NEW PASSION

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Meine Mom sitzt eine Reihe hinter mir; da wir nur noch Restkarten bekommen haben, mussten wir diesen Kompromiss eingehen.

Im Saal befinden sich 95 Prozent Frauen. Welch Überraschung. Die restlichen fünf Prozent bestehen aus mitgezogenen Ehemännern, Lebenspartnern und homosexuellen Männern. Zu der Prozentzahl zähle ich auch noch die Musiker, die auf der Bühne stehen.

Das Licht fährt herunter und die Band beginnt zu spielen. Endlich kann ich völlig abschalten. Als Tim Bendzko die Bühne betritt, hält sich keiner mehr auf den Plätzen. Statt eines eigentlichen Sitzplatz-Konzerts, wird es doch ein Steh-Konzert. Ich singe alle Texte mit. Klatsche in die Hände, bis sie tierisch brennen und jubele, so laut ich kann, der Band zu. Mich durchdringt ein Gefühl von Freiheit. Das Gefühl habe ich die letzten zwei Tage vermisst.

Meine Mom und ich verlassen das Konzertgebäude mit fröhlicher und ausgelassener Stimmung. Wir haben beide Hunger und da momentan der Hamburger Dom auf dem Heiligengeistfeld stattfindet, beschließen wir, uns dort eine Kleinigkeit zu essen zu holen. Da es zu regnen angefangen hat, speisen wir gemütlich im Auto.

„Und? Hast du Liam schon geschrieben?“

„Jup, habe ich“, antworte ich mit vollem Mund.

„Vielleicht solltest du erst einmal aufessen, bevor wir eine Konversation starten“, sagt sie lachend. Die halb volle Schmalzkuchentüte legt sie beiseite. Sie startet den Motor und somit treten wir den Heimweg an. Während der Fahrt nutze ich die Chance, um meine Mom um Rat zu fragen.

„Mom?“ So beginne ich Gespräche immer, wenn ich ihre Hilfe brauche.

„Was ist los?“ Und mittlerweile weiß sie das.

„Ich bin unsicher, ob ich Liam noch mal treffen sollte. Mein Gefühl rät mir davon ab, aber mein Kopf sagt mir, dass ich vielleicht tolle Erfahrungen verpasse.“

„Hm … Das ist auch keine einfache Entscheidung. Du kannst auf Nummer sicher gehen und belässt es bei einem One-Night-Stand oder du gehst das Risiko ein, dass es beim zweiten Mal vielleicht nicht mehr so toll ist wie beim ersten Mal. Oft ist das Neue aufregend und spannend und macht es zu etwas Besonderem. Eine Wiederholung fühlt sich meist nicht mehr so gut an. Die Erwartung ist groß und dann wird man bitterlich enttäuscht. Aber mit Liam ist es möglicherweise anders.“

„Danke, Mom. Wenn ich an diese SM-Sache denke, dann bekomme ich irgendwie ein beklemmendes Gefühl.“

„Dann kennst du die Antwort doch schon.“

Zu Hause angekommen, mache ich mich sofort bettfertig und lege mich schlafen. Ich habe den Drang auf mein Handy zu schauen, bevor ich die Augen schließe. Aber wahrscheinlich wird eh nur eine Nachricht von Liam, in der er mich fragt, ob ich mich bereits entschieden habe, angekommen sein. Und seit dem Konzert fühle ich mich leicht und frei. Mit dem Gefühl möchte einschlafen und lasse deshalb das Handy aus.

Am Morgen nehme ich eine heiße Dusche. Meine Brustwarzen sehen fast schon wieder normal aus. Im Gegensatz zu meinem Hintern. Schade, dass die Haut dort nicht schneller verheilt. An den Schmerz beim Hinsetzen habe ich mich gewöhnt. Ich freue mich aber schon darauf, mich wieder schmerzfrei hinsetzen zu können.

Schmerz ist definitiv nicht meins. Beim besten Willen kann ich nicht nachvollziehen, dass Menschen dadurch geil werden können. Ich bin dankbar für die Erfahrung. Die Nacht hat mir durchaus gefallen. Es war neu und aufregend und das hat für mich den Reiz ausgemacht. Nach jedem Treffen mit Liam mit Spuren auf der Haut und Schmerz nach Hause zu gehen …

Nein, danke. Darauf kann ich getrost verzichten. Die Nähe und Geborgenheit werde ich vermissen. Wie auch seine Fähigkeit, die Kontrolle voll und ganz zu übernehmen. Dennoch würde ich jedes Mal mit einem flauen Gefühl im Magen zu ihm fahren. Vor allem möchte ich mein vollkommenes Freiheitsgefühl nicht aufgeben. Das ist mir gestern nach dem Konzert klar geworden.

