufsanfänger wurden ohne viel Federlesen eingestellt, doch die Absolventen der Polizeiakademie konnten mit der »blauen Angst« nicht Schritt halten – immer mehr Polizisten aller Rangstufen entschlossen sich, eine Organisation zu verlassen, deren Moral tiefer unter null gesackt war als das Tote Meer.

Kate fügte hinzu: »Die Ermittlungsbeamten haben vier Zehnstundentage statt drei, aber sie beschweren sich ständig, weil ihnen die Kontinuität der Fälle verloren geht.« Ganz zu schweigen von den Überstunden. Viele Polizisten und Kriminalermittler hatten die Überstunden-Schecks zu einem Bestandteil ihres regelmäßigen Gehalts gemacht und ihren Lebensstandard dementsprechend angepasst. Zehn- oder Zwölfstundentage konnten einem so sehr Knüppel zwischen die Beine werfen, dass man sich zusätzlich einen Teilzeitjob suchen musste, um das fehlende Überstundengeld zu kompensieren.

»Gefallen Ihnen die neuen Arbeitszeiten?«

»Die Mordkommission berührt das nicht sonderlich – wenn wir arbeiten müssen, müssen wir arbeiten.« Ihr Rang als Detective gab ihr uneingeschränkte Flexibilität. Und doch litt auch sie schon unter dem Verlust von Kontinuität bei der Bearbeitung ihrer Fälle.

Dearborn fragte: »Würden Sie sagen, dass Sie zum Ehrgeiz neigen?«

Die Frage überraschte sie, und Kate musste einen Augenblick darüber nachdenken. »Ich denke, hauptsächlich mir selbst gegenüber. Bezüglich meiner Erwartungen an mich.«