Treffpunkt Washington

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»Mein Gott«, sagte Kate. »Das arme Kind, die armen Eltern.« Es versetzte sie immer noch in Staunen – und ging ihr immer noch nahe –, von welchen Qualen das Leben mancher Menschen bestimmt wurde.

Torries Stimme klang leidenschaftlich. »Die Eltern – solch eine Mutter und solch einen Vater bräuchten wir alle. Haben sich um dieses Kind seit dem Augenblick seiner Geburt gekümmert, haben ihn jeden Tag besucht, nie gab es Hoffnung für ihn, sie halten ihre Ärztin für eine Heilige.«

»Aber die Krankenschwester hat etwas gesehen.«

»Behauptet, die Ärztin hätte die Sache beschleunigt. Als könnte das etwas anderes sein als ein Segen.«

Kate begann, den Kolben der Spritze auszumalen, dann hielt sie inne und betrachtete ihre Kritzelei. Eine psychische Verbindung zu dem Fall? Sie schüttelte den Kopf. »Was sagt die Ärztin?«

»Sie tippt auf natürliche Todesfolge. Aufgrund der Langzeitmedikamentierung.«

»Hm«, sagte Kate.

»Die Krankenschwester – Gott segne ihre ehrliche, aber einfältige junge Seele – sagt, sie habe die Prognose für dieses Kind so verstanden, dass es so, wie es war, noch lange hätte leben können. Und dass jemand vom medizinischen Personal etwas getan haben muss.«

Es war nichts Neues, dass mitfühlendes Pflegepersonal manchmal beim Ableben eines Patienten etwas nachhalf, und das lange vor Dr. Jack Kevorkian, doch normalerweise ließ sich bei solchen Todesfällen schwer etwas nachweisen. »Die Krankenschwester – gehört sie zu irgendeiner fundamentalistischen Randgruppe?«

»Keineswegs«, erwiderte Torrie scharf, und Kate wusste, dass Torrie so abwehrend reagierte, weil sie selbst strenggläubige Baptistin war.

Während Torrie zur Beschreibung einer jungen Frau, frisch von der Schwesternschule, ausholte, vergegenwärtigte Kate sich den Nachmittag, an dem Torrie und sie Eddy Marino wegen Mordes unter Drogeneinfluss an seinem Cousin Tony festnahmen. Mrs. Marino hatte hysterisch den Rosenkranz heruntergebetet, während sie sich an einen von Drogen zerstörten Sohn klammerte, den sie wahrscheinlich nie mehr wieder sehen würde, außer durch die Glasscheibe eines Gefängnisbesuchsraumes. Später an diesem Tag, auf dem Parkplatz der Wilshire Division, hatten sie unter den emotionalen Nachwirkungen der Festnahme mit der Offenheit zweier von den Ereignissen des Tages aufgewühlter Kolleginnen ihre eigene religiöse Erziehung verglichen.

Torrie beendete ihre Beschreibung der Krankenschwester. »Mit wem arbeitest du zusammen?«, fragte Kate. Wider jede Hoffnung hoffte sie das Beste.

»Leviticus.«

Kate schloss die Augen. Jack Levering. Der Neuzugang aus der Pacific Division, dessen Spezialgebiet rechtschaffene Entrüstung war. Der denkbar schlechteste Partner bei einem Fall wie diesem. »Du machst doch deinen Job, Torrie?«

»Ja. Ich weiß eigentlich gar nicht, weshalb ich dich anrufe, ich bin bloß schon seit heute Nacht um zwei an dieser Sache dran, und geteiltes Leid ist halbes Leid. Ich glaube, ich dachte … Scheiße, ich weiß nicht. Diese Dr. Jimenez ist keine von der üblen Sorte.«

»Torrie, mach einfach weiter deine Arbeit.« Ich sollte dort sein, nicht hier, dachte sie wütend. Sie sollte mit Torrie zusammen an diesem aufreibenden Fall arbeiten. »Sei ein Profi.«

Torrie seufzte. »Montag ist Autopsie, und du müsstest Tommys Mutter hören, von wegen, dass ihr Kind jetzt auch noch aufgeschnitten werden muss, nach allem, was es in seinem jungen Leben schon erduldet hat, und Leviticus erzählt ihnen, sie sollten dankbar sein, eine Erklärung zu bekommen, warum ihr Kind tot ist …«

Kate stöhnte. Wenn sie jetzt bei Torrie wäre, würden sie die beste Vorgehensweise absprechen – mit Rücksicht auf die beteiligten, am Boden zerstörten Menschen. Jeder wäre besser geeignet als Leviticus.

