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Kunstprojekt (Mumin-)Buch

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4.2. Widmungen

[…] Erwähnt man als Auftakt oder Schlusstakt eines Werkes eine Person oder eine Sache als vorrangigen Adressaten, so wird sie zwangsläufig als eine Art idealer Inspirator einbezogen und auf die eine oder andere Weise angerufen, wie einst der Sänger die Muse anrief.1

So beschreibt Gérard Genette die Bedeutung von Widmungen. Dadurch wird eine stets enge Verbindung zwischen Autor und Muse impliziert. Tatsächlich ist der erlauchte Kreis jener, denen Jansson ein Buch zudenkt, eine Art who is who in ihrem Umfeld. Herausragende Bedeutung kommt dabei ihrer Familie zu. So weiht sie Trollvinter ihrer Mutter Ham („Till min mor“ „Für meine Mutter“) und Sent i november ihrem Bruder Lasse („Till min bror Lasse“ „Für meinen Bruder Lasse“). Pappan och havet eignet Jansson „einem“ Vater zu („Till en pappa“ „Für einen Papa“). Die Dedikationen schliessen jedoch auch Personen aus ihrem Bekanntenkreis ein, die für die Künstlerin ganz besonders wichtig waren. Ein Beispiel dafür ist die Theaterregisseurin Vivica Bandler, der Farlig midsommar gewidmet ist („Till Vivica“ „Für Vivica“). Sie war für diese Erzählung im und über das Theater eine zentrale Inspirationsquelle.

Eine Kategorisierung der gedruckten Widmungen schlägt Christian Wagenknecht im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft vor. Sie basiert auf dem grafischen Erscheinungsbild und umfasst die Widmungstafel, die Widmungsrede, den Widmungsbrief, die Widmungsgeste „als heute vorherrschende Schwundform, mit der bloss noch der Widmungsempfänger bezeichnet wird.“ und schliesslich der Widmungsvermerk.2 Letztere Art von Widmungen findet sich auch in den Muminbüchern. Inhaltlich sind die Widmungen äusserst knapp gehalten und bestehen lediglich aus Personennamen. Widmungen in Form von einleitenden Worten oder Zitaten, wie man sie aus anderen literarischen Werken kennt, finden sich nicht. Die Widmungen sind in der Regel äusserst diskret angebracht. Sie befinden sich auf der Rückseite des Schmutztitels, wo auch das Impressum abgedruckt ist. Eine Ausnahme bildet eben erwähnte Widmung in Pappan och havet. Ihr Platz ist auf derselben Seite wie das Inhaltsverzeichnis und ist in Schreibschrift gesetzt. Weiter ist die Widmung mit einer Blumenranke verziert.3 Dies macht die Widmung hier ebenfalls zu einem Gestaltungselement. Weiter ist Pappan och havet das einzige Buch, in dem die Widmung effektiv funktionalisiert wird, denn die Rolle als Vater und Familienoberhaupt wird in der Erzählung ausführlich verhandelt.

Die Widmung öffnet das Tor zu einem elitären Kreis von Eingeweihten. Sie zeigt also eine persönliche Beziehung auf und richtet sich so gesehen gezielt an eine Person oder eine ausgewählte Gruppe. Gleichzeitig entfaltet sie ihr Wirkungspotenzial aber erst, wenn sie von einer grösseren Gruppe rezipiert wird. So meint auch Bonnie Mak: „While ostensibly directed to a single person, dedications are always constructed to be read by others.“4 Das angesprochene Wirkungspotenzial besteht vor allem in einer Wertsteigerung des Buchs, die dieses durch eine Widmung erfährt:

Sie [die Widmung] stellt eine intellektuelle oder private, wirkliche oder symbolische Beziehung zur Schau, und diese Zurschaustellung steht als Argument für einen höheren Wert oder als Motiv für Kommentare immer im Dienst des Werkes […].5

In diesem Sinne funktionieren Dedikationen als eine Art Gütesiegel insofern, als dass sie ein gewisses Sensationsinteresse seitens der Leser befriedigen. Das Kunstobjekt erhält durch die Widmung eine neue Wertigkeit, die dem privaten Umfeld der Künstlerin entstammt. Durch diese persönliche Zusatzinformation wird eine emotionale Bindung zwischen Leser und dem Objekt Buch geschaffen.

