Treffpunkt Washington

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Kapitel 2

Die Polizistin nahm Kates Ausweis und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen erst das Foto, dann Kate.

Die Tür zum Treppenhaus wurde aufgestoßen, und zwei Polizisten mit gezogener Waffe spähten in den Flur. »Hier alles unter Kontrolle«, sagte die Polizistin zu ihnen.

»Wir durchsuchen jedes Stockwerk, Jill«, sagte einer der Beamten und zog sich ins Treppenhaus zurück.

Die Frau gab Kate den Revolver zusammen mit ihrem Ausweis zurück und steckte ihre eigene Pistole in den Schulterhalfter.

Kate verstaute die Waffe wieder in ihrem Hosenbund. Die untadelige Erscheinung und die Ausstrahlung dieser jungen Frau gefielen ihr, und ganz besonders ihre gute Menschenkenntnis.

»Was geht hier vor?«, fragte der Beamte und schob seinen Revolver in den Halfter.

»Wir – Aimee und ich – waren den ganzen Tag unterwegs«, sagte Kate. »Kaum waren wir eine Minute zurück, hörte ich den ersten Schuss und splitterndes Glas. Drei weitere Schüsse, alle ins Zimmer. Vielleicht zehn Sekunden später klopft der Typ von gegenüber an die Tür. Ich geh raus in den Flur. Sehe nur ihn und ein paar mutmaßlich unbeteiligte Zuschauer. Er behauptet, er habe niemanden im Flur gesehen, als er rauskam.«

»Schüsse aus anderen Teilen des Hotels gehört?«

»Nein.«

»Von der Straße?«

»Nein.«

»Ich bin Jill Manners, Kate«, sagte die Polizistin unvermittelt. »Mein Kollege heißt Rudy Doyle.«

Ehe Kate etwas erwidern konnte, ging Jill Manners schon den Gang hinunter. An der Tür zu Kates Zimmer bedeutete sie Kate und Rudy Doyle mit einem Kopfnicken, ihr zu folgen. »Ist Ihnen an diesen Einschusslöchern was Besonderes aufgefallen?«, fragte sie.

»Groß«, sagte Rudy. »Großes Kaliber.«

»Sie sind weit oben«, sagte Kate.

Jill hob ihre Hand, bis sie auf gleicher Höhe mit den Einschusslöchern lag – ein gutes Stück oberhalb ihrer Köpfe. »Ja. Hoch.«

»Also hat der Kerl nach oben gezielt«, sagte Rudy und hakte die Daumen in seinen Pistolengurt.

»Schau hin, Rudy, die Tür hat einen Hohlraum. Der Schaden ist erheblich, aber man kann immer noch sehen, dass sich Eintritts- und Austrittsloch der Kugel auf gleicher Höhe befinden. Jemand hat eine Pistole hoch über den Kopf gehalten. Diese Schüsse hätten keinen Menschen treffen können, außer der wäre über zwei Meter groß.«

Gefolgt von Kate und Rudy, ging Jill ins Zimmer, durch den Vorraum und geradewegs auf das Fenster zu. Aimee, die nach hinten auf die Ellbogen gelehnt auf dem Bett saß, schaute interessiert zu. »Aimee Grant«, stellte Kate vor.

»Nur ein paar Minuten, Ms. Grant, dann kommen wir zu Ihnen«, sagte Jill höflich.

Aimee warf Kate ein schwaches Grinsen zu. »Ich glaube, die Vorgehensweise ist mir vertraut.«

Nicht vertraut genug, dachte Kate wütend, als ihr Aimees unüberlegtes Verhalten einfiel, nachdem die Schüsse gefallen waren.

Jill untersuchte das große Loch und die Sprünge im Glas ringsherum. Kate bemerkte, dass Rudy Doyle, die Hände auf die ausladenden Hüften gestützt, Aimee begutachtete. Mit einem Nicken zu Aimee führte Jill die Gruppe aus dem Zimmer.

John Stafford stand im Gang. »Dieser Herr ist John Stafford«, stellte Kate ihn vor.

Jill Manners sagte: »Würden Sie wohl so freundlich sein, auf Ihr Zimmer zurückzugehen, Mr. Stafford, wir sprechen uns gleich.«

Stafford zog sich langsam in sein Zimmer zurück, wobei er Jill Manners mit einem anerkennenden Lächeln von Kopf bis Fuß musterte, bis sich seine Tür schloss.

Kate und die beiden Polizisten gingen den Gang hinunter, weg von den beiden Hotelzimmern und außer Hörweite von Stafford oder Aimee. Jill Manners zog einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus ihrer hinteren Hosentasche. »Sagen Sie bitte Jill und Rudy zu uns«, sagte Jill, während sie eifrig Notizen machte.