Obwohl ich vor dem Duschen meine Blase entleert habe, habe ich das Bedürfnis, sie wieder zu entleeren. Ich befürchte das Schlimmste. Auf dem Klodeckel sitzend, versuche ich, meiner Blase freien Lauf zu lassen. Allerdings höre ich es nur dreimal plätschern. Drei verdammte Tropfen haben meine Blase verlassen und dabei habe ich dieses unangenehme Gefühl in der Blasengegend verspürt. Herzlichen Glückwunsch. Neben den ganzen Arschschmerzen hat es jetzt auch noch meine Blase erwischt. Normalerweise bekomme ich spätestens zwei Tage nach dem Akt eine Blasenentzündung. Wieder eine Premiere. Ich hatte wohl doch zu lange mit dem Klogang gewartet, als ich bei ihm war. Jetzt habe ich den nächsten Salat. Nachher kaufe ich mir Blasentee und Cranberrysaft. Mit Glück bekomme ich diese Entzündung selbst in den Griff und muss beim Arzt nicht wieder in einen kleinen Plastikbecher pinkeln. Das hasse ich. Ich habe jedes Mal Angst, mich anzupinkeln, wenn ich den Becher unter mich halte. Als Mann ist man da treffsicherer.

Nach einem guten Frühstück und einem Liter Tee, schalte ich mein Handy ein.

Liam habe ich lange genug zappeln lassen. Nun werde ich ihm meine Entscheidung verkünden.

Fünf ungelesene Nachrichten. Alle von Liam.

Melina? Hast du dich entschieden?

???

Guten Morgen. Ich hoffe du hast gut geschlafen.

Wie viel Zeit brauchst du denn noch?

Alles ok?

Ich freue mich darüber, dass er sich anscheinend für mich interessiert, aber auf der anderen Seite lösen seine Nachrichten Stress in mir aus. Leider negativen. Dann bringe ich es mal hinter mich.

Hey. Alles ok. Ich hatte gestern nach dem Konzert mein Handy direkt ausgelassen. Also … ich habe mich jetzt entschieden. Es ist nicht meins. Diese Sache mit dem Schmerz. Ich möchte das nicht. Mein Körper ist mir heilig und ich will nicht, dass ihm Schaden zugefügt wird. Dafür achte ich ihn zu sehr. Es tut mir leid. Das war wirklich eine tolle, unvergessliche Nacht für mich. Danke, Liam.

Als ich auf senden drücke und meine Worte an Liam nicht mehr rückgängig zu machen sind, besucht mich wieder diese Unsicherheit. War das die richtige Entscheidung?

Die vernünftigste auf jeden Fall, pflichtet mir mein Engelchen bei. Am liebsten würde ich ihn blockieren und seine Nummer löschen. Irgendwie habe ich Angst, dass seine Worte auf meine Absage mich verletzen könnten. Deshalb muss es die richtige Entscheidung sein.

Ich lege mein Handy aus der Hand, als ich sehe, dass er online gekommen ist. Ich bin psychisch nicht bereit für seine Antwort.

Daher geselle ich mich zu meinen Eltern ins Büro, um zu arbeiten. Mit meiner Mom halte ich noch einen kurzen Small Talk über das gestrige Konzert, bevor ich fleißig werde.

Das Buchen von Belegen ist tatsächlich eine äußerst gute Ablenkung. Meine Gedanken kreisen nur um die jeweiligen Konten.

Mein Tag verlief gut, bis auf die Tatsache, dass ich stündlich aufs Klo muss. Ich fühle mich befreit. Als sei mir eine Last von den Schultern gefallen. Erst, als ich mein Handy abends in die Hand nehme, spüre ich, wie sich meine Schultern anspannen und sich die Angst und die Unsicherheit wieder melden.

Ganz oben in meiner WhatsApp Liste erscheint Liam. Bevor ich seine Nachricht öffne, scrolle ich die Liste einmal runter und wieder hoch. Das ist ein Tick von mir. Ich vollziehe dieses kleine Ritual täglich. Eigentlich ist es nur die Neugierde, ob jemand ein neues Profilbild hochgeladen hat. Dabei fällt mir auf, dass Amb kein Profilbild mehr von sich drin hat, was wirklich ungewöhnlich ist, da sie sich immer von ihrer schönsten Seite präsentieren muss. Als ich unseren Chatverlauf öffne, kommt die Meldung auf, dass ich dieser Person keine Nachrichten mehr senden kann.