»Wir überprüfen alles, die Krankengeschichte des Kindes, sein Krankenblatt, die verabreichten Medikamente. Dann verhören wir noch einmal die Krankenschwester und auch alle anderen. Vielleicht versuchen ja Leute aus der Klinik, die Ärztin zu decken – natürlich ein weiteres Schwerverbrechen. Kate, es sieht immer schlimmer aus.«

»Gib dein Bestes, Torrie. Mehr kannst du nicht tun. Ich rufe dich morgen an.«

Aimee war ins Zimmer zurückgekommen und hatte das Ende des Gesprächs mitgehört.

»Was sagt sie zu der Schießerei hier?«

»Ich hab ihr nichts davon erzählt«, sagte Kate unschuldig.

»Du hast ihr nichts davon erzählt?« Aimee starrte sie an. »Du bist so fertig deswegen, dass du die Stadt verlassen willst? Und dann machst du dir nicht mal die Mühe, deiner Kollegin zu erzählen, dass in dein Hotelzimmer geschossen wurde?«

Kate zuckte die Schultern.

»Du bist verrückt«, verkündete Aimee.

Nein, dachte Kate, nur verwirrt.

Kapitel 4

Aimee küsste Kate auf die Stirn und rollte sich in ihre Schlafposition auf der rechten Seite, Po und Hüfte eng an Kate geschmiegt.

Einen Arm um Aimee geschlungen, lag Kate auf der Seite. Ihre Hand hielt Aimees nachgiebige, feste Brüste, und sie atmete den Duft von Aimees Haar, ihrer Gesichtscreme und Zahnpasta ein. Aimees Körpersprache vermittelte, dass alles war wie gewöhnlich, doch die disharmonische Note, die in der vergangenen Woche ihr Liebesleben beeinträchtigt hatte, schwebte immer noch zwischen ihnen.

Nach einem per Zimmerservice georderten Abendessen waren sie früh zu Bett gegangen. Der noch heftiger werdende Regen und die Ereignisse des Abends hatten Aimees Begeisterung für einen Stadtbummel zerstört. Heute Abend war Aimee eindeutig müde – ihr gleichmäßiges Atmen verriet, dass sie schon schlief.

Vorsichtig löste sich Kate von ihr und drehte sich auf den Rücken. Ein Windstoß rüttelte am Fenster und ließ in ihr erneut Ärger darüber aufsteigen, dass sie sich überhaupt an diesem elenden Ort befand.

Regen. Seit Jahren hatte sie an Regen keinen Gedanken zu verschwenden brauchen. Bestimmt nicht in Südkalifornien, wo bis auf die eine oder andere Ausnahme das Jahr aus acht bis neun Monaten mit absolut vorhersagbarem Sonnenschein bestand, gefolgt von ein paar Monaten mit nicht ganz so vorhersagbarem. Das Klima spielt bei der Entscheidung mancher Menschen, ihre Zelte abzubrechen und anderswo Wurzeln zu schlagen, vielleicht keine große Rolle, aber für sie hatte es den Ausschlag gegeben, sich nach ihrer Dienstzeit im Marine Corps von Michigan zu verabschieden. Nach zweiundzwanzig Jahren in Kalifornien sollte sie auf Regen eigentlich versöhnlicher reagieren, doch dieses Wochenende brachte ihr ein paar unbequeme Wahrheiten wieder zu Bewusstsein.

Vor allem was die Erinnerung betraf: Erinnerung folgte keinem Gesetz und war unlogisch. Eigenmächtig. Imstande, sich wie ein Band zurückzuspulen. Bei Annes Tod vor elf Jahren hatte sie das Wesen der Erinnerung erkannt, und dass jedes Ereignis, jedes Stück ihres Lebens mit Anne sie mit einer Lebendigkeit überfallen konnte, als wäre es erst gestern gewesen, ihr den Boden unter den Füßen wegziehen konnte.

Regen. Sie konnte sich noch an die feuchte, dampfende Insel im Südpazifik erinnern, in jenem Film, den sie mit ihrem Vater gesehen hatte, in dem eine schwül-erotische, vampartige Rita Hayworth eine Prostituierte spielte, und José Ferrer einen aufrechten Missionar, der sie bekehrte und schließlich wieder zur Sünde verführte, indem er sie seinen eigenen sexuellen Gelüsten unterwarf. Schon damals lag Kates Sympathie auf Seiten des Missionars. Das erbarmungslose, unablässige Trommeln des tropischen Regens, der von Palmen und Bambushütten rann, konnte jeden aus der Bahn werfen, die Moral jedes noch so aufrechten Menschen untergraben.

