Rapsgezeiten

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Nach einer knappen Stunde Fahrt dann taucht, fast überraschend, Husum auf, das sich heraushebt aus der einsamen Weite, und so wie eine Großstadt wirkt. Wirkt, aber nur. Es ist viel besser.

Husum verzaubert mich, mit seinem weltoffenen Charme. So klein, und doch so selbstbewusst. Fühle mich wohl und lasse mich treiben. Über Kopfsteinpflaster und Marktplatz, entlang friesischer Bauweise, heimeliger Häuser. Durch kleine Läden, die Fußgängerzone, und am Hafen entlang. Herzallerliebst.

Ab wann empfindet ein Großstädter Stadt? Für mich, hier, in dieser Zeit, ist es genau das richtige. Es zeigt mir, wie nah sich Stadt- und Landleben auch sein können. In Berlin fühle ich mich so abgekapselt. Isoliert in der Stadt, verdammt zum Stadtleben. Dabei ist die Mauer doch schon fast zwanzig Jahre weg. Manchmal habe ich es mit Ausflügen ins Berliner Umland versucht. Habe versucht, dort einen Tag auf dem Land zu erleben, der das ausgleichen könnte, was mir zu viel ist an Stadt. Nie hat es mir auf diesen Ausflügen gefallen. Ich konnte keinen Bezug zum Berliner Umland entwickeln, nichts lieb gewinnen an der Landschaft dort. Fühlte mich immer fremd. Ob es daran liegt, dass die Nordsee nicht in der Nähe ist? Das hier fühlt sich genau richtig an: ein bisschen Husumer Stadtluft schnuppern, und dabei wissen, dass das Zuhause direkt an der Küste auf mich wartet.

Zu dem ich abends zurückfahre, durch die Landschaft, deren Anblick ich nach so kurzer Zeit schon so sehr liebgewonnen habe.

Sie mich auch?

Tag 7

Habe tatsächlich neun Stunden lang geschlafen, wie ein Stein. Wirres Zeug geträumt dabei. Von Männern, die einmal ein Rolle gespielt haben in meinem Leben. Oder es noch tun. Oder es noch gerne tun würden, oder ich noch gerne hätte, dass sie es täten. Wirres Traumzeug eben. Träumen entwirrt aber auch.

Es regnet, und ich fühle mich schlapp. Schlappes Ich drinnen, und Regen draußen, das passt: zu dem Bedürfnis, einfach nur zuhause zu sein an diesem Vormittag. Liegen bleiben, und diesen nächtlichen Traum von vergangenen Männergeschichten aus der Erinnerung tropfen lassen, bis sie leer ist und rein.

In Husum gestern habe ich eine Postkarte gekauft mit dem Spruch ‚meine Freundschaft endet nicht an deinen Grenzen‘. Sie hat mich erinnert an die letzte sich anbahnende Freundschaft, zwischen mir und einem so was von lieben Kerl aus Berlin. Wir hätten an dem einen Abend vielleicht doch nicht Rotwein trinken sollen. Oder zumindest nicht bei ihm zuhause, auf dem Sofa. Seit diesem Abend scheint er sich vor der Freundschaft zu scheuen.

Ich nicht. Ich wehre mich gegen seine Scheu.

Auch wenn man will, darf man das denn? Freundschaften händeln als seien es innigere und intensivere, als der andere will? Ich bin gerne mit Männern befreundet, komme gut mit ihnen aus. Klar, trocken, ehrlich ist das meist. Eigentlich ist die Freundschaft mit ihnen oft viel entspannter als mit Frauen - wenn nicht hin und wieder dieses Mann-Frau-Ding dazwischen käme. Dieses Ding, das die Frage nach dem Sex stellt. Und trotzdem bestehe ich auf Freundschaft. Eine Horizontale kann doch viele Vertikalen nicht zerstören, oder? Eine Horizontale darf doch keine Freundschaft zerstören. Die so oft möglich ist, und wundervoll, und bereichernd, wenn, ja wenn das blöde ‚Ding’ geklärt ist.

Städterfragen? Ich glaube hier stellt sich die keiner.