Haha. Krass, da hat die Alte mich tatsächlich einfach blockiert! Ich weiß, da ich Amber sehr gut kenne, dass es ihr spätestens in zwei Wochen leidtun wird und sie mich vermisst. Denn sie hat kaum Freunde und ist auf diese aber angewiesen. Ich komme auch gut ohne Freunde aus. Für Ratschläge habe ich meine Mom und wenn ich ins Kino oder feiern gehen will, gehe ich alleine oder ich frage Josh, ob er mich begleitet.

Amber steht nun auch auf meiner Ignore-Liste, damit ich sicher gehe, dass ich in Zukunft nichts mehr von ihr hören werde. Ihre Entschuldigung kann sie sich sonst wo hinstecken. Für mich ist das Thema durch. Nun da das geregelt ist, kann ich mich Liams Antwort widmen. Allerdings muss ich vorher noch einmal dringend auf die Toilette. Scheiß Blase! Es war wohl einfach zu krass, was Liam da mit mir angestellt hat. Aber dieses Thema ist nun auch durch. Alles aus und vorbei. Ich kann mich voll und ganz auf meine Arbeit konzentrieren.

Juhu!, ruft meine innere Stimme. Selbstverständlich mit einem ironischen Unterton.

Nachdem ich meine Blase unter Schmerzen entleert habe, lege ich mich gemütlich auf mein Bett, atme einmal tief durch und öffne dann seine Nachricht.

Hm … Schade. Aber ich akzeptiere deine Entscheidung natürlich, auch wenn ich mich gefreut hätte, weiter mit dir zu spielen. Ich will dir aber anbieten, dass wir auch normalen Sex haben können, wenn du magst. Meine Nummer hast du ja. Kannst dich immer melden.

Scheiße! Hätte er mein Nein nicht einfach gänzlich akzeptieren können? Und peng! Da ist die Unsicherheit vollkommen in mir ausgebrochen. Was mache ich denn jetzt? Wenn ich sein Angebot annehme, bin ich inkonsequent. Wenn ich es ablehne, könnte ich es spätestens dann bereuen, wenn ich Lust auf einen Schwanz bekommen sollte und mir die Selbstbefriedigung keinen Spaß macht. Ja, solche Phasen habe ich leider. Die Sehnsucht schwindet nach ein paar Tagen wieder. Nerven tut sie trotzdem. Es wäre praktisch, einen Schwanz auf Abruf zu haben. Liam ist schon ein guter Liebhaber. Den findet man auch nicht so schnell irgendwo im Internet oder in irgendeinem Club.

 

Er ist der erste Mann, der Leidenschaft in mir ausgelöst hat. Wieso sollte ich ihn demnach gehen lassen? Liam, ohne Schmerz. Das Angebot ist äußert attraktiv. Ich springe von meinem Bett und laufe die Treppen ins Büro hoch.

„Mom!“

Sie schaut von ihrem Bildschirm zu mir auf und wirkt gerade leicht gestresst, sodass ich sie eigentlich nicht ablenken mag, aber es ist wirklich dringend. Finde ich.

„Was ist denn jetzt los?“ Mein Dad arbeitet konzentriert weiter. Er weiß, dass er gar nicht wissen will, worum es geht.

„Ich habe Liam geschrieben, dass ich das Ganze nicht möchte und nun hat er mir angeboten, ganz gewöhnlichen Sex mit ihm zu haben. Soll ich das Angebot annehmen oder besser nicht? Praktisch wäre es doch schon, oder wie siehst du das?“

„So euphorisch, wie du gerade auf mich wirkst, solltest du es wohl annehmen. Solange du dich nicht in ihn verliebst, hast du doch auch kein Risiko.“

„Optisch ist er eigentlich auch überhaupt nicht mein Typ. Ich bin jedoch ziemlich neugierig, was für ein Mensch er ist. Normalerweise durchschaue ich die meisten Männer nach wenigen Minuten. Bei ihm war das nicht möglich.“

„Und wieder hast du dir die Frage doch selbst beantwortet.“

„Ja, Mom. Aber du bringst mich doch immer dahin. Danke schön!“

Ich werfe ihr einen Kuss zu und sie fängt ihn auf. Ich liebe meine Familie. Wir sind eine coole Truppe. Ansonsten wäre ich wohl schon ausgezogen. Ich habe meine Familie echt gerne um mich, sie geben mir viel Halt.

