FABIANS WEG

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Sari: Blutbande #1
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Beide Attacken dauerten im Einzelnen nicht länger als eine Minute, doch schien es den beiden Opfern, als würden sie eine ganze Ewigkeit gefangen gehalten. Als man sie schließlich wieder sich selbst überließ, waren ihre Matratzen durchnässt und ihre Schlafanzughosen ziemlich schmutzig. Gelähmt vor Angst lagen sie in ihren Betten und benötigten eine geraume Weile, um sich von ihrem Bettzeug zu befreien. Weitere Minuten brauchten sie, um genügend Mut für den Weg ins Badezimmer zu sammeln und dort in den Spiegel zu schauen. Weil sich da aber kein Blut auf ihren Gesichtern zeigte, sondern nur ein paar leichte Kratzer und rote Flecken, die zudem schon verblassten, begannen sie zu ahnen, dass sie in dieser Nacht wohl selbst Opfer eines hinterhältigen Streiches geworden waren. Gleichzeitig wurde ihnen klar, dass sie zur alleinigen Zielscheibe des allgemeinen Spottes und der Schadenfreude werden würden, falls sie darüber redeten. Also entsorgten sie schnell die Schmutzwäsche und wendeten die nassen Matratzen, um die peinlichen Spuren zu vertuschen. Jeder für sich dachte auch kurzzeitig an einen Vergeltungsschlag, verwarf diese Idee aber gleich wieder, denn sie hatten sich mittlerweile viele Feinde geschaffen und wussten daher nicht genau, wer davon das vermeintliche Gespenst gewesen sein könnte.

Fabian indes lag hochzufrieden in seinem Bett und grinste voller Genugtuung zum Mond hinauf. Fantasie war doch etwas Wunderbares, dachte er für sich. Herumliegende Baumrinde, Moos und verwelkende Blätter waren in der Tat zu mehr zu gebrauchen, als nur Kompost zu werden! Nun, der Legende von Junker John würde mit Sicherheit kein weiteres Kapitel hinzugefügt werden, denn den heutigen Zwischenfall würde man mit Sicherheit nicht öffentlich diskutieren. Dennoch war damit zu rechnen, dass seine beiden Mitschüler, auf Wochen hinaus, nicht ohne Angst zu Bett gehen würden.

6

Elisa hatte sich nach Erhalt des Briefes sofort auf den Weg gemacht und war nun sichtlich müde nach der langen Autofahrt. Fabians merkwürdig klingender Wunsch überraschte sie ein wenig, da sie bisher immer geglaubt hatte, dass er im Internat gut aufgehoben und einigermaßen zufrieden gewesen sei.

„Aber wieso?“, wollte sie nun wissen.

„Ich will ihm weitere Kosten ersparen“, erklärte er, wobei er bewusst vermied, Karls Namen zu nennen oder ihn gar als Vater zu betiteln.

„Die Wahrheit bitte“, forderte sie mit bewusst strenger Miene.

„Das ist die Wahrheit“, erklärte er tonlos. „Das Internat kostet ein Vermögen. Und ich will nicht, dass er noch länger für mich bezahlt.“

„Eine Heimunterbringung ist aber auch nicht umsonst zu haben“, erwiderte sie. „Da er nicht auf die Gnade des Staates angewiesen ist, um seiner Familie Essen und ein Dach über dem Kopf bieten zu können, wird er bis zu deiner Volljährigkeit, besser gesagt, solange für deine Bedürfnisse aufkommen müssen, bis du für dich selbst sorgen kannst.“

„Ich … Das …“ Darüber hatte er sich in der Tat gar keine Gedanken gemacht, gestand sich Fabian beschämt ein. Dennoch wollte er seinen Wunsch nicht gleich wieder aufgeben. „Und wenn er die Adoption rückgängig macht?“, setzte er neu an. „Wenn er mich verstoßen würde, dann wäre er doch auch nicht mehr für mich verantwortlich, oder?“

Elisa schwankte für einen Moment zwischen Lachen und Weinen. Einerseits fand sie seine Frage überaus amüsant, weil sie deutlich machte, dass er immer noch ein Kind war, dem das Verständnis für gewisse Dinge völlig abging. Andererseits war sie zutiefst betroffen, angesichts seiner inneren Zerrissenheit, die sich kurzzeitig auf seinem Gesicht wieder spiegelte.