Rudy nickte zustimmend. Kate entspannte sich ein wenig; sie wusste diese Geste zu schätzen, mit der sie – wenn auch eingeschränkt – als Kollegin akzeptiert wurde.

»Irgendwelche Vermutungen, Kate?«, frage Rudy und kratzte sich seinen bleistiftdünn rasierten Schnurrbart.

Kate zuckte die Schultern. Ein zielloser Gewaltakt, nahm sie an, wie er jeden überall in diesem Land treffen konnte. Aber es war nicht ihre Sache, das diesen D.C. Cops zu erklären.

»Jemand sauer auf Sie?«, schlug Rudy vor. »Jemand, den Sie hinter Gitter gebracht haben?«

»Warum ein Flugzeug nach Washington nehmen und durch eine Hotelzimmertür schießen?« Sie beantwortete ihre Frage selbst: Vielleicht wollte jemand vorher ein bisschen mit ihr spielen. Hier war es einfacher, außerhalb ihres eigenen Territoriums, dazu der Überraschungseffekt … Nein, rief sie sich zur Ordnung, das war verrückt, ihre Phantasie ging mit ihr durch.

»Was machen Sie in D.C.?«, fragte Jill mit gezücktem Stift.

»FBI-Seminar über Persönlichkeitsprofile von Kriminellen.« Einige dieser Profile hatten ihre Vorstellungskraft in der Tat unerhört angeregt. »Außerdem ein Kriegsveteranentreffen.«

»Golfkrieg?«

»Vielen Dank«, sagte Kate lächelnd. »Vietnam.«

»Ehrlich? Mein Vater war dort. Mit wem?«

»Zweites Bataillon, Erste Marines.«

»Mein Dad war Army«, sagte Jill Manners. »Chu Lai.«

»Da Nang«, sagte Kate. »Welches Jahr?«

»Achtundsechzig.«

Kate nickte. »Ich auch, und ein bisschen von neunundsechzig. Die schlimmste Zeit.«

»Ja. Man hat ihm ein Bein weggeschossen.«

»Ich kam gleich nach Tet hin. Ihr Vater hat geholfen, es sicherer zu machen. Wo –«

»Spielt einer von den Ex-Marines noch mit Pistolen?«, unterbrach Rudy ungeduldig.

Rüder Rudy, dachte Kate. »Ich habe seit über zwei Jahrzehnten keinen von denen gesehen«, sagte sie. Und das hätte sie auch diesmal nicht, wäre da nicht Aimee gewesen.

»Dann ist das hier eine Art Witz, stimmt’s? Ein Kriegskamerad, der einen Willkommens-Salut schießt?«, wandte sich Rudy an Kate.

»Toller Witz«, presste Kate hervor. Sie mochte Rudy Doyle nicht und erst recht nicht, was er eben von sich gegeben hatte. »Niemand, den ich da drüben kennengelernt habe, würde so etwas tun.« Mehr als haarscharf an der Wahrheit vorbei. Damals hätten sie. Aber heute doch nicht …

»Sie erzählen mir, dass dieses Hotel von Ex-Marines wimmelt, da hat doch der eine oder andere bestimmt ’ne Feuerwaffe einstecken –«

»Vielleicht ein Durchgeknallter, der auf Glasbruch steht«, sagte Jill. »Gönnt sich mal was.«

Kate nickte. »Die Kids heutzutage – benutzen die Welt als Zielscheibe.« Sie wollte Jills Theorie gern Glauben schenken. Notfalls auch Rudys. Um das ungute Gefühl zwischen den Schulterblättern loszuwerden.

»Haut nicht hin«, sagte Rudy. »Ein Durchgeknallter hätte den ganzen Flur kaputtgeschossen, nicht bloß diese Tür. Für mich sieht es danach aus, als hätte jemand auf Ihre Rückkehr gewartet. Nehme an, jemand will Ihnen hallo sagen. Oder sonst eine Botschaft übermitteln.«

Jill und Kate im Schlepptau, ging er breitbeinig auf das AUSGANG-Schild über dem Treppenhaus zu und schob die Tür auf, ehe Kate noch den Mund öffnen konnte. Mehr als ein erstickter Ton kam nicht heraus.

»Rudy, du Oberarsch«, sagte Jill.