Ich stürme zurück in mein Zimmer und tippe zielsicher die Antwort auf Liams Angebot in mein Handy ein. Mit seiner Reaktion hat er mich total überrascht.

Wie könnte ich dieses Angebot ablehnen? Das nehme ich auf jeden Fall sehr gerne an.

Das freut mich natürlich. :)

Ich bin ein Mensch, der Klarheit braucht. Und ich hoffe, dass ich diese Entscheidung nicht bereuen werde, weil ich mich emotional momentan völlig frei fühle. Ich genieße es und brauche das auch. In der Vergangenheit sind einige unschöne Dinge passiert und ich habe mich echt oft richtig scheiße gefühlt. Daher wollte ich keinerlei zwischenmenschliche Beziehungen eingehen. Vor allem nicht intimer Natur, da es doch immer an Emotionen geknüpft ist. Ich will nur, dass du das weißt.

Abgeschickt, frage ich mich, was ich da eben geschrieben habe. Ohne darüber nachzudenken, habe ich diese Worte in mein Handy eingetippt.

Peinlich … Das klingt, als wenn ich davon ausgehe, dass er an einer Beziehung mit mir interessiert wäre. Ich bin es jedenfalls nicht und das weiß er jetzt. Seine Sache, was er mit der Info macht. Sofort kommt eine Antwort. Er scheint echt viel am Handy zu hängen oder er hat es auf laut.

Seit der Trennung von David, habe ich mein Handy auf lautlos. Höchstens auf Vibration. Handytöne lösen in mir negative Gefühle aus. Ich verbinde das mit unseren Streitereien über WhatsApp oder mit seinem ewigen Angerufe, weil er das per Telefonat klären wollte und ich aber dermaßen mucksch war, dass ich nicht mit ihm reden wollte. Daher antworte ich nur, wenn ich von mir aus an mein Handy gehe. Angerufen werde ich glücklicherweise so gut wie nie. David war der Einzige, mit dem ich telefoniert habe. Ich hasse telefonieren.

Alles klar.

Liams Antwort fällt knapper aus, als erwartet. Darauf antworte ich nicht. Meine Blase meldet sich wieder und ich weiß, dass es richtig schmerzhaft wird, da ich viel zu wenig getrunken habe. Ich presse, sage und schreibe, vier Tropfen aus meiner Blase, gefolgt von einem ziehenden Schmerz, der mich zusammenfahren lässt. Vorgebeugt sitze ich auf der Schüssel, bis der Schmerz langsam nachlässt.

Als ich die Tortur hinter mich gebracht habe, gehe ich in die Küche und schenke mir ein Glas Cranberrydirektsaft ein, den ich mir vorhin im Drogeriemarkt besorgt habe. Der ist so unglaublich sauer und bitter, dass sich alles in meinem Mund zusammenzieht.

Zukünftig werde ich den besser mit Wasser verdünnen. Ich mache mir noch einen Blasen-Nieren-Tee und gehe wieder auf mein Zimmer. Dort beschließe ich, etwas im Internet zu surfen. Schaue mir Bilder von Hochzeiten an, da ich im Sommer eine fotografieren werde. Etwas Inspiration kann nie schaden.

Bevor ich schlafen gehe, überprüfe ich mein Handy nach Nachrichten. Liam hat mir doch noch etwas geschrieben. Eine halbe Stunde nach seiner letzten Nachricht.

Willst du irgendwie darüber schreiben, was dir so passiert ist?

Als wenn dich das nun interessieren würde … Mit dem Lesen seiner Worte höre ich förmlich den desinteressierten Unterton in seiner Stimme mitschwingen. Aus reiner Höflichkeit gefragt. Sein Mitleid brauche ich nicht.

Nicht wirklich. Meine letzte Beziehung war einfach für den Arsch. Mehr brauchst du auch gar nicht wissen. Das ist ein komplexes Thema.

Das kann ich mir vorstellen. Da finde ich es reizvoller, wie du an meinem Schwanz saugst.

What? Mit einem schlagartigen Themenwechsel habe ich nicht gerechnet. Na dann: Lass das Spiel beginnen.