Bei Regen war sie auf der Tan Son Nhut-Airbase gelandet. Und in schwärzester Nacht. Die Flugzeuglichter verlöschten irgendwo über dem Südchinesischen Meer, und ihre Besorgtheit schärfte sich zu Angst, als das Flugzeug in einer Dunkelheit so schwarz wie der Tod auf eine unsichtbare Landschaft fiel. Holpernd kam die Maschine zum Stehen, die Luke öffnete sich, und das nächste Geräusch war dröhnender Donner. Die silbernen Fäuste des Regens trommelten auf die silberne Haut des Flugzeugs, begleitet von dumpfen Schlägen und Glühwürmchenblitzen entfernter Bombenexplosionen. Falls vorher noch irgendwie in Frage stand, ob sie tatsächlich ein Kriegsgebiet betrat – an einem Ort weit außerhalb ihrer bisherigen Erfahrungswelt –, so brachten die ersten Minuten in Vietnam die Antwort. Als sie blind aus diesem Flugzeug stieg, hinein in Hitze und strömenden Regen, auf bebende, schlammige Erde …

Sie drehte sich vom Rücken zurück auf die Seite, weg von Aimee. Lieber nicht daran denken, lieber nichts von Vietnam wissen oder erinnern wollen. Aimees tiefenpsychologischen Andeutungen zum Trotz hatte Kates Widerwille gegen dieses Treffen keine unbewussteren Gründe als den Widerwillen dagegen, in der Vergangenheit zu wühlen. Sie hasste es, hier zu sein, sie hasste es, zur Erinnerung gezwungen zu werden. Das war alles – egal wie Aimee darüber dachte.

Der größte Fehler, den sie je begangen hatte, war, sorglos mit der Vergangenheit umgegangen zu sein. Sie hatte Aimee die Vietnam-Geschichte ausgraben lassen, die hinter den Postkarten lag, die jedes Jahr zu Weihnachten ankamen; die Geschichte, die sie weggepackt hatte; die Briefe und Fotos, die verschiedene ihrer Vietnam-Kameraden im Laufe der Jahre geschickt hatten. Melanies Brief über dieses Treffen, fünfundzwanzig Jahre nach ihrem gemeinsamen Dienstjahr – mehr hatte Aimee nicht gebraucht, um Melanie anzurufen und Kate hierher zu manövrieren, nein, zu tricksen.

Müßig, jetzt noch darüber nachzudenken. Morgen würde sie alle wieder sehen. Rachel. Bernie. Doc. Gabriel. Dacey. Martin. Sie waren alle so blutjung gewesen, fast noch Teenager, als sie zusammen waren. Sie würde Gegenstand allgemeiner Neugier sein, was sie hasste, aber zumindest musste sie Aimees Anwesenheit nicht erklären und sich nicht mit den unmittelbaren Reaktionen auseinandersetzen. Diesmal wussten sie über sie Bescheid, anders als damals. Sie hatte Aimee angewiesen, Melanie das Wesen ihrer Beziehung zu enthüllen, in der vergeblichen Hoffnung, eine homophobe Reaktion würde die Rechtfertigung dafür liefern, nicht an dem Treffen teilzunehmen.

 

Was würde sie finden, wenn sie die anderen wieder sah? Welche Veränderungen hatten in ihren Leben stattgefunden?

Und Rachel. Rachel …

Wie um alles in der Welt würde sie auf Rachel reagieren – und Rachel auf sie?

Kapitel 5

Aimee stieg vor Kate aus dem Fahrstuhl und schaute sich verärgert nach ihr um. Mit versteinerter Miene stakste Kate auf den Concord Room zu, als ginge sie zu ihrer Hinrichtung. Der Empfangschef schaute hinter seinem Tresen tadelnd zu ihnen hoch. Vielleicht, so vermutete Aimee, weil aus dem Concord Room I Want to Hold Your Hand in voller Lautstärke erscholl und die unverzeihliche Dummheit des Hotels bezeugte, ein Veteranentreffen von Marines ausgerichtet zu haben.

Es war alles Kates Schuld. Die Frau trieb sie zur Weißglut; sie sprach nicht über ihre Gefühle, höchstens in vagesten Gemeinplätzen – wer hätte jemals ahnen können, dass sie so kopfscheu sein würde? Wer konnte das wirkliche Ausmaß ihrer Gefühle abschätzen?