»Ach, richtig«, sagte er und schlug sich vor die Stirn. »Wir kriegen den Täter über seine Fingerabdrücke. Und dann werden wir es beweisen, ganz ohne Zeugen.« Geringschätzig wischte er mit der Hand über den Türgriff. »Vielleicht hat die LAPD Zeit genug, durch einen Kamin zu furzen …«

Kate betrachtete ihn schweigend. Die überhebliche Körpersprache, die ungeputzten Schuhe, die Krawatte, die schief unter dem Hemdkragen heraushing, die zu langen Hosenbeine, weil der Bauch über dem Pistolengürtel die ganze Hose nach unten schob. Seine Partnerin dagegen – der Kragen des hellblauen Uniformhemdes frisch gestärkt und gebügelt, die Uniform faltenlos an dem vollschlanken, gut trainiert wirkenden Körper. »Was ist mit Ihrem Zimmernachbarn, diesem Stafford?«, fragte Rudy Kate.

»Einer von den Immer-Hilfsbereiten«, antwortete sie. »Sieht nicht aus, als hätte er was mit der Sache zu tun.«

»Trotzdem reden wir mit ihm. Und mit Ihrer … Freundin.«

»Natürlich«, sagte Kate und konnte ihn noch weniger leiden.

»Wie unter Kollegen üblich,«, sagte Jill, »rechnen wir natürlich –«

»Das überlasse ich Ihnen und Ihrem Kollegen«, sagte Kate. Sie beabsichtigte, die Sache ohne Hilfe oder Einmischung der einen oder des anderen zu untersuchen.

Jill sagte: »Wir durchsuchen das Gebäude, halten draußen nach versprengten Kugeln Ausschau und kämmen die Nachbarschaft durch, obwohl da wahrscheinlich nicht viel zu holen ist.« Sie zog eine Visitenkarte aus einem Fach ihres Notizbuches. »Wir melden uns, sobald wir etwas wissen. Aber rufen Sie mich an. Jederzeit.« Kate hörte aus ihrem Tonfall die Entschuldigung heraus. »Wenn ich irgendwas für Sie tun kann, solange Sie in der Stadt sind, wenden Sie sich an mich.«

»Gern«, sagte Kate. »Ich hole Ihnen schnell eine von meinen Visitenkarten. Und lasse die Pistole verschwinden. Ich verstaue sie immer, sobald ich nach Hause komme. Ich hatte nur nicht genügend Zeit, bevor die Schießerei losging.«

»Verdammt unbequem, damit rumzureisen, hab ich gehört«, ließ Rudy verlauten.

Kate nickte. »Die Sicherheitsbeamten am Flughafen verlangten einen Schrieb von meinem Vorgesetzten, dass ich zum Tragen einer Waffe berechtigt bin, die Pistole musste ungeladen in einem Pistolenreisekoffer in einem abgeschlossenen Hartschalendokumentenkoffer verstaut sein, der dann von der Flughafenpolizei untersucht und mit einem orange-schwarzen Klebeband gekennzeichnet wurde.«

 

»Recht so«, sagte Jill, »damit jeder Terrorist an Bord ihn sofort findet.«

Kate stimmte in das Gelächter der beiden ein. »Derzeit dürfen keine Pistolen nach New York City eingeflogen werden. Leider war ich nicht dorthin unterwegs.« Nein, das nahm sie zurück. Sie war froh, dass sie ihre Pistole nach Washington D.C. mitgebracht hatte.

Die Hände in die Hüften gestemmt, erkundigte sich Rudy: »Wie lang schon im Morddezernat?«

»Zwölf Jahre.«

Er quittierte diese Information mit hochgezogenen Augenbrauen und fragte dann: »In der O.J. Simpson-Untersuchungskommission?«

Sie unterdrückte ein Stöhnen. Fragen nach der Simpson-Geschichte hatte sie satt bis zum Erbrechen. »Dieses Affentheater spielt in der Führungsetage der West L.A. Division.« Und im Parker Center. Vannater und Lange, die Ärmsten … in deren Schuhen wollte sie nicht stecken, nicht mal für sechs Richtige im Lotto.

»Kennen Sie welche von den Cops, die man immer im Fernsehen sieht? Der Drecksack Fuhrman, ist er –«

»Er ist pensioniert, ich kannte ihn nur vom Sehen«, sagte sie in der Hoffnung, damit jeder Vermutung, sie könnte Insiderklatsch verbreiten, den Boden zu entziehen. Großer Gott, alle waren wie besessen von dem Fall, vor allem die Polizisten, die sie kannte.