Sagst du das nicht auch nur so? Das hätte ich wahrscheinlich schon längst freiwillig getan. ;)

Nein, du kannst wirklich geil blasen. Wenn ich dich abholen würde, würde dein Kopf in meinem Schoß liegen, sobald du bei mir im Auto sitzt. Soll ich dich abholen kommen?

Will er mich jetzt ernsthaft um 23 Uhr noch abholen kommen? Aufregung macht sich in mir breit. Irgendwie geil, aber irgendwie merke ich, dass ich Angst vor unserem nächsten Aufeinandertreffen habe. Für eine Sache ist die Blasenentzündung gut. Sie verschafft mir eine glaubwürdige Ausrede.

Ich hätte auf jeden Fall Bock, aber ich habe mir eine Blasenentzündung eingefangen und muss alle zwanzig Minuten auf die Toilette.

Sehr, sehr schade. Dann ein andermal. Gute Besserung!

Danke schön.

Liam geht offline.

Ist er nun enttäuscht? Hm … Hoffentlich nicht. Ich bin ja nicht seine persönliche Nutte, die immer für ihn abrufbereit sein muss. Das hatte ich mir eigentlich eher andersherum vorgestellt. Anstatt mir darüber Gedanken zu machen, gehe ich schlafen.

Die Nacht war grauenvoll. Schlaf kam zu kurz, da ich ständig aufs Klo musste. Die Schmerzen werden immer schlimmer und der Abstand zwischen den Klogängen immer kürzer. Daher beschließe ich, nach 15 Uhr in die Notaufnahme zu gehen. Zum Frauenarzt würde ich es gar nicht erst schaffen, weil ich wirklich ständig meine Blase entleeren muss. Ein Krankenhaus vor der Tür zu haben, hat seine Vorteile.

Gleich nach der Anmeldung wird mir dieser schöne Plastikbecher in die Hand gedrückt. Ich gehe zum Patienten-WC und hoffe, dass ich genügend Tropfen Urin aus meiner Blase gepresst bekomme und dass diese dann auch im Becher landen und nicht im Klowasser oder womöglich noch auf meiner Hand. Immerhin macht das WC einen sauberen Eindruck. Ein großer Fan von öffentlichen Toiletten bin ich ja nicht gerade. Aber meine Phobie hat sich in den letzten Jahren nach und nach gelegt.

Früher habe ich immer angehalten und gewartet, bis ich zu Hause bin. Vor allem das große Geschäft ging nur zu Hause. Als ich in der 9. Klasse auf Klassenfahrt war, habe ich eine Woche lang nicht gekackt. Meine Eltern holten mich nach den sieben Tagen vom Bahnhof ab. Ich bat meinen Dad schnell nach Hause zu fahren, weil ich natürlich dringend kacken musste und Bauchschmerzen hatte. Da gab es Ärger mit meinem Dad. Er hat eine hypochondrische Veranlagung. Nun weiß ich, dass es hätte zum Darmverschluss kommen können …

Das Thema Kacken und Frauen ist ja ein heikles Thema. Frauen kacken nicht. Bei uns landen Blümchen und Glitzer in der Schüssel. Stinken tut das natürlich auch nicht. Ich glaube, dass dieser gesellschaftliche Gedanke sich da total in mein Gehirn eingefressen hatte. Gut, dass ich den losgeworden bin. Obwohl es mir trotzdem unangenehm war, als Liam mir seinen Finger in den Po gesteckt hat. Da wurde eine Grenze gesprengt. Kacken auf öffentlichen Toiletten war der erste Schritt und der zweite, öffentlich den Finger eines fremden Mannes in den Po gesteckt zu bekommen.

Die geilsten öffentlichen Toiletten, um das große Geschäft zu erledigen, sind die im Club, sprich beim Feiern gehen. Auf dem Mädchenklo überdeckt der Duft von Deo und Parfüm jeglichen Kackgeruch und der Bass dröhnt dermaßen, dass man so laut furzen kann, wie man möchte. Keine Sau wird es hören. Man kann sich total entspannen und richtig gehen lassen. Die meisten Menschen müssen auf Grund des Alkohols nur pinkeln, aber wenn ich vorhabe zu trinken, esse ich vorher ausgiebig, um eine gute Grundlage zu schaffen. Keinen Alkohol auf leeren Magen. Regel Nummer 1.

Seit fünf Minuten sitze ich auf der Kloschüssel. Nun müsste sich genügend Flüssigkeit in meiner Blase angesammelt haben. Ich hole tief Luft und lasse laufen. Unter unglaublichen Schmerzen treffe ich mit meinen Urin perfekt in den Becher. Ohne mich anzupinkeln! In diesem Moment bin ich echt ein wenig stolz auf mich. Gedanklich gebe ich mir selbst ein high-five darauf.