Die Tropfen draußen werden weniger, die Erinnerungstropfen im Kopf drinnen auch. Ich erfrische die Gedanken mit einem ausgedehnten Spaziergang durch die Ebbe. Füße massieren lassen vom welligen, harten, nassen Sand. Füße erwärmen in sonnendurchhitzten Pfützen. Vielleicht sind Freundschaften ja genauso: mal uneben und hart, mal tief und wärmend. Mal regnet es in ihnen, mal sind sie sonnendurchtränkt. Sie haben auch ihre Gezeiten.

Mit dem Himmel zusammen wird auch mein Kopf klar: zarte, reinweiße Wölkchen tummeln sich jetzt durch strahlendes, klares Blau.

Der Blick kann schweifen an diesem Strand, nahezu unabgelenkt. Wenige Pfahlbauten, sonst gibt es nichts. Kaum Konsumangebot. Der Strand hier gehört nicht zu denen, die zugebaut sind mit Strandbuden. Stattdessen präsentiert er großflächige Leere. Wäre diese Leere nicht, könnten sich die Menschen hier nicht verlieren, ihren Alltag verlieren, sich frei machen. Und genau das suchen doch wahrscheinlich die, die immer wieder kommen, hier. Ich auch.

Ich fange an, dieses Land zu lieben. Bin gerade mal eine Woche an diesem Ort. Und fange an, ihn zu lieben.

Auf dem Heimweg radle ich zum Supermarkt, um noch einmal so richtig einzukaufen. Auffüllen, als gäbe es kein Ende meiner Zeit hier. Denn das Ende eines Urlaubs zeichnet sich immer dann so unangenehm ab, wenn die Reste aus dem Kühlschrank aufgebraucht werden. Wenn es sich nicht mehr lohnt, ein ganzes Brot zu kaufen, oder einen ganzen Liter Milch. Wenn die Äpfel gezählt werden: einen noch für heute, und einen für die Reise. Nein, das will ich noch nicht. Der gefüllte Kühlschrank vermittelt ein Gefühl von Unendlichkeit. Von nicht endender Zeit hier.

Dieser Illusion mag ich mich hingeben, solange es noch geht.

Tag 8

Jetzt fühlt es sich wie zuhause an, wenn ich aufwache. Ein tiefes Gefühl von Zuhause-Sein breitet sich aus in mir, und ich mich darin. In meinem Garten, auf der Terrasse, an diesem sonnigen Morgen, ergeben Frühstücksreste und Schreibunterlagen ein eigenartiges Stillleben auf dem Tisch. Mein Stillleben, ein Bild meines Lebens hier.

Wie schnell sich das entwickeln kann, ein neues Leben.

Ich habe auch schon andere Alleinurlaube erlebt: da hat es mir nicht gefallen, so dass ich mich völlig fehl am Platz fühlte, und wusste nicht wirklich wohin mit mir. Habe dann eben das gemacht, was Touristen so machen, und uneingestanden doch das Ende des Urlaubs herbeigesehnt. Hier ist das anders: ein Ort kann einen willkommen heißen, wie es Menschen auch können. Das ist schwer vorstellbar, aber seit meinem Aufenthalt hier bin ich überzeugt davon, dass Orte ein Wesen haben können, ein Wesen, das mit einem kommuniziert, das einen in den Arm nimmt. Fremd und rührend zugleich ist es. Ein Gefühl, angekommen zu sein, wo ich hin sollte.

Mein Fundstück: die Halbinsel, der Ort, das Haus, der Garten. Mittendrin ich: angekommen.