„Das kann er nicht.“ Um Haltung bemüht, lächelte sie den Jungen liebevoll an. „Zum einen wird Karl kaum bereit sein, seinem eigenen Ansehen selbst zu schaden, weißt du. Er hat sich in der Öffentlichkeit bisher immer nur als stolzer Vater eines hochbegabten Sohnes dargestellt, dem nichts zu teuer ist, nur damit sein Stammhalter die beste Ausbildung bekommt, die man für Geld erhalten kann. Also wird er das Risiko bestimmt nicht eingehen, dass man ihn für einen Lügner hält, der zudem seinen vertraglich vereinbarten Verpflichtungen nicht nachkommt. Außerdem würde ich niemals zulassen, dass er so etwas tut, weil du immer noch mein Sohn bist. Nein, mein Lieber, so einfach ist das nicht.“

„Aber ... Aber …“ Fabian suchte sichtlich nach Worten, fand auf Anhieb nicht die passenden, und schluckte ein paar Mal, um den Kloß loszuwerden, der plötzlich in seiner Kehle steckte und der immer größer zu werden schien. „Ich will aber weg hier“, brachte er am Ende mit erstickter Stimme hervor. „Es … Ich halte es nicht mehr aus! Hier ist es wie in einem Gefängnis, verstehst du! Jeden Tag der gleiche Trott. Und immer dieselben Gesichter.“ Jetzt, da er meinte, ein glaubwürdiges Argument gefunden zu haben, wurde auch seine Stimme sicherer. „In einem Heim würde ich nur wohnen, weißt du. Ich könnte endlich in eine öffentliche Schule gehen. Und neue Leute kennenlernen, wann immer ich das will. Ich … Ich … Es kann ruhig ein großes Heim sein. Und es würde mir auch nichts ausmachen, das Zimmer mit jemand anderem zu teilen. Bitte, hol mich hier weg!“

„Dann komm doch nach Hause“, bot sie an, war sich jedoch gleichzeitig im Klaren darüber, dass er diese Möglichkeit niemals wieder in Betracht ziehen würde.

„Ich habe kein Zuhause mehr“, erklärte Fabian dumpf. „Besser gesagt, ich hatte nie eines. Es wäre nicht gut, wenn ich wieder in euer Haus kommen würde.“

Elisa wollte etwas erwidern, doch kam sie nicht dazu, denn er fuhr bereits fort: „Ich weiß schon, was du jetzt sagen willst. Aber du machst dir da selbst etwas vor. Ich bin kein kleines Kind mehr, weißt du. Ich kann sehr wohl erkennen, ob ich erwünscht bin oder nicht. Bei ihm bin ich nicht erwünscht. Also werde ich ihn auch nicht mehr belästigen. Und du wirst ohne mich im Schlepptau auch besser dran sein. Zumindest wird er meinetwegen nicht mehr eifersüchtig sein.“

Elisa war kaum überrascht darüber, dass er die Situation so gut einzuschätzen wusste, denn sie hatte mittlerweile oft genug erlebt, dass er eine ausgezeichnete Beobachtungs-und Kombinationsgabe an den Tag legte, wenn es sich um die Beurteilung eines bestimmten Vorganges handelte. Jetzt war also endlich der Zeitpunkt gekommen, da sie dem Jungen beweisen konnte, dass ihr sein Wohl mehr am Herzen lag als irgendetwas anderes auf der Welt.

„In Ordnung“, sagte sie beherrscht. „Was hast du dir überlegt? Hast du einen bestimmten Wunsch, wo du hinwillst?“ Da sie selbst noch keine konkreten Pläne hatte, wollte sie es ihm überlassen, in welche Himmelsrichtung es gehen sollte.

„Wie wäre es mit Kassel? Da gibt’s bestimmt ein Heim, das noch Platz hat.“ Wie er ausgerechnet auf diese Stadt kam, wusste Fabian selbst nicht so genau. Aber plötzlich war der Name in seinem Kopf aufgeblitzt und ließ sich partout nicht mehr verdrängen. Fast wollte ihm scheinen, als versuche eine geheimnisvolle Macht ihn dazu zu bringen, dass er keine Alternative akzeptierte. Und so blieb er dabei, weil ihm zum einen tatsächlich keine andere Stadt einfiel, er zum anderen aber auch nicht länger darüber nachdenken wollte, wohin er gehen sollte: „Ja, Kassel wäre gut. Da will ich hin.“ Da er nun zu einer Entscheidung gelangt und zudem sicher war, dass seine Mutter … In seinem Herzen war sie die Einzige, die diese Bezeichnung tragen durfte! Sie würde ihm seinen Wunsch erfüllen, da war er sich sicher. Allein darum fühlte er sich jetzt unendlich erleichtert. Sogar ein leichtes Lächeln brachte er fertig, während er eine Schublade seines Schreibtisches öffnete, um einen Gegenstand herauszuholen, der in weißes Seidenpapier eingewickelt war. „Das möchte ich dir schenken“, erklärte er, indem er eine kleine Holzfigur aus dem Papier schälte. „Es ist nur eine Übungsarbeit. Aber ich dachte, es würde dir vielleicht gefallen.“