»Also was ist? Ist O.J. schuldig?«

»Die DNA-Beweise gegen ihn stapeln sich bis zur Decke.« Sie zuckte die Schultern. »Was nicht heißt, dass er schuldig gesprochen wird.«

»Ja, stimmt. Bei Rodney King war nicht mal eine Videoaufnahme ausreichend. Irgendwas mit den Unruhen zu tun gehabt?«

»Das hatten wir alle«, sagte sie mit Nachdruck. »Jeder Polizist in der ganzen Stadt war in Bereitschaft.«

Sie war in der Abenddämmerung einberufen worden, als die Nachrichten über den Äther flimmerten und eine Rauchwolke sich über die Stadt legte. In Uniform plus Katastrophenausrüstung hatte sie, begleitet von drei weiteren Beamten, einen schwarzweißen Einsatzwagen gefahren, Maschinengewehre auf dem Schoß, um sich selbst und die Stadt zu beschützen. Ihr Auftrag war, in den östlichen Randbezirken der Wilshire Division Streife zu fahren. Die ganze Nacht und der nächste Tag waren ein Alptraum aus loderndem Horizont und dem Verfolgen der Durchsagen über die fortschreitende Zerstörung im Polizeifunk gewesen.

Als sie nach Hause kam, fand sie eine von Sorge und Schlafmangel hohläugige Aimee vor … »Eine schreckliche, grauenhafte Zeit, eine riesige schwa–« Sie konnte gerade noch umschalten; in Erinnerung versunken, hatte sie ganz vergessen, dass die beiden Polizisten schwarz waren. »Eine schlimme Geschichte, die uns alle sehr mitgenommen hat. Wir haben uns noch nicht davon erholt, ich weiß nicht, wann oder ob uns das gelingt.«

»Ein Irrenhaus, die Stadt, in der Sie leben«, sagte Rudy freundschaftlich.

Ohne eine Spur Ironie erwiderte Kate: »Absolut kein Vergleich zu Ihrer Musterstadt.«

Jill lachte, und Kate war ihr dankbar dafür. Ihrem Aussehen nach war die Frau in den Zwanzigern – zu jung für diese angespannte Wachsamkeit in der Körperhaltung, diese Müdigkeit in den Augen und diesen Zynismus in den Mundwinkeln.

»Komm, wir reden mit Mr. Stafford«, sagte Jill zu ihrem Kollegen.

»Nein«, sagte Aimee. Sie stand da, die Hände in die Hüften gestemmt, während Kate ihre restlichen Kleidungsstücke einpackte.

»Wir könnten tot sein.« Kate ließ mit Nachdruck das Kofferschloss einschnappen. »Du hast schon viel von der Stadt gesehen –«

»Ein Bruchstück!«

»Das Seminar ist vorbei, lass uns einen Flieger nehmen und hier verschwinden. Wir kommen wieder her, das verspreche ich dir – im April, zur Kirschblüte.«

»Keine zehn Zentimeter von der Stadt hab ich gesehen und du so gut wie gar nichts, es war schon diesmal ein Staatsakt, dich herzubekommen, wir fahren nie wieder nach Washington und das weißt du –«

Kate drehte sich zu ihr um. »Ich kapiere einfach nicht, was dir im Kopf rumgeht. Auf uns wurde geschossen.« Und mit einer heftigen Armbewegung zur Tür: »Warum lässt dich das kalt?«

»Komm schon, Kate. Uns ist nichts passiert. Wer immer das getan hat, kommt nicht zurück –«

»Woher weißt du das?«

»Jemand wollte einen Witz machen. Vielleicht hat einer von deinen Kameraden zu tief ins Glas geguckt. Das ist, was die Cops denken – und das solltest du auch«, beharrte Aimee. »Ich kauf es ihnen ab.«

»Kauf es ihnen ab, wenn du willst. Ich nicht.«

»Kate, Schatz«, bettelte Aimee, »welche Erklärung gibt es sonst?«

»Es könnte jemand sein, an dessen Verurteilung ich beteiligt war.«

»Wie soll er wissen, dass du hier bist?«

»Er könnte uns verfolgt haben.«

»Du meinst, jemand folgt uns bis nach Washington D.C.? Das ist doch lächerlich. Warum schnappt er dich nicht einfach in L.A. und macht dich dort kalt?«

Aimee warf die Schultern zurück, eine Geste, die Kate nur zu gut kannte. »Das ist nicht der Grund, warum du abreisen willst«, warf Aimee ihr vor. »Du willst dich vor dem Treffen drücken. Du hast die Hosen randvoll, weil du diesen Leuten aus deiner Vergangenheit wieder begegnest.«

»Hör auf damit«, schnauzte Kate. »Ich bin hier, oder etwa nicht?«

»Vielleicht ist das deine neueste Taktik, um dich abzusetzen«, erwiderte Aimee schneidend. »Vielleicht hast du diesen Widerling Woody dazu angestiftet –«