Da ist diese Frau wieder, draußen, geht am Haus vorbei, die Straße entlang, mit ihrem Hund. Ich habe sie gestern schon gesehen, im Kiefernwäldchen bei den Dünen, mittendrin, abseits des Weges. Da stand sie, still, regungslos. Starrte in die Kiefern, in die Leere, wohin? Alterslos scheint sie, langes wildes lockiges Haar, fast schwarz. Verbeulte Jeans, mit Spuren des Waldes daran, erdig. Eine dicke Strickjacke trägt sie immer, wie selbstgestrickt, grobmaschig, braun wie die Kienäpfel. Sie fällt auf, diese Frau. Sie sieht so anders aus, anders als die Einheimischen. Wilder, fremder. Anders als die Touristen. Präsenter, bewusster. Sich selbst bewusster, klarer, sicherer. Und dabei so entfernt, so unnahbar. Genauso ihr Hund: stolz, erhobenen Hauptes, und zottelig und verwegen zugleich. Haben sich wohl schon über viele gemeinsame Jahre einander angepasst, die beiden. Sie scheint hier umherzustreunen. Ob sie überhaupt ein Zuhause hat? Sie sieht nicht so aus, die Vagabundin aus dem Dünenwäldchen.

Könnte mich ja mal bei meinem Vermieter, Herrn Hansen, nach ihr erkundigen. Bestimmt ist sie hier im Ort bekannt. Sollte sowieso mal hin, zu Herrn Hansen, der ein paar Häuser weiter von meinem Häuschen entfernt lebt. Ich solle vorbei kommen, wenn ich mich einsam fühle, hatte er an meinem Ankunftstag gesagt.

Nun ja, ich war noch nicht dort. Ich fühle mich nicht einsam. Ich genieße das Alleinsein.

Vielleicht sehe ich heute Abend auf dem Heimweg bei ihm vorbei. Jetzt ruft mich erst mal die Sonne an den Strand, und ich folge ihr gerne.

Es ist sehr warm heute, und der Wind schwach. Badewetter. Ich gehe ein Stück am Strand entlang, so weit, bis das Getümmel der Badenden übersichtlicher wird.

Es hat etwas Himmlisches und Erdendes zugleich, im Meer zu baden. Als wäre das Meer der Ort, in dem Himmel und Erde verschmelzen zur Ganzheit. Getragen zu werden von Wellen und Strömungen ist erdend, auch ohne Boden unter den Füßen. Dabei den strahlenden Himmel zu sehen lässt abheben in die Schwerelosigkeit, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Das Büro, mein Job, so weit weg. Verpflichtungen, Termine, was ist das? Nicht existent, der städtische Alltag, wenn ich in der Nordsee bade. Lasse mich auf dem Rücken treiben in den Wellen, strample mit den Beinen, knackiger blauer Himmel über mir, funkelndes salziges Wasser überall.

Mir fällt ein, dass ich mit Fragen im Gepäck hier ankam. Die eine hat sich beantwortet, wie von selbst: St. Peter-Ording ist er, der Ort an der Nordsee, aus dem ein Stück Heimat werden kann, und soll. Eine zweite Heimat, für mein Nordleben, das ich erweitern mag.

Da gab es noch etwas, oder? Die Zweifel am Lebensentwurf. Die Frage, ob alles so bleiben soll, wie es ist - oder ob mir das nicht zu wenig ist. Das Leben kann so viele Möglichkeiten bieten. Welche schöpfe ich aus, welche nicht? Will ich etwas verändern?

Ich weiß nicht, ob es wirklich einen Antwort ist, was sich da in meinem Kopf zusammenreimt, hier, im Wasser, am für mich schönsten Strand des Nordens. Aber es ist etwas, was mich erst einmal beruhigt, und was ich mitnehmen kann in mein Leben in Berlin:

mein Umfeld, mein Dasein, das ist alles so sehr gut so, wie es ist. Es braucht keinen Ortswechsel, und keinen Berufswechsel, nur weil das, was ist, schon lange so ist. Wenn ein Wechsel in mein Leben eintreten mag, dann soll er anklopfen. Dafür aber, dass ich ihn krampfhaft suchen sollte, dafür ist das, was ich habe, zu schön. Vielleicht ist es manchmal einfach schwer, zu genießen, was ich habe. Zu ruhen in und mit dem, was um mich ist. Dann sollte ich aber eher meine Einstellung verändern, als mein Umfeld.