Elisa fand nicht einfach nur Gefallen an der Frauenfigur aus Erlenholz. Sie war buchstäblich baff, als sie feststellte, dass sie ihr eigenes Abbild in Händen hielt. Dass die Gesichtszüge noch ein wenig grob wirkten, störte sie nicht im Geringsten, denn Haare, Halsschmuck und Abendkleid waren dafür umso filigraner dargestellt.

„Wer hat dich dabei angeleitet?“, wollte sie wissen.

„Niemand“, erwiderte er achselzuckend. „Ich hab‘ es nach Gefühl gemacht.“

*

Elisa sah keinen Sinn darin, die Sache in die Länge zu ziehen. Also ging sie gleich nach ihrer Rückkehr zu ihrem Mann in den Wohnraum, um mit ihm zu sprechen.

Was will er?“ Gleich im Anschluss fluchte Karl wie ein Bierkutscher, genehmigte sich dann einen weiteren Schnaps, und maß am Ende seine Frau von Kopf bis Fuß mit einem vernichtenden Blick, bevor er sie anherrschte: „Du und dieser verfluchte Bastard! Seid ihr bekloppt, oder was? Wieso ist das Internat nicht mehr gut genug? Und wieso Heim? Wollt ihr mich etwa mit Absicht vor aller Welt lächerlich machen? Ja?“ Im Grunde war es ihm nur recht, dass Fabian nicht mehr in dem teuren Internat bleiben wollte, denn dadurch war eine Menge Geld zu sparen. Es freute ihn auch, dass der Junge nicht an eine Rückkehr nach Hause dachte, was ihm den Anblick des verhassten Bengels bis auf Weiteres ersparte. Allerdings dachte er nicht im Traum daran, einer Heimunterbringung zuzustimmen, denn die Möglichkeit, dass dieser Umstand durch irgendeinen dummen Zufall bei seinen Geschäftspartnern bekannt wurde, verursachte ihm größtes Unbehagen. „Es kommt überhaupt nicht infrage, dass der kleine Mistkerl in ein Heim geht, verstehst du“, wütete er. „Meinetwegen such’ ein anderes Internat für ihn aus. Aber solange er nicht volljährig ist, wird er gefälligst das tun, was ich ihm befehle!“

 

„Das Heim erschien ihm die einzige Möglichkeit zu sein, dich finanziell zu entlasten.“ Warum ließ sie sich überhaupt auf Diskussionen ein, fragte sie sich entnervt. Warum versuchte sie immer noch, das negative Bild zu ändern, das der sture Suffkopf sich von dem Jungen gemacht hatte, um seine eigene Charakterschwäche zu kaschieren? Selbstverständlich musste Karl informiert werden, denn er war immer noch einer von Fabians Erziehungsberechtigten. Aber im Grunde war die Entscheidung längst gefallen! Sie allein würde ab sofort darüber bestimmen, wie die Dinge laufen sollten. „Ich denke, es ist auch in deinem Sinne, wenn ich mich um eine private Unterbringung kümmere“, sagte sie beherrscht.

„Ach ja? Willst du ihn vielleicht als Dauergast in einem Hotel einquartieren? Ohne eine Aufsichtsperson, die darüber wacht, dass er keine Dummheiten macht? Und überhaupt! Wer soll das eigentlich bezahlen? Was ist, wenn ich mich weigere, die Kosten für seine Hirngespinste zu tragen?“, schnappte Karl angriffslustig. „Ha! Daran hast du nicht gedacht, gib es zu! Also sag diesem Bastard, dass er nicht die leiseste Chance hat, seinen Willen zu bekommen!“

„Ich bin ja auch noch da“, stellte Elisa mit gleichmütig klingender Stimme fest.