4.3. Kapitelüberschriften

Dieses Unterkapitel nimmt sich mit den Zwischentiteln einer weiteren Art von Titeln an. Zwischentitel finden sich einerseits gesammelt in einem Inhaltsverzeichnis, meist auf die Titelseite folgend, andererseits im Text. Mit anderen Worten, sie strukturieren nicht nur die Erzählung inhaltlich, sondern auch das Buch. Weiter richten sie sich an ein bereits interessiertes Publikum. Ihre Aufgabe besteht daher nicht mehr in erster Linie darin, reisserisch um die Aufmerksamkeit potenzieller Leser zu buhlen. Nachfolgend stehen die in Inhaltsverzeichnissen organisierten Kapitelüberschriften im Mittelpunkt. Aufgelistet im Inhaltsverzeichnis geben sie einen Überblick über den Aufbau der Erzählung. Je nach Abstraktionsgrad der Kapitelüberschriften liefern diese relativ dezidierte, oder umgekehrt lediglich äusserst vage, Hinweise auf den konkreten Inhalt. Erfahrene Leser, so Ingeborg Mjør, erhalten jedoch bereits durch das Lesen des Inhaltsverzeichnisses viele Informationen über die Spannungskurve und die Dramaturgie der Erzählung.1 Nicht alle Muminbücher verfügen über Kapitelüberschriften, so wird in Kometen kommer und Sent i november gänzlich auf solche verzichtet. Der Vergleich der Inhaltsverzeichnisse offenbart unterschiedliche Arten von Kapitelüberschriften, welche darin zusammengestellt sind, sodass sich für den hiesigen Zweck eine Zweiteilung in deskriptive und abstrakte Kapitelüberschriften anbietet.

a) Deskriptive Kapitelüberschriften

Drei der Muminbücher, namentlich Trollkarlens hatt, Farlig midsommar und Muminpappans memoarer, verfügen über sogenannte deskriptive Kapitelüberschriften. Dabei handelt es sich gemäss Gérard Genette um Kapitelüberschriften in Form von Ergänzungssätzen: „,Wie…‘, ,Wo man sieht…‘, ,Welches erzählt…‘, ,Von… […]‘“.1 Der Auszug aus dem Inhaltsverzeichnis von Trollkarlens hatt offenbart, dass, wie für diese Art von Kapitelüberschriften typisch, der Inhalt des jeweiligen Kapitels in einer wie oben erwähnten Formel kurz zusammengefasst wird:

Sjätte kapitlet 115

i vilket Tofslan och Vifslan kommer in i historien, medförande en mystisk

kappsäck och förföljda av Mårran, samt vari snorken leder en rättegång.

Sista kapitlet 131

som är mycket långt och beskriver Snusmumrikens avfärd och hur den mystiska

kappsäckens innehåll avslöjades, därjämte hur Mumintrollets mamma fick tillbaka

sin väska och i glädjen ordnade en stor fest, samt slutligen hur Trollkarlen anlände

till Mumindalen. (TH, Inhaltsverzeichnis)

Sechstes Kapitel 115

in dem Tofslan und Vifslan in die Geschichte kommen, einen mystischen Koffer

mitführend und verfolgt von Mårran, und in dem Snorken eine

Gerichtsverhandlung leitet.

Letztes Kapitel 131

welches sehr lang ist und Snusmumrikens Wegfahrt beschreibt, und wie der

Inhalt des mystischen Koffers entdeckt wurde, des Weiteren wie Mumintrollets

Mama ihre Handtasche zurück bekam und vor Freude ein Fest ausrichtete,

einschliesslich wie letztlich Trollkarlen im Mumintal ankam.

Kapitelüberschriften dieser Art fussen in der älteren Romantradition, wie Boel Westin bemerkt und dabei auf Beispiele wie Jonathan Swifts Gulliver’s Travells oder Miguel de Cervantes’ Don Quijote hinweist. 2 Ausserdem sind sie ein Metakommentar, der explizit auf die Gemachtheit der Erzählung rekurriert und so die Fiktion immer wieder aufs Neue bricht, so etwa die Information über den Auftritt von zwei neuen Figuren, die in die Geschichte eingeführt werden, was stark an eine theatrale Praxis erinnert. Der Kommentar zur Länge des Kapitels verweist auf eine Autorinstanz, welche für diesen „Fehler“ verantwortlich ist. Kapitelüberschriften bieten ausserdem eine Möglichkeit, Höhepunkte der Handlung hervorzuheben. „[…] headings and subdivisions […] punctuate important moments in the story and thereby affect in what manner the treatise will be read.“, schreibt Bonnie Mak.3 Entsprechend werden auch in den gezeigten Beispielen die Höhepunkte des jeweiligen Kapitels zusammengefasst. Im Auszug des Inhaltsverzeichnisses von Muminpappans memoarer zeigen sich die deskriptiven Kapitelüberschriften wie folgt:

Fjärde kapitlet 76

Vari min färd över havet når sin toppunkt i en storartad skildring av stormen och

avslutas men en förfärlig överraskning.