 

Veränderung kommt, wenn sie kommen soll. Die einzige Veränderung, zu der ich mich hier und jetzt tatsächlich entscheide, ist: ab nächstem Jahr mehrmals im Jahr in den Norden zu reisen. Um mir etwas aufzubauen, was mein Nordleben werden könnte. Ich weiß zwar noch nicht genau, wie das finanziell umsetzbar sein wird, aber der Entschluss, der fühlt sich gut an. Ansonsten soll die Unruhe in mir bitte schweigen. Silencio. Ich will mein Leben genießen, und nicht darüber grübeln.

Eine innere Ausgeglichenheit macht sich in mir breit, die der städtische Alltag nicht zulässt. Der stellt nur Fragen, ohne zu antworten. Umzingelt mich mit Fragezeichen, treibt mich in die Enge. Hier, in der Weite, am Wasser: tauchen Antworten auf wie das Treibgut aus der Flut. Ob sie Bestand haben werden, fern der Küste, fern der Urlaubslaune? Vielleicht dann, wenn ich lerne, dem Lebensfluss zu vertrauen. Dem Lebensfluss zu vertrauen wie den Strömungen der See, die mich am Meeressaum entlang tragen.

Ich bin von der Sonne durchtränkt, und vom Glück. Die Haut prickelt von Salzwasser und Sandkörnchen. Der Wind streichelt darüber auf dem Heimweg, mit dem Rad am Deich entlang.

Die Vermieter fallen mir wieder ein. Ja, jetzt werde ich sie besuchen, Herrn und Frau Hansen.

Treffe sie an in ihrem großen Garten hinterm Reetdachhaus, wo sie sitzen und plaudern mit anderen Gästen. Der Garten, ein Biotop aus hohem satten Grün und farbenprächtigen Blüten, gespickt mit vielen Sitzgelegenheiten. Ein Stuhl wird mir hingeschoben, und ich darauf.

„Auch ein Bier?“

„Ja, gerne.“

Ich war ihm anfangs suspekt, vermute ich, dem Herrn Hansen. Habe es an seinen taxierenden friesisch-herben Blicken gesehen, als er mich am Bahnhof abgeholt hatte: ‚Großstadttussi’ muss er gedacht haben, jedenfalls sah er so aus, als ob er das dächte. ‚Denk Du nur’, habe ich gedacht. Soweit kenne ich mich nun doch schon, mich, und mich an der Küste, dass ich mich in diese Schublade nicht stecken lasse. Heute nun bestehe ich wohl seinen Test. Er beobachtet mich, versucht-heimlich aus dem Augenwinkel, ich merke es genau, auch wenn er wohl will, dass ich es nicht bemerke: er beobachtet mich beim Flens-Flasche-Öffnen. Ich bekomme den Plopp meines Lebens hin (was mich zugegebenermaßen selbst überrascht, aber was ich mir selbstverständlich nicht anmerken lasse). Ab diesem Moment, ab diesem Bilderbuch-Plopp, scheint Herr Hansen mich ins Herz zu schließen. Herzlich, väterlich, vertraut.

Es ist sehr lecker, dieses ganz besondere Eisbrecher-Flens. Ganz schnell bin ich mittendrin in der fröhlichen Runde, im Geplauder und Gelächter, im Erzählen und Austauschen. Mit offenen Armen willkommen geheißen zu werden ist etwas Wunderbares. Fühle mich von seltener, unglaublich offenherziger Gastfreundschaft umhüllt.

Auf dem Heimweg fällt mir ein, dass ich vergessen habe, Herrn Hansen nach der Vagabundin zu fragen. Was soll’s. Es ist egal. Sie ist mir sympathisch, auch wenn ich nichts über sie weiß. Vielleicht sogar dann umso mehr.

Die Nächte, in denen ich das Alleinsein, und die Abwesenheit anderer Menschen, besonders wahrnehme, sind ein wunderbares Training des Vertrauens. Des Vertrauens in den Schutz, der über mir liegt. Anfangs hatte ich ein wenig Angst. So ungewohnt, sich dem Schlaf hinzugeben, wissend keinen einzigen Menschen in der nächsten Umgebung zu haben, den ich um Hilfe rufen könnte, wenn was wäre. Aber was sollte sein? Die Nachtgeräusche des Häuschens, des Gartens, sind mir noch jetzt manchmal fremd. Was ist natürliches Knacken, was ein durch Fremde hervorgerufenes? Streunt die Vagabundin am Haus vorbei, nachts?