„Da lach ich mich ja tot!“ Karl betrachtete seine Frau mit abfälliger Miene. „Du hast wohl vergessen, dass du genauso auf mein Geld angewiesen bist, wie dieser nichtsnutzige Hurensohn! Und wenn ich nicht mitspiele, könnt ihr euch eure bekloppten Pläne in die Haare schmieren!“

Elisa betrachtete das zornig gerötete Gesicht ihres Mannes und wunderte sich insgeheim darüber, dass seine verletzenden Worte sie kaum berührten. Natürlich war ihr seine laute Stimme unangenehm. Aber sein Geschrei machte ihr schon lange keine Angst mehr. Sie hatte sich bisher stets gefügt, erinnerte sie sich, weil sie die Situation für Fabian nicht noch verschlimmern wollte. Nun, der Junge war mittlerweile im Bilde, was seine Herkunft betraf, und sie selbst nicht mehr abhängig von Karls Wohlwollen – weder finanziell noch sonst wie. Auch wenn er es bisher nicht wahrgenommen hatte, so steuerte sie doch schon seit etlichen Jahren ihren Anteil zur Haushaltskasse bei, und finanzierte darüber hinaus ihre persönlichen Ausgaben allein aus der eigenen Tasche. Es war daher gar nicht mehr notwendig, weiterhin den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen, nur damit sie vor unliebsamen Diskussionen verschont wurde.

„Ich habe es versprochen“, erklärte sie mit beherrschter Stimme. „Und du wirst mich nicht davon abbringen.“

Dass im nächsten Moment Karls Hand mit einem laut klatschenden Geräusch auf ihrer Wange landete, ließ Elisa zunächst vor lauter Schreck zurücktaumeln und den Atem anhalten. Doch dann straffte sie sich. Man hätte meinen können, sie wüchse tatsächlich um mehrere Zentimeter, während sie sich mit böse funkelnden Augen vor ihm aufbaute.

„Du hast mir dieses Kind regelrecht aufgezwungen, damit du endlich eine vollständige Familie vorzeigen konntest“, zischte sie. „Dann, als ich Fabian lieben gelernt hatte, hast du ihn mir wieder weggenommen, weil ich dich angeblich seinetwegen vernachlässigt habe. Hältst du dich für den lieben Gott, oder was?“ Ihre Stimme wurde immer lauter. „Glaubst du wirklich, du kannst die Menschen herumschubsen, wie es dir gerade in den Kram passt, und auf ihren Gefühlen herumtrampeln? Ja? Also da irrst du dich gewaltig, mein Lieber. Jetzt ist nämlich Schluss! Ich habe die Nase voll!“ Ohne jede Vorwarnung holte sie aus und schlug ihm gleichfalls mitten ins Gesicht. „Das war die Vergeltung für den ersten und einzigen Schlag, den du mir je zugefügt hast. Du wirst mich nie wieder anfassen“, stieß sie zornig hervor. „Wenn du mich auch nur noch einmal anrührst, sind wir geschiedene Leute.“

„Du … Du …“ Die Hände erhoben, so als wollte er ihr jeden Moment an die Kehle gehen, starrte er sie an und fand keine Worte, um das Ausmaß seiner Wut deutlich zu machen.

Was?“ Die Lider zu schmalen Schlitzen verengt sah sie zu ihm hinauf. „Sprich dich ruhig aus“, forderte sie ihn auf. „Gib mir einen weiteren Grund, und ich reiche die Scheidung gleich morgen früh ein.“ Dass jedes ihrer Worte wie ein Peitschenhieb auf ihn wirkte, sah sie mit Genugtuung. „Dein Geld kannst du dir übrigens sonst wo hinstecken, verstehst du! Ich kann nämlich dank der Farbkleckserei, die du ach so unbedeutend findest, dafür sorgen, dass Fabians Wunsch erfüllt wird!“ Mit dem letzten Wort drehte sie sich auf dem Absatz herum und eilte mit schnellen Schritten durch den Raum zur Tür. Jetzt war das Maß voll, grollte sie innerlich. Sie würde sich nun nicht länger davon abhalten lassen, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es sich wünschte!

7

Ein Pappschild in den Händen, auf welchem in Großbuchstaben ein Name geschrieben stand, spähte Kerstin Paulus der ankommenden Eisenbahn entgegen, mit welcher ihr neuer Schützling ankommen sollte. Seine Mutter hatte ihn ursprünglich selbst bringen wollen, erinnerte sie sich. Aber dann hatte es einen Unfall gegeben, sodass sie nun mit einem gebrochenen Bein und gequetschten Rippen im Krankenhaus lag und von dort aus den Umzug ihres Sohnes per Telefon managte.