Eine Stunde zuvor hatte Kate Aimees Kleiderwahl für das Treffen auf Anhieb gutgeheißen – ein türkisfarbenes Seidenhemd, eine weiße Hose aus Wollstoff und winzige Perlenohrringe –, doch hinsichtlich der eigenen Garderobe hatte sie eine nie da gewesene Unentschlossenheit an den Tag gelegt. Diese Frau, die über dem Inhalt ihrer Reisetasche brütete, war dieselbe, die am Morgen eines jeden Arbeitstages in weniger als dreißig Sekunden eine passende Kombination auswählte. Für die vorsichtige Andeutung, dass sich das Problem leicht hätte lösen lassen, wenn Kate ihre Uniform eingepackt hätte, erntete Aimee einen so bitterbösen Blick, dass sie nichts mehr sagte.

Jetzt, auf der Schwelle zu dem Treffen, ließ Aimee Kate vorangehen. Kate blieb stehen und betrachtete stirnrunzelnd ihre Kleidung, marineblauer Pullover mit V-Ausschnitt, farblich passende Hose und Stiefel. Sie zerrte am Kragen des blauweiß gestreiften Hemdes unter dem Pulloverausschnitt, straffte die Schultern und warf dann Aimee einen Blick zu.

Angerührt von Kates Elend, ihrer Unsicherheit und Ängstlichkeit, brachte Aimee ein aufmunterndes Lächeln zustande und schob sich energisch an Kate vorbei in den Raum. Jedes Anzeichen von Zerknirschtheit oder Reue wäre in diesem Augenblick verfehlt und würde Kates Nervosität nur noch verstärken.

Der Raum war dermaßen von Zigarettenqualm vernebelt und mit blumigen Parfümdüften geschwängert, dass in Aimee unwillkürlich eine Erinnerung wach wurde – die stickige Stunde, die sie mit ihren Eltern in dem überfüllten Raucherwaggon eines Pendelzuges zugebracht hatte, als sie zehn war. Ungefähr fünfundzwanzig Fahrgäste, zwei Drittel davon zumeist in Militäruniform gekleidete Männer; ein paar Frauen trugen Cocktailkleider. Mit Gläsern in der Hand standen sie in Gruppen zu fünft oder sechst zusammen, und das laute Stimmengewirr verriet, dass sich hier Leute angeregt unterhielten.

An der gegenüberliegenden Wand hing ein weißes Banner mit ausgeschnittenen, ummalten Löchern, die ausgefranste Einschusslöcher darstellten. Auf dem Banner stand: DA NANG – TOR ZUM HIMMEL. Drei runde Tische, abwechselnd mit einem roten, weißen und blauen Tischtuch geschmückt, waren zum Essen gedeckt; auf einem rechteckigen, mit rotweißblauen Flaggen geschmückten Tisch standen Platten mit Käse und Paté, Gemüsestreifen, Crackern und Dips sowie ein Kassettenrecorder, der Beatles-Songs plärrte. Eine Bar war aufgebaut worden, und fünf Personen standen in einer Schlange davor, um sich von einem geschäftigen Kellner bedienen zu lassen.

»Dass ich das noch erleben darf … Captain Delafield!«

»Doc Coleman! Wie geht’s, Doc?« Kate hatte die Stimme erkannt, und während sie die Worte rief, wirbelte sie zu einem koboldhaften Männchen herum, das links neben ihr auftauchte. Für den Bruchteil einer Sekunde gefror Kates Gesichtsausdruck; ihre Überraschung angesichts seiner Erscheinung entging nur Aimee nicht, die wusste, wie gut Kate ihre Mimik unter Kontrolle hatte.

Amüsiert betrachtete Aimee das Abziehbild von mindestens drei Perioden Männerkultur und -mode. Seine eingefallene Brust zierte eine kleine bestickte Weste über einem grauen T-Shirt, abgewetzte schwarze Hosen umspannten seine birnenförmigen Hüften, und seine kleinen Füße steckten in spitzen Cowboystiefeln. Grau gesprenkeltes, nackenlanges Haar und eine metallgefasste Oma-Brille, die kaum seine Augäpfel bedeckte. Im rechten Ohr trug er drei goldene Ohrstecker.

Er wechselte sein Rotweinglas in die linke Hand, in der zwischen zwei Fingern schon eine Zigarette klemmte, und schüttelte kräftig Kates Hand. »Kate, du siehst toll aus, einfach toll.«

»Du siehst phantastisch aus, Doc«, antwortete Kate und lächelte; Aimee wusste, dass sie das wörtlich meinte.