Vertrauen ist da das einzige, was hilft. Vertrauen ist der Gegenspieler der Angst. Wenn die Situation, die ich herbeiführe, sich richtig anfühlt – dann ist das die Grundlage für das Vertrauen. Vertrauen darauf, dass alles gut geht, weil ich weiß, dass ich das Richtige tue. Und meine Zeit an diesem Ort, in diesem Haus zu verbringen, ist das Richtigste, was ich mir nur vorstellen kann, zu tun.

Das Häuschen steht hier nicht wie die anderen: aufrecht auf ebenem Boden. Der Boden auf dem es steht, mutet eher an wie eine Mulde. Und in diese erdige Mulde schmiegt sich das ebenerdige Häuschen, als würde es kuscheln mit der Landschaft.

Dieses Bild sehe ich beim Einschlafen. Das Häuschen kuschelt sich vertrauensvoll in die Erde. Ich kuschele mich vertrauensvoll in das Häuschen. Doppelter Kokon. Geborgenheit.

Es ist erdend, allein zu verreisen. Erdend, als würde das Selbst Wurzeln bekommen und sie eingraben, weil es weiß, wer es ist: das Selbst, verwurzelt in sich. Das ist beruhigend, und stärkend. Als würde ich das zum ersten Mal erleben.

Vielleicht macht es das auch nur an ganz besonderen Orten? Besondere Orte, wie dieser einer ist?

Ich liebe es inzwischen, dieses Land.

Tag 9

Dies ist mein letzter Urlaubstag auf Eiderstedt. Trotz regenverkündender Wolken will ich noch mal raus heute, auf dem Deich entlang, Richtung Eidersperrwerk. Da sollen die Schafe sein, hat Herr Hansen mir Auskunft gegeben. Die habe ich nämlich bislang vermisst. Nordsee ohne Schafe auf dem Deich - eigentlich geht das doch gar nicht. Hier schon, denn der Deich zwischen Böhl und Ording ist geteert. Relativ selten ist das wohl an der Küste, aber die St. Peteraner wollten das so: einen geteerten Deich, überzogen mit weißem Kies. Der ‚weiße Deich‘ wird er genannt. Und auf ihm würden sich Schafe nicht nur nicht wohl fühlen, er braucht auch keine. Auf einem Grasdeich mähen die Schafe das Gras, und trampeln zugleich den Boden beständig fest, damit er nicht abgetragen wird im Sturm, oder beschädigt bei einer Sturmflut. Auf dem weißen Deich macht das der Asphalt.

Den will ich heute aber nicht sehen. Radle also zum grünen Grasdeich, mit weißen Schafen darauf wie Wollknäuel. Ewig und ewig schlängelt der Radweg sich am Wasser entlang. Links das Grün, rechts die Nordsee. Grau heute, ohne Sonne. In der Ferne höhere Wellen und Gischt.

Die Wolken werden dunkler und dichter. Fordern mich auf, umzukehren. Aber ich mag nicht auf sie hören. Mag mich vielmehr hingeben, dem ganzen Tag, und mit jeder Zelle meines Körpers diesem Land. Und je mehr ich mich hingebe, umso dichter werden die Wolken, umso dunkelgrauer bäumen sie sich auf.

Dann geht es ganz schnell: binnen weniger Sekunden erwischt mich eine Regenwand, und nimmt mich auf in das Grau, das sich nun breit macht. Das Grau, in dem Wasser und Deich sich verbinden zu einem eigenen Kosmos. Fühle mich wie aufgehoben darin. Bestandteil eines Kosmos aus grauem Himmel, grauem Dunst, grauem Regen, der sich auf sattem Grün ergießt.

Ich verschmelze damit und werde eins mit dem Land.

Regentropfen perlen vom Friesennerz ab und tropfen mir von dort in die Schuhe. Das Wasser läuft mir übers Gesicht, am Hals entlang, unter die Jacke. Alles egal. Ich lache, aus ganzem Herzen, den ganzen Rückweg lang.