Bei der Erinnerung an Elisa Andersen runzelte Kerstin die Stirn. Eine sichere Bleibe suche sie für Fabian, hatte die kleine Frau erklärt, weil sie nicht die Möglichkeit habe, auf die Hilfe von Verwandten zurückzugreifen. Dabei war sie jeglicher Frage nach ihrem Mann ausgewichen. Auch über sich selbst hatte sie nicht viel gesagt. Aber die Wärme und Zärtlichkeit in ihrer Stimme, wenn sie über Fabian sprach, machte mehr als deutlich, dass sie ihren Sohn über alles liebte. Da war wohl eine hässliche Trennung im Gange, mutmaßte Kerstin, denn eine andere Erklärung gab es nicht dafür, warum der Junge vorübergehend in einer Pflegefamilie versorgt werden sollte. Offenbar war schon geklärt, zu wem er nach der Scheidung gehen würde, sodass man ihn aus der Schusslinie der Gegenpartei heraushalten wollte, bis auch alles andere geregelt war.

Die bedrückenden Gedanken abschüttelnd, konzentrierte sich die blonde Frau erneut auf den mittlerweile anhaltenden Zug. Weil da aber kein allein reisender Teenager ausstieg, fühlte sie Sorge in sich entstehen. Wo war der Junge? Hatte man ihn vielleicht nicht rechtzeitig zum Bahnhof gebracht? Und wenn ja, warum hatte man dann nicht angerufen und Bescheid gesagt?

„Sie warten auf mich.“ Fabian war mit als Erster ausgestiegen und hatte zunächst einmal unschlüssig dagestanden, weil sich gleich drei blonde Frauen auf dem Bahnsteig befanden, die auf jemanden zu warten schienen. Als ihm schließlich das Pappschild in den Händen der einen aufgefallen war, hatte er die mollige, sportlich gekleidete Mittvierzigerin zunächst einmal gründlich gemustert. Und nun lächelte er sein sommersprossiges Gegenüber unverbindlich an. „Ich bin Fabian Andersen. Und Sie sind sicher Frau Paulus.“

Kerstins Kinnlade fiel buchstäblich ins Bodenlose, wobei sie ihren neuen Schützling aus weit aufgerissenen Augen anstarrte. Nicht möglich, schoss es ihr dabei durch den Sinn. Das konnte doch gar nicht sein! Oder doch? Seine Mutter hatte bei ihrem letzten Besuch kein aktuelles Foto zur Hand gehabt, dafür aber eine genaue Personenbeschreibung hinterlassen, welcher er auch entsprach. Allerdings hatte die kleine Frau vergessen, zu erwähnen, dass ihr Sohn eher einem Hunger-Gandhi als einem gesunden Teenager glich! Er war sehr groß für sein Alter – sie selbst war nicht gerade klein, wurde jetzt aber um eine halbe Kopflänge überragt – und wirklich sehr schlank. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten, und die Wangen wirkten hohl. Auf seiner Oberlippe bildete dunkler Flaum schon so etwas wie einen Schnurrbart. Und seine Stimme klang bereits mehr nach einem jungen Mann als nach einem Kind. Allein der Ausdruck seiner Augen machte deutlich, dass er keineswegs so selbstsicher war, wie es einem auf den ersten Blick vorkam.

„Meine Mutter hat mir versichert, dass mich jemand am hiesigen Bahnhof abholen würde.“ Fabian war es gewohnt, seine Gefühle nicht offen zu zeigen, sodass er in der Tat ganz gelassen wirkte, obwohl ihn die Sprachlosigkeit seiner künftigen Pflegemutter zutiefst verunsicherte. Selbst die Tatsache, dass es ihm absolut unangenehm war, so unverhohlen gemustert zu werden, verstand er zu verbergen, während er seinerseits die blauäugige Frau mit der modernen Kurzhaar-Frisur höflich anlächelte. „Da Sie aber eindeutig kein Mann sind, gehe ich davon aus, dass Sie Frau Paulus sind. Ja?“

Die nüchterne Feststellung, die eines gewissen Humors nicht entbehrte, machte Kerstin bewusst, dass sie immer noch wie eine Statue dastand und ihr Gegenüber mit offenem Mund anstarrte. Zudem war sie nicht wenig über sich selbst verwundert, denn es war lange her, dass jemand sie derart aus der Fassung gebracht hatte, dass sie ihre gute Erziehung, vor allem aber den Gebrauch ihres recht umfangreichen Wortschatzes vergaß.