Nachdem ich meine Hände gewaschen und desinfiziert habe, bringe ich den warmen Becher zur Anmeldung, ohne dabei irgendjemandem in die Augen zu sehen. Beim Frauenarzt gibt es die Möglichkeit, den Becher in einen Schrank im WC abzustellen.

Na ja … es gibt Peinlicheres. Ich werde gebeten, Platz zu nehmen und zu warten.

Erst mal versuche ich, die Zeit mit einem Klatschblatt schnell verstreichen zu lassen. Nach dreißig Minuten blättern bin ich dermaßen gelangweilt, dass ich doch zu meinem Handy greife. Eigentlich sind Handys nicht erwünscht, aber ich habe meins auf lautlos und Krankenzimmer mit irgendwelchen Geräten, die auf Strahlung reagieren, sind auch nicht in der Nähe.

Freude kommt in mir auf. Liam hat geschrieben.

Hey, wie geht’s dir heute?

Sitze gerade in der Notaufnahme.

Er ist online. Juhu!

So schlimm?

Ja, es wurde leider nicht besser, sondern ganz im Gegenteil. Nun bekomme ich hoffentlich Antibiotikum verschrieben und dann sollte es besser werden. Aber ich hasse es, Tabletten einnehmen zu müssen.

Kann ich verstehen. Ich war vor Jahren das letzte Mal beim Arzt. Halte von Ärzten recht wenig. Wenn ich krank bin, was so gut wie nie vorkommt, lege ich mich hin, schlafe und trinke viel.

Sei froh, dass du bisher so gut davon gekommen bist.

Bin ich auch. Und musst du noch lange warten?

Hoffentlich nicht. Ich sitze bald eine Stunde hier rum, mit dem Gefühl die ganze Zeit pinkeln zu müssen.

Das ist doof. Ich muss dann auch mal los. Habe noch einen Job. Kannst dich ja später melden.

Alles klar. Viel Spaß.

Danke.

Und weg ist er. Viel Zeit ist nicht umgegangen, aber immerhin war es eine kleine Ablenkung.

In dem Moment sehe ich Joshi durch den Eingang kommen. Ich winke ihm zu.

„Hey, was machst du denn hier?“, frage ich ihn neugierig.

„Mama und Papa meinten, dass du hier bist und ich weiß ja, dass man hier gut einige Stunden sitzen kann und deshalb wollte ich dir Gesellschaft leisten.“

Ich nehme ihn in den Arm und drücke ihn einmal ganz doll zur Begrüßung.

„Das ist total lieb von dir! Ablenkung tut mir echt gut. Ansonsten treibt mich meine Blase noch in den Wahnsinn.“

„Sag mal … wie hast du dir die Entzündung eigentlich mal wieder eingefangen?“, fragt mich mein kleiner, lieber Bruder mit einem frechen Grinsen im Gesicht. Als schelmisch könnte man es auch beschreiben. Ich verdrehe die Augen.

„Als kennst du die Antwort nicht schon längst.“

„Natürlich, aber wer ist dafür verantwortlich. Mama wollte nichts verraten und Papa hat auch dicht gehalten.“

„Du kennst ihn nicht.“

„Dass es nicht David ist, ist mir klar. Erzähl mal, wer er ist. Muss doch wissen, mit wem ich mich anlegen muss, wenn er meiner Schwester das Herz bricht.“

„Kleiner Bruder plötzlich ganz groß.“ Ich lache herzhaft.

„Du wolltest doch immer einen älteren Bruder.“

 

„Wann habe ich das denn gesagt? Ich bin mit dir mehr als zufrieden.“ Er quiekt kurz auf, als ihm liebevoll in den Arm zwicke.

„Los, erzähl.“

„Du bist ganz schön neugierig, Josh.“

„Hey, ich soll dich doch ablenken. Und wenn ich dabei die neuesten Infos erfahre, haben wir beide was davon.“ Wo er recht hat …

„Er ist Stripper.“ Josh lässt mich nicht weiterreden.