Das Zuhause ist trocken und wärmt. Und trotzdem überkommt mich Wehmut. Denn was mir jetzt zu tun bleibt, ist nur noch das Koffer packen, und das Abschied-Nehmen. Sehr früh morgen geht mein Zug, zurück nach Berlin. Ich darf nicht vergessen, die Antworten einzupacken, die ich hier gefunden habe. Zusammen mit den Resten von Fischernetzen vom Böhler Strand.

Tag 10

Herr Hansen holt mich ab, um mich zum Bahnhof zu bringen. Er freut sich, dass es mir hier gefallen hat, in seiner Heimat. Würde sich noch mehr freuen, wenn ich denn auch mal bei ihm einen Urlaub verbringen würde. Sie haben eine kleine Wohnung zu einem günstigen Preis, die würde auch gut zu mir passen, meint er.

Seine Frau und er sind so entspannt, so herzlich. Was ich anfangs als friesisch-herbe Wortkargheit an Herrn Hansen wahrgenommen hatte, ist einer unglaublich offenherzigen Freundlichkeit gewichen. Ich mag sie, die Hansens. Und bin glücklich darüber, diesen Ort entdeckt zu haben, diese Halbinsel der Ruhe und Gelassenheit. Glücklich darüber, und dankbar.

Nach der Verabschiedung von Herrn Hansen stehe ich am Bahnhof und weiß, felsenfest: ich werde wieder hier her kommen. Die Vision, die ich schon als Teenager hatte, flackert auf. Die Vision vom Arbeiten in einem Haus mit Garten an der Nordsee. Sehe mich, als sei es Realität, in einem Garten vor einem Haus sitzen, und schreiben. Aber sie flackert nur auf, die Vision. Ebenso wie die Frage, ob sich für eine längere Zeit in diesem Häuschen wohl ein günstigerer Preis aushandeln ließe. Nur ein Flackern. Schon ist es wieder weg.

Der Gong der Schranke ertönt, lässt die Autos anhalten, den Weg frei machen für meinen Zug, der sich mit seinem typischen Tuten aus der Ferne ankündigt. Es hat tatsächlich zwei Bahnhöfe, dieses kleine St. Peter-Ording. Macht Sinn, weil es so langgestreckt ist an der Küste entlang: eine Haltestelle in Bad, und eine hier in Böhl. An der ich warte, und eigentlich gar nicht weg will.

Es war ergreifend schön zu erleben, wie Ebbe und Flut meinen Rhythmus bestimmt haben hier: ihn gleichmäßig gemacht haben, ruhig und beständig. Ich kann mir mich als Städterin gar nicht mehr vorstellen. Und freue mich doch auf meine Freunde, auf bekannte Gesichter, auf meinen Kiez, mein Biotop in der Stadt. Auf meine Familie: die beiden Menschen, die mich kennen, gut kennen, um mich wissen, seit Jahren. Ein wenig habe ich die beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben doch vermisst, und den Austausch mit ihnen. Denn der ist einfach etwas anderes als diese zwischenmenschlichen Momentaufnahmen, die hier stattfinden.

In der Stadt wird es wieder wesentlich lauter sein. Aber ich habe mich mit Stille gut aufgetankt. Vollgefüllt mit Stille fühle ich mich, als könnte ich sie mitnehmen, in ein Glas packen, es fest zuschrauben - für schlechte, laute Zeiten.

Ich stehe am Rand des Bahnhofs Süd, und sehe dem Zug hinterher. In ihm sitzt eine, die mir aufgefallen ist unter den Touristen, denn Alleinreisende sind selten hier in der Hochsaison.

„Marielou“ wurde sie von Herrn Hansen genannt, der sie zum Bahnhof gebracht hat. Sie hat in dem Haus von Frau Martens am Waldrand gewohnt, das zugerankt ist von Hagebuttensträuchern und Efeu. Als ich daran vorbeiging, habe ich sie dort entdeckt, und sie war mir sofort auf mir unerklärliche Weise sympathisch und fast schon vertraut. Das hat mich neugierig gemacht auf sie und ihr Leben, und ich habe versucht, möglichst viel davon mitzubekommen. Wenn ich ohnehin den ganzen Tag draußen unterwegs bin, kann ich mich ihr auch ein bisschen an die Fersen heften, dachte ich mir.