„Entschuldige bitte, aber ich bin ein bisschen überrascht“, gestand sie schließlich mit einem schiefen Grinsen auf den Lippen, indem sie ihm gleichzeitig auch die Hand zum Gruß reichte. „Man hat mir nämlich nicht gesagt, dass du schon ein junger Mann bist. Also hab’ ich auf einen Teenager gewartet.“ Bei näherer Betrachtung konnte man sein wahres Alter trotzdem erkennen, revidierte sie insgeheim ihr vorangegangenes Urteil. Sie hatte sich wohl durch seine Aufmachung in die Irre führen lassen. Seine Kleidung war ausnahmslos schwarz, was ihn schon an sich sehr distanziert und unnahbar wirken ließ. Zudem erinnerte sie eher an einen Trauer-Anzug als an ein jugendliches Outfit. Es war allein sein braunes Haar, welches den super ordentlichen Eindruck ein bisschen störte, denn es war von Natur aus gelockt, sodass augenscheinlich weder der strenge Herrenschnitt noch sorgfältiges Kämmen ausreichten, um es zu bändigen.

Hätte sie in diesem Moment ihren Gefühlen nachgeben dürfen, Kerstin hätte ihren neuen Schützling am liebsten in die Arme genommen und ein paar aufmunternde Worte gemurmelt. Da sie jedoch mehr als ein Jahrzehnt Erfahrung im Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen besaß, verzichtete sie auf solch gefühlsduseliges Gehabe, wohl wissend, dass man eine körperliche Annäherung weder erwartete noch dulden würde. Also lächelte sie nur, während sie seine Hand wieder losließ.

„Ist das alles, was du mitgebracht hast?“, wollte sie wissen, wobei sie mit dem Kinn in die Richtung seines Koffers wies.

„Da ist nur was zum Anziehen drin“, erwiderte er. „Der Rest meiner Sachen steckt in einer großen Holzkiste, die man mir in den nächsten Tagen nachschicken wird.“

„Okay, dann wollen wir mal.“ Das Pappschild zusammenklappend, schob sie es gleich darauf in den nächstbesten Papierkorb, und machte sich dann auf den Weg zum Ausgang des Bahnhofes.

Eine halbe Stunde später fand Fabian sich in der Zufahrt des Paulus-Anwesens wieder und konnte nicht fassen, dass das Gebäude tatsächlich so etwas wie ein Heim sein sollte, in dem insgesamt vierzehn Kindern eine vorübergehende Zuflucht geboten wurde. Es war wohl Ende des vorigen Jahrhunderts erbaut worden, mutmaßte er, denn die hohen schmalen Fenster waren von wunderschönen Stuck-Ornamenten überdacht. Nachträglich installierte Roll-Läden, die in einem satten Dunkelgrün schimmerten, waren zum Teil heruntergelassen und kontrastierten stark zu dem weißen Anstrich der Fassade. Der Rahmen und das Grundgerüst der Eingangstür waren ebenfalls dunkelgrün gestrichen, wobei der Mittelteil vollständig aus einem bunten, in Blei gefassten Glasmosaik bestand, welches eine hoch aufgeschossene junge Frau in einem flatternden langen Kleid darstellte, die einen übergroßen und reich gefüllten Blumenkorb in der einen Hand hielt, während sie mit der anderen eine einladende Geste machte.

Eine sehr gepflegte Jugendstil-Villa, fasste Fabian seine Beobachtungen zusammen, und blickte dann erneut zum ersten Stockwerk hinauf, wo links und rechts des Gebäudes zwei Türme ähnliche Erker hervorsprangen.

„Willkommen in deinem neuen Zuhause.“ Kerstin hatte gerade so lange gewartet, dass er sich einen ersten Eindruck machen konnte. Aber jetzt strebte sie ins Haus, denn da wartete noch viel Arbeit auf sie. Ihrem neuen Schützling ein aufmunterndes Lächeln schenkend, stieg sie mit ihm die Eingangstreppe hinauf und wollte gerade die Haustür öffnen, als diese auch schon aufging.

Im ersten Moment schien da niemand zu sein. Als Fabian jedoch nach unten schaute, entdeckte er ein winziges Wesen, das zunächst mit großen Augen zu ihm hinaufsah und dann zielstrebig auf ihn zu trat, mit der eindeutigen Absicht, auf den Arm genommen werden zu wollen. Die Kleine schien ihm merkwürdig vertraut, fast so, als kenne er sie schon sehr lange. Und doch war er sich sicher, sie noch nie zuvor gesehen zu haben. Sie konnte nicht älter als vier oder fünf Jahre sein, dachte er bei sich, während er sein Gepäck abstellte.