Femte kapitlet

Där jag (efter ett kort prov på min intelligens) ger en bild av Mymlans familj och

den Stora Överraskningsfesten vid vilken jag ur Självhärskarens tass mottager

förtrollande äretecken. (MM, Inhaltsverzeichnis)

Viertes Kapitel 76

In dem meine Fahrt über das Meer ihren Höhepunkt in einer grossartigen

Schilderung des Sturms erreicht und beendet wird mit einer schrecklichen

Überraschung.

Fünftes Kapitel

In dem ich (nach einer kurzen Probe meiner Intelligenz) ein Bild gebe von der

Familie Mymlans und dem grossen Überraschungsfest, bei dem ich aus den

Tatzen des Selbstherrschers bezaubernde Ehrerweisungen erhalte.

Im Gegensatz zu den vorherigen Beispielen sind die Kapitelüberschriften in Muminpappans memoarer wichtige Stützpfeiler, die die (Autor)Fiktion aufrecht erhalten sollen, da darin Pappan als Schriftsteller inszeniert wird, der durch sein Werk führt. Gérard Genette beschreibt diese Transformation wie folgt: Der Ich-Erzähler ist so nicht mehr nur eine narrative Instanz, sondern wird zu einer literarischen Instanz, „[…] zu einem Autor, der für die Erstellung des Textes, seine Entstehung und Aufmachung verantwortlich zeichnet und sich seiner Beziehung zum Publikum bewusst ist.“4 Daneben ist auch die Wahl der Ich-Form bei der Erzählweise äusserst geschickt bestimmt, denn „bei gewissen Bezügen zwischen Text und Paratext kann die Wahl eines grammatikalischen Modus für die Abfassung der Zwischentitel dazu beitragen, den Gattungsstatus eines Werks zu determinieren (oder indeterminieren)“, konstatiert Genette.5

 

Im Inhaltsverzeichnis von Farlig midsommar fallen die sprechenden Zwischentitel durch ihre Formelhaftigkeit auf. Alle beginnen sie mit dem beinahe identischen „Om hur man…“ „Darüber, wie man…“ oder lediglich „Om…“ „über“, wie nachfolgender Auszug aus dem Inhaltsverzeichnis zeigt. Die Formulierungen weisen in einer belehrenden Art und Weise darauf hin, wie man sich in gewissen Situationen zu verhalten hat, oder warnen vor Konsequenzen. Die Zwischentitel beinhalten eine Abfolge höchst ungewöhnlicher und sehr unterschiedlicher Ereignisse. Diese liegen thematisch teilweise derart weit auseinander, dass sie auf den ersten Blick keinen Handlungsbogen erkennen lassen. So handeln die Kapitel von den Gefahren der Mittsommernacht, von einem unglücklichen Papa oder davon, wie man einen Gefängniswärter austrickst:


Sjunde kapitlet 83 Siebtes Kapitel 83
Om farlighet på midsommarnatten. Über Gefahr in der Mittsommernacht.
Åttonde kapitlet 93 Achtes Kapitel 93
Om hur man skriver ett skådespel. Darüber, wie man ein Schauspiel schreibt.
Nionde kapitlet 103 Neuntes Kapitel 103
Om en olycklig pappa. Über einen unglücklichen Papa.
Tionde kapitlet 109 Zehntes Kapitel 109
Om generalrepetitionen. Über die Generalprobe.
Elfte kapitlet 119 Elftes Kapitel 119
Om hur man lurar fångvaktare. Darüber, wie man einen Gefängniswärter
übers Ohr haut.
Tolfte kapitlet 127 Zwölftes Kapitel 127
Om en dramatisk premiär. Über eine dramatische Premiere.
(FM, Inhaltsverzeichnis)