Und so war ich oft bei Marielou, oder zumindest in ihrer Nähe, ohne dass sie es merkte. Ich kenne ihre Lieblingswege inzwischen und weiß, dass sie morgens losstreunt und erst abends wiederkommt, dass sie sich treiben lässt in diesem friedlichen Land, wie ich es tue. Sie scheint kein starres Tagesprogramm zu haben wie die anderen hier. Sie wirkte eher wie eine, die sich von ihren Eindrücken leiten lässt, und von ihren Wahrnehmungen unterwegs. Vielleicht ist sie eine kleine Vagabundin, wie ich?

Ich habe ihr angesehen, wie verzaubert sie von diesem Ort ist, wahrscheinlich deshalb weil ich es kenne, denn mir ging es vor vielen Jahren genau so: seit ich zum ersten Mal hier war, wollte ich nicht mehr weg von Eiderstedt.

Tatsächlich kann zwischen einem Menschen und einem Ort etwas Besonderes existieren, das weder benannt noch erklärt werden kann. Niemand kann es benennen und erklären, weil es rational nicht existiert. Es ist irgendetwas, was als Schwingung, Karma oder Chemie durch das gutbürgerliche Vokabular kursiert, aber nie wirklich für voll genommen wird. Ich nehme es für voll, absolut. Mir schenkt Eiderstedt Zufriedenheit, und somit etwas, was in meinem Stadtleben zuletzt nicht mehr vorkam. Hier kann ich durchatmen und mit den Füssen fest auf dem Boden stehen. Auf festem Boden, der in der Stadt mit ihrer Vielfältigkeit so oft irritierend wankt.

Marielou schien viel nachgedacht zu haben, wenn ich sie unterwegs gesehen habe am Strand. Wer mit Fragen im Gepäck anreist, braucht Geduld, denn es ist sinnlos, ungeduldig auf Antworten zu warten. Wichtig ist, sich den Lebensfragen hinzugeben und ihnen Zeit und Raum zu bieten, um so den Antworten zu ermöglichen in Erscheinung zu treten.

Dabei hilft es, Vertrauen zum eigenen Lebensfluss aufzubauen. Ein Urlaub allein eignet sich wunderbar dafür, denn Alleinsein ist etwas Wesentliches: bewusstes Alleinsein bedeutet, Wahrnehmungen und Gefühle mit sich selbst auszumachen, ohne sie abgeben oder teilen zu können. Negative Empfindungen zulassen zu können und eigenständig in der Lage zu sein, sie umzuwandeln in etwas Produktives, Bereicherndes, das trainiert die Selbstsicherheit im Leben: sich sicher zu sein mit dem Selbst. Und das kann Verschüttetes wieder auftauchen lassen; verschütt gegangene Visionen seiner selbst, die in der Ruhe und Selbstversunkenheit plötzlich auftauchen können wie verschollene Schätze.

 

Mir selbst ist erst in vielen Jahren des Fragens klar geworden, dass mit sich selbst gut auszukommen das Wichtigste ist, was es zu einem guten Leben braucht, zusammen mit dem Vertrauen in sich selbst. Im umtriebigen Alltag gleicht es aber oft einer Kunst, sich an diesen Lebensfluss zu erinnern. Denn so mancher wird in seinem Alltag mehr von außen geschoben und gelenkt, als selbst von innen zu fließen.

Eigentlich sind mir andere Menschen völlig egal. Aber Marielou hat etwas, was mich interessiert. Vielleicht hat sie ganz einfach etwas von der Person, die ich einmal war, vor vielen Jahren? Wenn das so ist, dann wird sie wiederkommen nach Eiderstedt, und dann will ich wissen, wie sich ihr Leben entwickelt.

Auch wenn ich kaum Kontakte zu den Einheimischen habe, so weiß ich doch, wie ich mir die Informationen beschaffen kann, die ich haben will. Mein Blick ist weit.