Doc nahm einen Schluck Wein und musterte Kate aus klugen, blaugrünen Augen. »Du warst schon immer hinterhältig.«

»Hinterhältig?«, schaltete sich Aimee ein. »Kate Delafield war hinterhältig?«

»Verzeihung, Aimee«, sagte Kate und drehte sich entschuldigend zu ihr um. »Ich möchte dir Doc Edward Coleman vorstellen. Doc, das ist Aimee Grant.«

Ein höfliches Nicken. »Sehr erfreut. Darf ich Maria Coleman vorstellen, meine Frau.«

Maria Coleman, noch etwa fünfzehn Zentimeter kleiner als ihr Ehemann, hielt ebenfalls ein Weinglas in der Hand, das sie zierlich in der Handkuppe balancierte. Eine Frau mit zufriedenem Gesicht, schlicht frisiertem, ergrauendem Haar, die sich in ihrem schmucklosen, tannengrünen Kleid und dem gesetzten Körper einer Frau in den mittleren Jahren augenscheinlich wohlfühlte. Lebhafte, aufmerksame Augen musterten erst Kate, dann Aimee; aus ihrem Lächeln sprach Wärme.

»Guatemaltekin«, sagte Coleman. »Wir bringen uns gegenseitig die Sprache bei.« Mit einem Grinsen zu Kate: »Pro Woche ein Wort.«

»Jemand, der nicht widerspricht«, sagte Kate. »Da hast du endlich die passende Partnerin gefunden, Doc.«

In dem Gelächter, in das sie zusammen ausbrachen, lag so viel Komplizenhaftigkeit, dass fast mit der Hand zu greifen war, wie sich eine fünfundzwanzigjährige Trennung in nichts auflöste. Warum hatte sich Kate wegen dieses Treffens so angestellt? Es lief doch alles wunderbar.

»Katie!«

Eine stämmige Frau, knapp eins fünfzig groß, die ein grellrotes Cocktailkleid und goldene Sandalen trug, schnappte sich Kate, erdrückte sie fast in einer Umarmung und schüttelte sie dann wie eine Flickenpuppe.

»Bernie«, protestierte Kate lachend und packte sie bei den Schultern. »Du brichst mir die Rippen.«

»Doch nicht diese Rippen«, sagte Bernie, trat einen Schritt zurück und knuffte Kate in beide Seiten, »diese Rippen niemals! Schau dich an, Süße, du siehst keinen Tag älter aus als zweiundzwanzig!«

Bernie, dachte Aimee, sah keinen Tag jünger aus als sechzig, trotz ihres pechschwarz gefärbten Haars. Dabei musste sie in den Vierzigern sein, nicht viel älter als Kate. Das Rouge, der verwischte Lidstrich, der verschmierte Lidschatten und der knallige Lippenstift waren schon schlimm genug, aber die dicke Puderschicht bildete ein erbarmungsloses Relief für das Faltennetz in ihrem rotwangigen Gesicht.

Sie hatte einen kleinen Mann in schwarzem Anzug und Krawatte im Schlepptau, dessen eiförmige Glatze im Lampenlicht glänzte. Bernie warf einen Arm um seine Schultern und brachte die Drinks, die er in beiden Händen hielt, gefährlich ins Schwanken. »Das«, trompetete sie, »ist mein Ralph. Ralph Murphy.«

Kate drehte sich zu Aimee um, auf dem Gesicht ein so breites Lächeln, wie Aimee es noch nie an ihr gesehen hatte. »Aimee, das ist Bernadette O’Rourke. Ich meine, Murphy.«

»Alle Welt nennt mich Bernie«, erklärte Bernie und ergriff Aimees Hand.

Aimee mochte sie auf Anhieb. Schlecht aufgetragenes Make-up schien an einer Frau kaum etwas auszumachen, die nicht merkte, dass ihr rotes Kleid einen schreienden Kontrast zu dem rotbraunen Teppich bildete, und der es egal war, dass der goldene Gliedergürtel auf ihrem Kleid eine Gürtelschlaufe verfehlt hatte. »Freut mich wirklich sehr, Sie kennenzulernen, Bernie«, sagte sie. Warum war Kate mit dieser Frau nicht enger in Kontakt geblieben?

»Du bist wirklich eine Schönheit«, sagte Bernie so beiläufig zu ihr, dass es mehr wie eine allgemeine Feststellung als wie ein Kompliment klang. Sie nahm Ralph eines der Gläser ab und kippte den mahagonifarbenen Inhalt hinunter. »Ralphie, hab ich dir nicht von meiner Katie erzählt? Ist sie nicht das tolle Mädchen, das ich dir beschrieben hab?«

»Und ob sie das ist, meine Liebe.« Mit einem zustimmenden Nicken, das Aimee an die kopfwackelnden Dackel im Rückfenster mancher Autos erinnerte, blickte Ralph von Kate zu seiner Frau.