»Aimee.« Kate sprach den Namen mit Eiseskälte. »Spiel nicht herunter, was hier passiert ist.« Sie wies auf die durchlöcherte Tür. »Du warst zwischen mir und der Tür. Du könntest tot sein. Wären diese Kugeln ein bisschen tiefer geflogen –«

»Sind sie aber nicht. In Ordnung, Kate. Fahr nach Hause. Ich bleibe hier und erkläre den hart gesottenen Marines und Sanitäterinnen, die damals mit dir im Einsatz waren, wie irgendein Blödmann, der nicht mal geradeaus schießen kann, der großen bösen Polizistin so viel Angst eingejagt hat, dass sie gleich bis nach L.A. rennt.«

Kate seufzte. Sie fürchtete sich tatsächlich vor diesem Treffen. Aber wie konnte sie Aimee davon überzeugen, dass ihr Fluchtinstinkt nichts damit zu tun hatte, sondern einzig mit den Alarmglocken, die wegen dieser Schießerei in ihr schrillten …

»Gut«, sagte sie, griff zum Telefon und wählte die Rezeption. »Hier ist Kate Delafield von Zimmer 222 … Ja. Wir nehmen das Angebot an … Zimmer 416? Vielen Dank.«

Kapitel 3

Während Aimee unter der Dusche ihres neuen Zimmers stand – einer Suite im obersten Stockwerk auf Kosten des Hauses – schob Kate ihre Brieftasche in die Hosentasche und machte leise die Tür hinter sich zu.

Sie betrat das Treppenhaus am Ende des Gangs und ging langsam eine schmale Eisentreppe hinab, deren Stufen mit derben braunen Plastikstreifen ausgelegt waren. Auf jedem Stockwerk untersuchte sie die Tür. Vor dem Fenster war auf jeder Etage eine Feuerleiter zu sehen, deren diamantfarbenes Metall vom Regen glänzte. Sie roch schalen Zigarettenrauch; hier war jemand gewesen, vor nicht allzu langer Zeit.

Am Fuß des Treppengeländers betrat sie die Lobby, menschenleer, abgesehen vom Empfangschef, einem jungen blonden Mann mit schwarzer Schleife über einem gestärkten weißen Hemd, nicht derselbe Angestellte, der Dienst hatte, als sie und Aimee sich eintrugen. Sie nickte ihm zu und nahm, im Türrahmen stehend, die Anlage der Lobby in Augenschein.

Die L-förmige Rezeptionstheke, links von ihr an der Wand, lag genau gegenüber dem Vordereingang. Neben der vorderen Eingangstür mit ihren Spiegelglasscheiben, an denen das Regenwasser hinabrann, standen ein Podest für den Kofferträger und zwei Gepäckwagen. Rechts von der Rezeption befand sich der Durchgang zu den Aufzügen, und von diesem Gang zweigten verschiedene Türen ab, eine davon zum Hotelrestaurant, auf deren Glastür in roten, weißen und blauen Buchstaben The Patriot stand. Die andere Tür war aus solidem Kirschbaumholz mit einer Schnitzerei von Trommel und Waldhorn unter einem weißen Pappschild mit der Aufschrift The Concord Room. Das war der private Speiseraum des Hotels, in dem morgen das Treffen stattfand.

Das Hotel, dachte sie, ist wirklich recht hübsch. Bei ihrer Ankunft waren sie und Aimee beide von der Lobby bezaubert gewesen – von der blauweißen Blümchentapete, den schlichten weißen Bodenfliesen, dem mit Troddeln versehenen königsblauen Teppich unter einem Sofa in hellerem Blau samt zwei passenden Sesseln, dem Cocktailtischchen aus Kirschbaumholz, der hohen weißen Säule, auf der eine schmale, filigrane Vase mit stilisierten künstlichen Blumen stand.

Der Angestellte hatte aufgehört, Computerausdrucke zu sortieren, und beobachtete sie. Sie ging zur Rezeption hinüber, zog ihre Brieftasche hervor und zeigte ihm ihre Polizeimarke und ihren Personalausweis.