 

Fabian hatte kaum den schmächtigen Körper des Kindes berührt, da traf es ihn wie ein starker Stromschlag, sodass er im ersten Moment ein wenig zurückzuckte. Doch dann packte er die Taille des Mädchens und nahm es hoch.

Sie war hübsch, stellte er nach einem prüfenden Blick auf die Kleine fest. Mit ihren weißblonden Haaren und den klaren grünen Augen sah sie fast wie ein kleiner Engel aus. Aber sie war dünn – viel zu leicht. Außerdem hatte sie Angst! In der Tat, stellte er verwundert fest, während sie ihre Ärmchen um seinen Nacken schlang, um sich anschließend mit aller Kraft an ihn zu drücken. Sie wurde von einer schier bodenlosen Furcht gefangen gehalten, die so intensiv von ihr ausstrahlte, dass er glaubte, dieses Gefühl würde auch auf ihn selbst übergreifen.

„Du hast ein kleines Wunder vollbracht.“ Kerstin war durch das Verhalten des kleinen Mädchens nicht weniger überrascht als der Neuankömmling. Dennoch wirkte sie nach außen hin völlig gelassen, während sie den zutiefst verunsichert wirkenden Jungen anlächelte. „Pia ist seit sechs Wochen bei uns und hat bis heute nicht ein Wort gesagt. Außerdem durfte keiner von uns sie je so halten, denn sie lässt sich normalerweise niemals freiwillig anfassen.“ Fabians Koffer aufnehmend, hakte sie sich gleich darauf bei ihm ein, zog ihn samt seiner Last ins Hausinnere und dirigierte ihn dann zur Treppe, welche augenscheinlich in das obere Stockwerk führte.

„Du kriegst das linke Turmzimmer“, flüsterte die Kleine in sein Ohr, lockerte dabei die Umarmung, um sich leicht zurücklehnen zu können, und lächelte ihn an. „Es ist genau neben meinem, weißt du.“

Fabian hörte die Worte kaum, so fasziniert war er von dem sonnigen Lächeln des Kindes. In diesem Augenblick empfand er eine so tiefe Zuneigung zu dem winzigen Wesen in seinen Armen, dass ihm buchstäblich das Herz aufging und die Kehle eng wurde. Ein ums andere Mal schluckend, um leichter atmen zu können, versuchte er die Gefühle in seinem Inneren zu verstehen, kam jedoch nicht dahinter, warum ausgerechnet ein wildfremdes Mädchen ihn derart aus dem Gleichgewicht brachte, wo er doch nichts besser beherrschte, als jede Art von Emotion von sich fernzuhalten. Nein, er war beileibe kein gefühlloser Klotz! Aber die Nähe zu anderen Menschen barg stets die Gefahr, dass man zurückgestoßen oder gar bewusst verletzt wurde. Und genau diese Befürchtung war es, die ihn gelehrt hatte, misstrauisch und zurückhaltend gegenüber seinen Zeitgenossen zu sein. Aber jetzt, in diesem Augenblick, war plötzlich alles anders, denn bei Pia war er sich absolut sicher, dass sie ihn um seiner selbst willen mochte, ihre Zuneigung also an keinerlei Bedingungen knüpfte.

„Du bist wie ich“, wisperte sie kaum hörbar. „Darum hab’ ich dich gern.“

Fabian erwiderte nichts darauf, denn zum einen musste er nun die Treppe hinauf und dabei aufpassen, dass er nicht stolperte und mit Pia hinfiel. Zum anderen war er viel zu aufgewühlt, um die richtigen Worte zu finden. Also hielt er sie bloß fest und drückte sie liebevoll an sich.

Dass er tatsächlich eines der Zimmer beziehen sollte, deren eine Hälfte aus einer sonnendurchfluteten Nische bestand, während die andere eher ein wenig schattig wirkte, weil es keine weiteren Fenster gab, als die, die sich im Halbrund des Erkers befanden, ließ Fabian relativ kalt. Selbstverständlich registrierte er, dass die Möblierung des Raumes modern und sehr gemütlich war. Und natürlich war er dankbar dafür, dass nur ein Bett darin stand. Da er jedoch kaum Wert darauf legte, ob seine Umgebung schön aussah oder nicht, weil er sich ja bloß als vorübergehender Gast betrachtete, wäre er auch mit einer sogenannten Besenkammer zufrieden gewesen, solange er nur die Tür hinter sich schließen und die Welt aussperren konnte.