Ein Handlungsstrang lässt sich anhand der Kapitelüberschriften jedoch klar ausmachen: Die Kapitel, die sich mit dem Stück im Stück beschäftigen. Sie beschreiben die Entwicklung des Theaterstücks vom Schreiben, über die Probe bis schliesslich zur Premiere. Die Kapitel acht, zehn und zwölf könnten quasi als eine separate Erzählung gelesen werden. „Über die primäre Ordnung gemäss der Paginierung[…] können sich alle möglichen anderen Routen legen, zu denen wir durch den Text selbst eingeladen werden […].“, beschreibt Michel Butor einen solchen Fall.6Eine solche Route lässt hier das Inhaltsverzeichnis erkennen, was den Handlungsstrang um das Stück im Stück betrifft.

b) Abstrakte Kapitelüberschriften

Die Bücher Pappan och havet und Trollvinter bilden in Bezug auf die Zwischentitel eine weitere Gruppe. In beiden Erzählungen kommt der Natur eine tragende Rolle zu, was sich in den Zwischentiteln deutlich widerspiegelt. In Pappan och havet sind beinahe alle Kapitelüberschriften im Inhaltsverzeichnis Beschreibungen des Wetters. Die Struktur der Handlung wird in Naturbeschreibungen übersetzt. Die übrigen Kapitelüberschriften verweisen auf für die Erzählung so relevante Elemente wie Pappans Glaskugel, den Leuchtturm oder die Figur des Leuchtturmwärters. Kapitelüberschriften dieser Art lassen kaum Rückschlüsse auf Details der Handlung zu. Erst in der Retrospektive, nach der Lektüre, offenbart sich der Zusammenhang zwischen dem Inhalt des Kapitels und seiner Überschrift:


INNEHÅLL Inhalt
1 Familjen i glaskulan 7 Erstes Kapitel
DIE FAMILE IN DER GLASKUGEL
2. Fyren 23 Zweites Kapitel
DER LEUCHTTURM 25
3. Västanvind 61 Drittes Kapitel
WESTWIND 70
4. Nordosten 83 Viertes Kapitel
NORDOSTWIND 94
5. Dimma 111 Fünftes Kapitel
NEBEL 125
6. Månen i nedan 135 Sechstes Kapitel
NEUMOND 152
7. Sydvästem 153 Siebtes Kapitel
SÜDWESTWIND 172
8. Fyrvaktaren 185 Achtes Kapitel
LEUCHTTURMWÄRTER 206
(PH, Inhaltsverzeichnis) (MWI, Inhaltsverzeichnis)

Im Falle von Trollvinter lässt sich anhand der Kapitelüberschriften die Zeitspanne eruieren, über die sich die Erzählung erstreckt. Das erste Kapitel trägt den Titel „Den insnöade salongen“ „Der zugeschneite Salon“, das letzte Kapitel heisst „Den första våren“ „Der Frühlingsanfang“. Die Handlung setzt ausnahmsweise im Winter ein, einer Jahreszeit, die Mumintrolle eigentlich verschlafen, und endet mit dem Beginn des Frühlings. Die übrigen Zwischentitel sind sehr abstrakt und mystisch. Auch hier lassen sich aufgrund der Kapitelüberschriften kaum Rückschlüsse auf deren genauen Inhalt ziehen. Sie unterstreichen jedoch die Exotik des Winters und die damit verbundenen Emotionen:


Innehåll Inhalt
Första kapitlet 7 Erstes Kapitel
Den insnöade salongen Der zugeschneite Salon 7
Andra kapitlet 15 Zweites Kapitel
Det förtrollade badhuset Das verzauberte Badehäuschen 16
Tredje kapitlet 30 Drittes Kapitel
Den stora kölden Die grosse Kälte 32
Fjärde kapitlet 50 Viertes Kapitel
De hemlighetsfulla Die Geheimnisvollen 54
Femte kapitlet 71 Fünftes Kapitel
De ensamma gästerna Die einsamen Gäste 77
Sjätte kapitlet 107 Sechstes Kapitel
Den första våren Der Frühlingsanfang 116
(TV, Inhaltsverzeichnis) (WM, Inhaltsverzeichnis)

Gesamthaft betrachtet weisen die Kapitelüberschriften ein breites Repertoire an rhetorischen Strategien auf. Erzählende Kapitelüberschriften mit konkreten Informationen zum Inhalt des jeweiligen Kapitels wechseln sich mit abstrakten, beinahe poetischen Kapitelüberschriften ab. Sie werden instrumentalisiert, um die Eigenheiten der jeweiligen Erzählung zu unterstreichen und beugen sich so auch dem jeweiligen Charakter des Buchs. Das Inhaltsverzeichnis ist insofern eine Gebrauchsanweisung für den vorliegenden Text, als dass es gezielt Schwerpunkte setzt und Details hervorhebt.