Während Kate seine Hand schüttelte, fragte sie Bernie: »Bist du immer noch in der Krankenpflege?«

Bernie gab Ralph ihr leeres Glas zurück. »Besorgst du mir bitte noch eins, Liebling?« Und zu Kate: »Natürlich bin ich immer noch in der Krankenpflege, Süße.« Sie zog eine Packung Salems aus der Handtasche und zwinkerte Kate zu. »Die Veteranen im Charleston-Krankenhaus nennen mich Schwester Ratched, wie die Gruselschwester aus Einer flog über das Kuckucksnest

Eine Stimme sagte: »Habe ich den Namen Delafield gehört?«

Kate verhehlte weder das Weiche in ihrer Stimme noch in ihrem Gesicht, als sie antwortete: »Hallo, Gabe. Wie geht’s, Sergeant?«

»Einfach super, Captain.« Der hoch gewachsene, muskulöse Mann im grünen Tarnanzug und passender Kappe hob die rechte Hand in Schulterhöhe, und Kate packte sie mit einem so kräftigen, harten und sicheren Griff, dass es aussah, als hätten die beiden dies als ihren persönlichen Privatgruß erfunden.

Aimee erfreute sich an dem Bild von Gabe, Doc und seiner Frau, Bernie und Kate, die einen langen Moment der Unbeholfenheit schweigend dastanden und deren Blicke sich so langsam voneinander lösten wie bei Menschen, denen es nur die anerzogene Höflichkeit verbot, sich unverhohlen anzustarren. Aimee wusste, dass sie sich unter diesen Wiedergängern aus Kates Vergangenheit selbst einen Weg bahnen musste, und streckte Gabe die Hand hin. »Aimee Grant.«

»Gabe Bradford. Wie geht es Ihnen?«

Daran gewöhnt, die Aufmerksamkeit der meisten Männer zu fesseln, verlor sie seine augenblicklich. »Wie ich höre, bist du ein Cop«, sagte er zu Kate. »In L.A.«

»Stimmt.«

Er zog tief an seiner Zigarette und schnippte die Asche in seine Handfläche. »Wie hältst du es dort aus?«

»Gabe, it never rains in Southern California

Noch mehr Komplizenschaft in dem Lächeln, das verriet, wie viel Geschichte in den wenigen Worten zusammengefasst war.

»Und du?«

»Ein bisschen dies, ein bisschen das.« Er grinste verlegen. »Derzeit mache ich Geschäfte mit ITEK, einem auf Tauschhandel spezialisierten –«

Kate, Doc und Gabe brachen in Gelächter aus. Doc sagte: »Immer noch ein cumshaw operator, was, Gabe?«

Gabe grinste. »Liegt mir wohl im Blut.«

Aimee wollte gerade fragen, was ein cumshaw operator ist, als Doc sagte: »Übrigens, wir haben was von Schüssen in deinem Zimmer gehört – was um alles in der Welt war da los?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Kate. Leichthin fügte sie hinzu: »Ich dachte, vielleicht wart ihr das, als Zeichen, wie sehr ihr euch freut, mich zu sehen.«

Alle lachten, außer Gabe, der sagte: »Du musst ein abgebrühter Cop sein – wär mir das passiert, ich wäre mit dem nächsten Flugzeug aus der Stadt verschwunden.«

»Die Abgebrühte bin nicht ich», lächelte Kate und zeigte auf Aimee.

»Haben sie jemanden erwischt?«

»Sie ermitteln noch. Sie –«

»Kate.« Eine Frau, dunkelhaarig, in Jeans und einem grünen Militärhemd mit der Aufschrift Summer auf einer Brusttasche, war neben Kate geglitten.

Mit versteinertem Gesicht und in einer übertrieben langsamen Bewegung, aus der Aimee größten Widerwillen las, drehte Kate sich um. »Hallo, Rachel.«

Kates Stimme war viel zu flach, ihr Gesicht viel zu verschlossen. Hallo Rachel, sieh mal an. Aimee stellte die Stacheln auf.

 

»Wie geht es dir, Kate?«

»Gut, es geht mir gut.« Hölzern erkundigte sich Kate: »Bist du noch in der Krankenpflege?«

»Ja. Immer noch.«

Und wer nicht die aufopferungsvolle Dana Delany aus der Serie China Beach als Krankenschwester kriegen konnte, wäre mit Rachel auch nicht schlecht bedient, dachte Aimee.