„Mel, du hast dir einen Stripper klargemacht? Haha, nein. Wie geil ist das denn? Das glaube ich nicht! Das hätte ich dir nie zugetraut.“

Ich weiß, dass Josh David die Story gerne unter die Nase reiben würde. Er hat Joshi damals ein Geheimnis erzählt und ihn damit unglaublich belastet, weil dieses Geheimnis für mich unbeschreiblichen Schmerz bedeutete. Es handelt sich um die Wahrheit der Lüge, die er mir aufgetischt hatte. Letztendlich konnte mein kleiner Bruder es nicht mehr alleine tragen und vertraute sich meinen Eltern an. Allerdings habe ich auf eine andere unschöne Weise von der Wahrheit erfahren.

David war nämlich so klug – Achtung Ironie – und hat es einem Bekannten seinerseits erzählt, der gut mit einer meiner Freundinnen befreundet ist. Sie wohnt mittlerweile nicht mehr in Hamburg, daher sehen wir uns leider viel zu selten. Jedenfalls erzählte ihr dieser die Story und als wir alle gemeinsam, auch David, auf einer Hausparty von dem Bekannten waren, nahm mich meine Freundin zur Seite und erzählte mir das, was Joshi viel zu lange tragen musste. Eine Welt brach für mich zusammen. Ich bewundere mich immer noch dafür, dass ich die Fassung bewahren konnte. David spürte, dass irgendetwas nicht stimmt und verließ vorzeitig die Party.

In der Zeit lief es eh nicht gut zwischen uns. Wir hatten eine kleine Beziehungspause eingelegt. Ich wollte dann natürlich auch schnellstmöglich nach Hause. Meine Freundin schloss sich mir an. Leider fuhr sie nur drei U-Bahn Stationen mit mir und konnte mich somit nicht weiterablenken. Ich kämpfte die ganze Fahrt über mit den Tränen. Als ich zu Hause war, schaffte ich es kaum in mein Zimmer.

Nachdem ich meine Zimmertür geschlossen hatte, warf ich mich aufs Bett und brach in ein hysterisches Heulen aus. Noch nie in meinem Leben habe ich so geweint. Ich war noch nie dermaßen enttäuscht von einem Menschen. Ich fing an, zu hyperventilieren. Bekam kaum Luft. Ich weiß noch, wie ich mir dann Kopfhörer in die Ohren steckte, von Limp Bizkit Break Stuff anmachte und den Text wutentbrannt mitsang. Singen konnte man das natürlich nicht nennen. Meine Eltern bekamen somit Wind davon, dass irgendetwas nicht stimmte und kamen zu mir ins Zimmer. Sie waren leicht geschockt, als sie mich in einem derartigen Zustand sahen. Meine Mom nahm mich sofort in den Arm. Ich brauchte die Geschichte nicht erzählen, weil sie die schon längst kannten. Da brach nochmals eine Welt für mich zusammen. Ich war unsagbar sauer, dass David meinen Bruder damit belastet hat. Wenn ich daran denke, kommt es mir heute noch hoch. Um mich nicht auf diese Gedanken einzulassen, erzähle ich Josh mehr über Liam.

„Woah, cool, dass er auch fitnessbegeistert ist! Scheint ein guter Kerl zu sein.“

„Ja, aber irgendwie ist er auch komisch. Mal sehen, was ich noch über ihn erfahren werde.“

„Du machst das schon, Mel.“ Und dann wird endlich mein Name aufgerufen.

„Melina Stevens. Bitte in Behandlungsraum Nummer Zehn.“

„Joshi, du kannst ruhig schon nach Hause gehen. Danke, dass du mit mir gewartet hast.“

„Alles, klar. Wir sehen uns nachher. Es war mir eine Freude.“ Er zwinkert mir zu und begleitet mich bis zum Ausgang. Ich winke ihm noch einmal zu.

Im Behandlungsraum muss ich weiterhin warten. Gefühlte Stunden verbringe ich nun schon in diesem Krankenhaus. Und nur, um ein doofes Rezept zu bekommen.

Die „Behandlung“ dauert geschlagene drei Minuten. Mit einem Rezept für ein Antibiotikum in der Hand mache ich mich auf den Weg zur Apotheke, die sich gegenüber von dem Krankenhaus befindet. Das Glück ist nicht auf meiner Seite. Sie haben das Medikament nicht vorrätig. Ich setze meinen Bitte-bemitleide-mich-Blick auf und da mich ein Apotheker bedient, hat er seine Wirkung. Er ruft bei der nächsten Apotheke an und fragt nach, ob es dort vorrätig ist. Glück im Unglück. Die nächste Apotheke hat es da. Ich bedanke mich mit einem zuckersüßen Lächeln und mache mich auf dem Weg zur nächsten Apotheke, die nur drei Busstationen entfernt liegt.