Er blätterte alles durch. »Officer Delafield, äh, äh –«

»Kate.«

»Ich hoffe, unsere luxuriöseste Unterbringungsmöglichkeit bietet Ihnen und Ihrer Freundin einen kleinen Trost. Ich versichere Ihnen, so etwas ist im Inn noch nie vorgekommen.«

»Das neue Zimmer ist sehr gemütlich, wir wissen es zu schätzen.«

Hoffnungsvoll fragte er: »Hat die Schießerei da oben etwas damit zu tun, dass Sie bei der Polizei sind?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie, »aber möglich ist alles. Wie heißen Sie?«

»David Olson.«

»Mr. Olson, dieses Treppenhaus ist das einzige auf dieser Seite des Gebäudes?«

»Richtig.« Mit seinen langen, knochigen Fingern glättete er das Computerpapier, schob es zu einem ordentlichen Stapel zusammen und sah darauf nieder, als wäre die Beschäftigung damit einem Gespräch mit ihr bei weitem vorzuziehen. Kate vermutete, dass seine kühle Ausstrahlung und das Abstand gebietende Verhalten kaum auf die Tatsache zurückzuführen waren, dass sie Polizistin war; er besaß einfach nicht die Ungezwungenheit, die man von jemandem erwartet, dessen Aufgabe es ist, sich in einem kleinen, guten Hotel um die Gäste zu kümmern.

»Wie viele andere Treppenhäuser gibt es noch?«, fragte sie.

»Noch eins, es führt zum Parkhaus.«

Aus seinen dunklen blauen Augen sprach Intelligenz, und seine Aussage war präzise, doch Kate bohrte nach. »Theoretisch könnte also jemand die Treppe zur Lobby nehmen, aber auf einem anderen Stockwerk herauskommen.«

»Nein, das ist nicht richtig«, korrigierte er sie pedantisch. »Sobald man im Treppenhaus ist, gibt es keinen Weg zurück, bis man unten in der Lobby ist. Die Türen schließen automatisch.«

Genau das hatte sie auch festgestellt. Sie verkniff sich den Hinweis, dass man etwas dazwischen schieben oder eine Tür mit Klebeband präparieren kann, um sich den Rückweg vom Treppenhaus her offen zu halten. »Ist das nicht gefährlich? Kann man nicht eingeschlossen werden?«

»Ein bisschen kompliziert, weiter nichts. Das Hotel hat nur drei Stockwerke mit Gästezimmern.« Er strich sich eine bleiche Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wer im Treppenhaus stecken bleibt, geht hinunter in die Lobby und nimmt den Aufzug zurück zum Zimmer. Sollte es brennen – die Fensterscheiben auf jedem Treppenabsatz lassen sich einschlagen und führen zu einem Notausgang.«

Sie nickte. »Und was ist mit der anderen Treppe, der zum Parkhaus?«

»Ebenso. Man nimmt diese Treppe und kommt in der kleinen Lobby neben dem Parkhaus heraus. Wer keinen Schlüssel hat, um wieder reinzukommen, muss ums Haus herum zum Vordereingang gehen.«

»Aber jemand könnte durch die Parkhaustür hereinkommen«, gab Kate zu bedenken. »Reingehen, wenn jemand rauskommt, und dann warten, bis jemand anderes aus dem Fahrstuhl steigt.«

»Na ja, theoretisch …« Der Empfangschef zögerte und blickte wieder auf seine Papiere.

Kate griff noch einmal in ihre Tasche und ließ diesmal Jill Manners’ Visitenkarte auf das polierte Kirschholz der Theke fallen. »Rufen Sie bitte diese Beamtin der Metro Police an, wenn Sie Bedenken haben, mit mir zu reden.«

Er nickte. »Ich denke, es geht in Ordnung, schließlich sind Sie alle Polizisten. Die Parkhaus-Lobby wird überwacht. Wir hatten ein paar Probleme, Gäste wurden … belästigt.«

Bewaffnete Raubüberfälle, schlussfolgerte Kate. Die Schießerei im zweiten Stock war vielleicht doch keine so einmalige Angelegenheit, wie David Olson behauptete. Außerdem hatte die Belegschaft des Hotels erstaunlich gelassen darauf reagiert, dass eine Tür im zweiten Stock von vier Kugeln durchlöchert worden war; ihres Wissens war außer einem Gepäckträger, der mit gerunzelter Stirn einen Blick auf die beschädigte Tür geworfen und sich dann daran gemacht hatte, ihr Gepäck in den vierten Stock zu schaffen, niemand nach oben gekommen. Abgesehen von dem anfänglichen Aufruhr unter den Gästen im zweiten Stock war im ganzen Hotel keinerlei Unruhe zu spüren gewesen. Heutzutage schien Sirenengehaul zum Hintergrundgeräusch einer Großstadt zu gehören; alle Welt war an Polizei und Verbrechen gewöhnt. Und an in Festungen verwandelte Gebäude.