»Mit ein paar Aussetzern und Neuanfängen hier und da«, fügte Rachel hinzu. »Es war lange Zeit nicht einfach. Du siehst gut aus, Kate.«

»Du auch, du siehst toll aus, Rachel.«

Toll wurde diesem Rachel-Weib nicht gerecht. Wer im Krankenhausbett lag, würde sich wünschen, beim Aufwachen diese warmen, mitfühlenden, weisen, aufmunternden, liebevollen braunen Augen auf sich herabschauen zu sehen … Egal in welchem Bett würde man mit dieser Frau und diesen Augen aufwachen wollen …

Aimee hatte das Gefühl, vom Rand einer Klippe zu fallen, und nahm in einer automatischen, instinktiven besitzergreifenden Geste Kates Arm. Plötzlich schien sich der Vorteil des fünfzehnjährigen Altersunterschieds zwischen ihr und Kate, in dem sie sich immer gesonnt hatte, in nichts aufzulösen. Die vollendete Reife dieser Frau verwies Jugend auf eine eindeutig untergeordnete Position und ließ gutes Aussehen unwichtig erscheinen.

»Stell mich vor«, forderte Aimee.

Doch die Frau hatte schon den Arm ausgestreckt und drückte Aimees Hand in ihrer weichen, warmen. »Ich bin Rachel Summer.«

Natürlich heißt du Sommer, dachte Aimee. »Aimee … Grant«, sagte sie und räusperte sich, um beide Worte herauszubringen.

»Bring mich auf den Stand, Rachel«, bat Kate. Doc, Bernie und Gabe, die als einfältig grinsende Zuschauer herumstanden, an ihren Drinks nippten und Rauch aus ihren Zigaretten sogen, ignorierte sie völlig. Ganz zu schweigen von ihr, Aimee, der weder ein Drink und erst recht keine Zigarette Trost spendete. Für Kate existierte in diesem Raum niemand außer diesem Rachel-Weib.

»Ich bin wieder zu Hause in Baltimore«, erzählte Rachel. »Beide Kinder verheiratet.«

»Hab ich gehört«, sagte Kate.

Aimee atmete erleichtert auf. Verheiratet. Hetera. Dem Himmel sei Dank.

»Hast du auch gehört, dass ich geschieden bin?«, fuhr Rachel fort. »Seit … lass mich nachdenken … mittlerweile vierzehn Jahren.«

Es war nicht auszuhalten. »Kate«, sagte Aimee, »soll ich uns etwas zu trinken holen?«

»Das wäre nett. Danke.«

Pure Förmlichkeit, weiter nichts, dachte Aimee wütend und stolzierte in Richtung Bar.

Sie nahm einen Zwanzigdollarschein aus ihrem Portemonnaie und orderte: »Einen doppelten Scotch auf Eis, ein Glas Weißwein.«

»Erst Scotch, dann Weißwein zum Nachspülen«, sagte eine Männerstimme anerkennend. »Das nenne ich einen Drink.« Der Fremde, blond und gut aussehend, mit einem ordentlich gestutzten rötlichen Bart, trug ein blaukariertes Flanellhemd, Jeans und Cowboystiefel und nickte. »Dacey mein Name«, sagte er. »Wie geht’s? Ein Bier«, bestellte er beim Barmann, »was immer Sie dahaben, mir ist jedes recht.«

Sie nahm einen Schluck Wein und brachte ein Lächeln zustande. »Ich bin Aimee Grant.«

»Hallo, schöne Frau«, sagte eine andere Stimme hinter ihr.

Der Schwachkopf, dem sie gestern Abend im Flur begegnet war. Woody Hampton, fiel ihr ein. In Tarnklamotten vom Käppi bis zu den Stiefeln und zu allem Überfluss das Wappen des Marine Corps – Adler, Globus und Anker – auf beide Bizepse tätowiert. Fehlte nur noch ein Munitionsgürtel über der Brust und ein Messer zwischen den Zähnen statt der blöden Zigarette, die ihm aus dem Mundwinkel hing. »Wie geht’s?«, fragte sie mürrisch.

Woody nahm einen tiefen Schluck von seinem tabakfarbenen Drink. »Stimmt es, dass gestern in Ihr Zimmer geschossen wurde?«

»Im Ernst?«, sagte Dacey und nahm sich die Flasche Miller’s, bevor der Barmann den Inhalt in ein Glas gießen konnte. »Hab nichts davon gehört.«

»Millionen andere auch nicht«, sagte Aimee. »Jemand hat uns mit einem vierschüssigen Salut begrüßt.« Und mit einem Hauch Boshaftigkeit fügte sie hinzu: »Das passierte gleich, nachdem wir Sie getroffen hatten, Woody.«

»Wurde jemand verhaftet? Warum sollte jemand das tun? Um was ging es da?« Dacey musterte sie, die strahlend blauen Augen zusammengekniffen.