„Wir haben nicht sehr viele Regeln“, erklärte Kerstin, indem sie Fabians Koffer auf das Bett hievte, um sich anschließend daneben zu setzen und einmal tief durchzuatmen. „Aber die, die wir in unserer Gemeinschaftsordnung aufgestellt haben, müssen alle im Haus beachten. Die wichtigste davon lautet; tue nichts Unüberlegtes und keinem etwas an, was du dir selbst nicht zumuten oder antun würdest.“ Das kleine Mädchen betrachtend, das immer noch an seinem Hals hing, lächelte sie leicht, bevor sie fortfuhr: „Wir bemühen uns, ohne überflüssigen Streit und ohne Aggressionen zusammenzuleben, verstehst du. Große Verbote gibt es nicht, weil wir davon ausgehen, dass die älteren von euch genug Verstand haben, um zu wissen, was richtig und was falsch ist, und die kleineren ohnehin ständig unter Aufsicht sind. So, das wäre erst einmal alles. Und jetzt entschuldige mich. Ich will mal sehen, wie weit unser Abendessen ist.“

Fabian war es gewohnt, dass man ihn zunächst eine Weile nur beobachtete, um sich ein Bild von ihm machen zu können – im Grunde machte er es nicht anders. Daher war er auf einen langweiligen Abend eingestellt, den er in irgendeiner Ecke des gemeinschaftlichen Wohnraumes oder in seinem eigenen Zimmer verbringen würde. Doch schon beim Betreten des großen Speisezimmers, in welchem ein paar Kinder verschiedener Altersstufen den Tisch deckten, wurde er mit einem freundlichen Hallo empfangen und augenblicklich zur Mithilfe angehalten. Pia zwangsweise ständig im Schlepptau, weil sie den hinteren Saum seines Sweatshirts nicht loslassen wollte, lernte er dann nach und nach alle Anwesenden mit Namen kennen, und fühlte sich schon nach kürzester Zeit nicht mehr ganz so fremd, wie noch eine Stunde zuvor. Insgeheim verwunderte es ihn zwar, dass niemand ihn auf seine Herkunft ansprach oder nach seiner Familie fragte, war jedoch gleichzeitig auch unendlich froh darüber, denn er wollte nicht über sich reden. Dass es seinen neuen Hausgenossen ähnlich ging, wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht, reagierte aber instinktiv genau richtig, indem er ebenfalls keine indiskreten Fragen stellte.

Kerstin hatte lange gezögert, doch die späte Stunde mahnte schließlich zur Vernunft. Und weil sie davon ausging, dass das Kind eher auf Fabian als auf jeden anderen hören würde, wollte sie seine Hilfe in Anspruch nehmen.

„Pia muss ins Bett“, raunte sie dem Jungen zu. „Sie schläft gleich im Sitzen ein.“

„Was? Ich …“ Der Angesprochene war in eine angeregte Unterhaltung mit Joachim Paulus vertieft gewesen und wusste daher nicht auf Anhieb, was man nun von ihm erwartete. Als er jedoch die mit Tränen gefüllten Augen des Mädchens bemerkte, welches sich immer noch eng an seiner Seite hielt, erkannte er, dass man die vorangegangene Feststellung nicht ohne Hintergedanken gemacht hatte. „Gut“, nickte er. „Ich mach das.“ Kaum zu Ende gesprochen nahm er Pia auf die Arme und ging mit ihr hinaus.

Die Zurückbleibenden indes atmeten hörbar auf, weil das allabendliche tonlose Weinen, welches keinen von ihnen je unberührt gelassen hatte, diesmal ausblieb.

In der oberen Etage angekommen setzte Fabian die Kleine ab und ließ sich dann deren Zimmer zeigen. Als er schließlich alle Details gesehen hatte, machte er ein Spiel aus dem Zubettgehen: Nach einem Abstecher ins nächstgelegene Badezimmer, wo sowohl Pias Zähne als auch ihr Gesicht gründlich geschrubbt und die Haare so lange gebürstet wurden, bis sie knisterten, geleitete er sie zu ihrem Zimmer zurück. Dort zelebrierte er das Umkleiden wie den Kleiderwechsel einer königlichen Person und hob sie am Ende mit Schwung in ihr Bett.

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