Langsam brauche ich eine Toilette, aber ich weiß, dass mich meine Blase verarscht und leer ist. Ich habe nämlich seit dem letzten Klogang nichts mehr getrunken.

Mit dem Antibiotikum in der Tasche gehe ich zum Croqueladen um die Ecke. Wenn ich schon mal hier bin, kann ich mir auch gleich etwas zum Essen mitnehmen.

Zu Hause angekommen, werfe ich den Croque auf den Küchentisch und renne zur Toilette.

Fünf Tropfen. Da hätte ich mich auch einpinkeln können, das wäre keine Katastrophe gewesen.

Ich nehme zuerst die Tablette ein und genieße dann den äußerst schmackhaften Hawaii Croque. Satt lege ich mich ins Bett und höre Musik.

Zwischendurch schreibe ich Liam noch, dass ich lange warten musste, aber meine Tabletten nun bekommen habe. Er antwortet leider nicht sofort.

Erst gegen 23 Uhr sehe ich, dass mein Handy blinkt und er mir geschrieben hat.

Das ist gut. Dann bist du hoffentlich schnell wieder fit. Würde dich schon gerne bald wiedersehen.

Da kommt doch tatsächlich schon wieder dieses Gefühl von Lampenfieber in mir auf. Entspanne dich, Mel. Du brauchst doch eh noch ein paar Tage, bis du wieder fit bist.

Das hoffe ich natürlich auch, aber ein paar Tage werde ich schon noch brauchen, um vollkommen genesen zu sein. Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich dich sobald wiedersehen möchte. Vielleicht hältst du dein Wort nicht und lässt mich wieder leiden. Körperlich bist du mir bei Weitem überlegen. Da hätte ich keine Chance.

Hm … Stell dir vor, ich entscheide, wann du kommst. Ich bringe dich non stop auf heiße Gedanken. Spiele an dir, so, dass du kurz vor deinem Orgasmus bist. Und dann höre ich auf und wiederhole es. Dann entsteht richtig schnell Druck. Geistig und körperlich verlangt es dann nach Befriedigung. Aber die ist abhängig von mir und das passiert in wenigen Minuten bis Stunden. Klar, dass du ab und zu Erholung brauchst, um Sinne und Reize zu regenerieren, aber da bist du noch nicht.

Du brauchst momentan eher die fremde Bestimmung. Den Reiz benutzt zu werden. Gewollt, begehrt und verführt zu werden. Dass du hohen Wert entsprichst. Das befriedigt dich und steigert deine Lust.

Oh. Mein. Gott. Ich bin sprachlos. Wie kann Liam wissen, was mich anmacht, wenn ich mir selbst dessen vorher gar nicht bewusst war? Aber jetzt, wo er die Worte niedergeschrieben hat … Er hat es voll auf den Punkt gebracht. Der erste Teil hat mich schon ziemlich angemacht. Aber der zweite Teil seiner Nachricht hat mich umgehauen. Das stimmt. Mich macht nichts mehr an, als ein Mann, der mir das Gefühl gibt, mich zu begehren, mich unbedingt zu wollen und mich dann auf Händen zu tragen. Aber nicht auf eine schnulzige Art und Weise. Er darf dabei seine Männlichkeit nicht verlieren. Das hat Liam mit der Fremdbestimmung schon gut zum Ausdruck gebracht. Ich will einen Mann, der mich will und die Ansagen macht. Der mich benutzt, weil er mich unbedingt benutzen will. Ich bin feucht. Na super. Am liebsten würde ich mich von ihm abholen lassen und jetzt habe ich diese verfickte Blasenentzündung. So schnell kann die Stimmung umschlagen. Eben noch dankbar, eine Ausrede zu haben und plötzlich wünscht man sich nichts anderes, als gesund und fickbar zu sein.

Das stimmt. Ich weiß gar nicht, was ich dazu schreiben soll. Das hat zuvor noch kein Mann erkannt. Wie kannst du das wissen?

Tja, ich beobachte dich genau. Ich konnte es in deinen Augen sehen.

Mel, bleib cool. Du bist nur erregt. Mach ihm jetzt bloß keinen Heiratsantrag, rede ich mir selbst zu.

Oh. War mir nicht bewusst, dass ich so ein offenes Buch bin. Dann müssen die anderen Männer ja Legastheniker gewesen sein.