 

Der Rezeptionschef zeigte auf einen gut versteckten Bildschirm unter der Theke. »Jede Person, die vom Parkhaus hereinkommt, durchbricht eine elektronische Schranke, die die Videokamera einschaltet und hier oben einen zwei Sekunden langen Summton auslöst. Wir sehen immer nach, wer kommt.«

»Praktisch«, konstatierte Kate. »Wer war gegen fünf Uhr dreißig heute Nachmittag hier in der Lobby?«

Olson senkte den Blick auf seine Computerausdrucke, und die Andeutung eines zufriedenen Lächelns ließ seine ernsten Gesichtszüge weicher erscheinen. »Jede Menge Neuzugänge. Wie immer am Freitag.« Er schüttelte den Kopf. »Dass die Polizei kam – scheint die neuen Gäste eher angezogen als abgestoßen zu haben.«

»Fernsehen«, sagte Kate. »Lässt alles ein bisschen unrealistisch erscheinen. Was haben Sie den Leuten gesagt?«

Er räusperte sich. »Dass ein Gast wegen eines geringfügigen Zwischenfalls Anzeige erstattet hat.«

Kate lächelte, dann deutete sie auf das Treppenhaus, durch das sie herunter- und in die Lobby gekommen war. »Bevor die Polizei eintraf – ist da jemand durch diese Tür hereingekommen?«

»Ich habe niemanden gesehen, aber ich war beschäftigt.«

»Schauen Sie normalerweise nach, wenn diese Tür aufgeht?«

»Ja. Sobald ich die Tür höre, schaue ich nach.« Entschuldigend fügte er hinzu: »Jemand könnte durchgegangen sein – ich kann nicht behaupten, mir wäre nicht entgangen, wenn jemand das Hotel verlassen hat. Es scheint keine andere Erklärung dafür zu geben, wie jemand die Schüsse abgeben und wieder herauskommen konnte.«

»Was ist mit der Tür zum Parkhaus?«

»Um diese Zeit hat niemand diese Tür geöffnet.«

»Sie scheinen sich da sehr sicher zu sein.«

»Wenn es summt, schaue ich auf den Bildschirm. Immer. Es kostet nur eine Sekunde. Sehen Sie, äh, Kate, mein Vater ist Miteigentümer des Hotels. Ich achte gut darauf, was hier vor sich geht, besser, als die meisten Leute es tun würden.«

»Verstehe.« Das erklärte, warum Olsons Verhalten nicht so recht zu seinem Job zu passen schien. Doch wenn er durch Vetternwirtschaft auf einem Posten gelandet war, für den er nicht die idealen Voraussetzungen besaß, so versuchte er offensichtlich, es durch Fleiß wieder gutzumachen. »Ich nehme an, die beiden Polizeibeamten haben Sie in dieser Sache gründlichst befragt.«

»Die beiden schwarzen Cops? Die Frau, ja.«

»Danke, Mr. Olson.«

»Sagen Sie David zu mir.« Er lehnte sich über den Tresen. »Hören Sie, Sie und Ihre Freundin sollen sich hier wohlfühlen. Kein Grund, nach L.A. zurückzufahren und rumzuerzählen – das war reiner Zufall, glauben Sie mir.«

»Gut«, sagte Kate.

»Auf Erkundung gewesen«, sagte Aimee. Es war eine Feststellung, keine Frage. Sie saß in Jogginghosen und einem weißen Pullover im Schneidersitz auf dem Sofa und bürstete sich das nasse Haar. Offensichtlich hatte sie eben erst eine ausgedehnte Dusche beendet; im Wohnzimmer der Suite hing der blumige Duft von Seife und Parfüm. »Jemand hat für dich angerufen. Torrie Holden. Klang dringend– ich hab ihr gesagt, du würdest sofort zurückrufen.« Im Aufstehen nahm sie den hoteleigenen Notizblock vom Couchtisch und reichte ihn Kate. »Was für ein grässlicher Abend. Draußen gießt es in Strömen.«

»Stimmt. Abendessen im Hotelrestaurant?«

»Ich weiß nicht«, sagte Aimee freudlos. »Vielleicht klart es noch auf.«

Kate schaute auf ihre Armbanduhr und berechnete den dreistündigen Zeitunterschied, dann auf die Nummer auf dem Block. Das musste Torries Privatnummer sein. Torrie arbeitete bestimmt an einem Fall und hatte auf dem Nachhauseweg Halt gemacht. Kate setzte sich an den Tisch neben dem regenüberströmten Fenster und nahm den Hörer ab.