»Ehrlich gesagt, wir wissen es nicht«, sagte sie, dankbar für seine Besorgnis. Gleichzeitig überlegte sie, dass für einen Bart zumindest die Tatsache sprach, dass er die Augen und den Mund eines Mannes manchmal recht eindrucksvoll einrahmte, vor allem so viel sagende Augen und einen so sinnlichen Mund wie Daceys.

»Was höre ich da über Sie und Kate?«, fragte Woody.

Ihre Stacheln richteten sich wieder auf und sie fragte eisig: »Was hören Sie da?«

»Woody –«, setzte Dacey an.

Woody ignorierte ihn. »Sie gehören tatsächlich zu ihr?«

»Gehören?«, wiederholte sie.

»Woody, du bist ein echtes Arschloch«, stellte Dacey fest.

Woody redete weiter, als hätte er Dacey überhaupt nicht gehört. »Ja. Ich meine –«

»War nett, Sie kennenzulernen«, sagte Aimee zu Dacey und marschierte mit ihren Drinks davon, gerade als der Kassettenrecorder anfing, A Hard Days Night zu spielen. Kate hatte recht, es war die dümmste Idee aller Zeiten gewesen, hierherzukommen. Diese Leute, die qualmten wie Fabrikschlote und wie die Löcher Hochprozentiges soffen, stammten aus dem tiefsten Mittelalter, und dahin gehörten sie zurück, mitsamt den Beatles.

Kate sprach immer noch mit Rachel. Gabe und Doc unterhielten sich leise; Bernie und ihr Ralphie waren weitergezogen – wer konnte es ihnen verdenken?

»Danke«, sagte Kate und kippte in zwei Schlucken die Hälfte ihres Scotchs.

Nervös wie eine Katze war sie, wie sie da um Rachel herumstrich. Dieses Vietnamjahr beinhaltete mehr an Geschichte, dachte Aimee, als sie womöglich erfahren wollte.

»Kate, stimmt es, was ich über dich und diese Hübsche hier höre?«, sagte Woody hinter Aimees Ellbogen hervor.

Aimee sah Kate an. »Ich fasse es nicht.«

»Mir egal, was du gehört hast«, erwiderte Kate und kehrte ihm den Rücken. Aimee war zufrieden.

Rachel betrachtete Kate mit hochgezogenen Augenbrauen, nahm ihr dann ohne Gegenwehr behutsam den Drink aus der Hand, trank davon und gab ihn mit einem zaghaften Lächeln zurück. Kochend vor Wut starrte Aimee Rachel an. Für wen hielt sich diese Frau?

»Woody«, sagte Rachel, »wie ich sehe, du hast dich um keinen Dschungelstreifen verändert.«

»Immer noch mein Kampfgewicht, Miss Florence Nightingale, passe immer noch in die Uniform, genau wie früher.«

»Immer noch unser guter alter Woody«, bestätigte Rachel.

Woodys Unempfindlichkeit gegenüber Rachels kühler Verachtung erinnerte Aimee an Jungen, die sie auf der Palisades High School gekannt hatte und die so beharrlich und stumpfsinnig das weibliche Objekt ihrer Begierde umwarben, dass sie nicht im Traum auf die Idee kamen, dieses weibliche Wesen könnte ihre Gefühle nicht erwidern.

»Hallo, alle miteinander«, ertönte eine neue Stimme.

»Martin«, sagte Doc Coleman, wobei er dem Namen eine einschmeichelnde, enthusiastische Extra-Silbe verlieh. Seine Augen leuchteten vor besonderer Freude. »Wie schön, dich zu sehen, wirklich schön, mein Lieber. Wie geht es dir?«

Martin, der graue Hosen, ein weißes Poloshirt und einen schwarzen Blazer, allem Anschein nach aus Kaschmirwolle, trug, schüttelte Docs Hand. Der dicke graue Schnurrbart, der seine Lippen bedeckte, zuckte, als er Doc musterte. »Dem Aussehen nach um einiges besser als dir.« Missbilligung schwang in seiner Stimme. »Ist diese Verkleidung von Halloween übrig geblieben?«

»Nein, von achtundsechzig«, gab Doc zurück, offensichtlich kein bisschen beleidigt.

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