»Torrie? Hier ist Kate.«

»Hallo, Kate. Danke, dass du zurückrufst. Tut mir leid, dich während deiner Reise zu belästigen.«

»Kein Problem.« Torries Zuhause-Stimme hatte die gleiche Intensität wie auf der Arbeit. Kate sah ihr schmales Gesicht vor sich, den konzentrierten Ausdruck der dunklen Augen, das dicke, sorgfältig geschnittene und frisierte dunkle Haar. Torrie, eine kleine Frau, trug zur Arbeit immer zusammenpassende Jacken und Röcke von einfachstem Schnitt; Kate fragte sich, wie sie wohl aussah, wenn sie entspannt war – vorausgesetzt, sie ließ sich auf ihre gehetzte Art jemals gehen – und ob sie je etwas so Legeres wie Jeans trug.

Torrie fragte: »Worum ging es in dem Seminar?«

Aimee war ins Bad gegangen, um ihre Haare zu trocknen, und Kate dämpfte ihre Stimme vor dem Hintergrundgeräusch des Föhns. »Mittwoch und Donnerstag Abteilung für Verhaltensforschung in Quantico. Heute FBI-Hauptgebäude. Schauplätze von Sexualmorden mit Verstümmelung, Nachstellen geplanter und nicht geplanter Morde, Profile der Tatorte von Ritualmorden, sich herausbildende Muster in der forensischen Pathologie –«

Torrie unterbrach sie mit einem leisen Pfiff. »Alle haben sich prächtig amüsiert.«

»Stell dir einfach Das Schweigen der Lämmer vor«, sagte Kate. Und manche Leute dort, dachte Kate, hätten durchaus Verwandte von Hannibal Lecter sein können, so hingebungsvoll ergingen sie sich in Blutrausch und Kannibalismus. Ihrer Ansicht nach waren psychologische Profile etwas, das jeder erfahrene Kriminaler am Schauplatz eines Verbrechens automatisch erstellte, und die drei Seminartage hatten ihr über eine Anhäufung von Horrorszenarien hinaus wenig gebracht. Auch nur einen Teil des Grauens der letzten drei Tage mit einer Kollegin zu teilen, mochte sie auch sehr viel dienstjünger sein, war wie das Aufstechen einer Eiterbeule.

Sie atmete die Parfümdüfte ein, die Aimees Föhn aus dem Badezimmer zu ihr herüberwehte, warf einen Blick auf ihren sicher verschlossenen Aktenkoffer und erinnerte sich an ihren Impuls, die Seminarunterlagen im Waschraum zu entsorgen, als sie sich dort mit der Beamtin aus Chicago unterhielt. Keine gute Idee innerhalb des FBI-Gebäudes, und sie hatte sie dann auch fallen lassen. Sie riss das oberste Blatt des Notizblocks ab und zückte den hoteleigenen Kugelschreiber. »Was gibt’s?«

»Kennst du die Centennial Clinic?«

»Ich kenne sie, war aber nie drin. Ein Krankenhaus, ziemlich klein, stimmt’s?«

»Ja, eine Kinderklinik. Ein Kind ist dort gestorben, ein Junge. Acht Jahre alt.«

»Ach, Torrie«, sagte Kate sanft. Torrie war allein erziehende Mutter eines zwölfjährigen Mädchens. »Das ist hart«, sagte Kate mitfühlend. Im Laufe ihres Berufslebens hatte sie das Glück gehabt, dass Untersuchungen von Todesfällen bei Kindern meist anderen Beamten zufielen – offenbar auch diesmal. Wäre sie dort, hätte man sie zweifellos zusammen mit Torrie, einer in Wilshire frisch eingesetzten Kollegin, auf diesen Fall angesetzt. Ihre eigenen Untersuchungen, meistens Fälle von plötzlichem Kindstod, waren schlimm genug gewesen … Fälle plötzlichen Kindstods hinterließen Wunden bei allen, auch bei den unvermeidlich eingeschalteten Polizeibeamten. »Ein Kind – das ist die Art Fall, den jeder fürchtet. Mein Beileid, Torrie. Warum wurden wir hinzugezogen?«

Torries Seufzer kam deutlich durch die Leitung. »Eine Krankenschwester behauptet, etwas gesehen zu haben. Eine Unregelmäßigkeit in der Behandlung …«

»Des Jungen.« Kate begann eine Injektionsnadel auf den Notizblock zu zeichnen.

»Des Jungen. Fast nur dahinvegetierend, aber eben nur fast, Kate. Semi-Koma, ständige Schmerzen, ständig ruhig gestellt. Geburtsfehler, irgendein schrecklicher fortschreitender Nervenschwund seit der Geburt, kriegt mehr Schmerzmittel, als du dir vorstellen kannst, Morphintropf, eine Krankengeschichte so lang wie Krieg und Frieden, sein Krankenblatt sieht aus wie der Jahresbericht eines Großkonzerns.«