Meinetwegen kann er gehen

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Briefmarkenentwurf von Kolo Moser aus dem Jahr 1917, der nicht angenommen wurde.

Erschwerend kam hinzu, dass Karl in vielen Situationen instinktiv falsch reagierte. Sein Umfeld war zunächst verärgert, dann zunehmend fatalistisch: „Des Kaisers Wankelmütigkeit war umso verhängnisvoller, als er sofort und ohne viele Umstände einen neuerlichen Wechsel vornahm, wenn er jemanden nicht sogleich seinen Wünschen und Zumutungen willfährig oder entsprechen fand. So fühlte sich niemand vor plötzlichen Verstimmungen und Ränken sicher, niemand hatte den Ehrgeiz, mit Liebe und Tatkraft zu schaffen, denn die Frage: ,Wer weiß, ob ich morgen noch im Amt bin‘, lähmte alle besseren Regungen …“33 Das „unaufhörliche System des Personenwechsels“ wurde mit der Zeit sogar als „das einzig Beständige“ seiner Regierung bezeichnet.34 Dahinter steckte aber nicht Willkür, sondern offenbar vielmehr schlichtweg Bequemlichkeit. So schilderte Cramon: „Seine Energie reichte nicht dazu aus, um Schwierigkeiten zu überwinden, er begnügte sich damit, die Persönlichkeiten zu beseitigen, die ihm Schwierigkeiten machten.“35

Mit der Zeit begann man sogar sich in Anekdoten über die Unberechenbarkeit des Kaisers zu überbieten. Vor allem seine Sprunghaftigkeit in Personalentscheidungen wurde immer auffälliger. So gab die Suche nach einer Nachfolge für Außenminister Czernin, der im Zuge der Sixtus-Affäre zurückgetreten war, Anlass für folgende groteske Situation: Karl rief Botschafter János Pallavicini in Konstantinopel an und fragt ihn, ob er das Außenministerium übernehmen würde. Pallavicini bat den Kaiser, nach Wien reisen zu dürfen, um sich über die Situation zu informieren und dann Bescheid zu geben. Karl war einverstanden und Pallavicini reiste nach Wien – inzwischen entschied sich Karl jedoch für alle völlig überraschend für Burian.36 Windischgraetz schilderte die Szene, die ihm sein Cousin Graf Berchtold erzählt hatte, folgendermaßen: In einem Salon in der Burg zu Ofen. In der Mitte des Saales stand Karl mit Tisza und Burian im Gespräch, in einer Fensternische stand der Generaladjutant des Königs, Zdenko Lobkowitz, bei der Tür stand ein Lakai. Berchtold kam herein und begrüßte Lobkowitz, der ihm im Vertrauen sagte, dass sich in diesem Salon ein Minister des Äußeren präpariere. „,Wer kann es sein‘, flüstert Berchtold zurück. ,Ich nicht‘, hauchte Lobkowitz, ,ich verstehe nichts von Politik.‘ ,Um Gottes willen‘, sagte Berchtold, ,man wird doch nicht auf mich zurückgreifen?‘ – ,Tisza ist es bestimmt nicht‘, flüsterte Lobkowitz, ,der will sich nicht aus der ungarischen Politik ausschalten lassen. Dann bleibt nur der Lakai – und eventuell Burian; der Lakai sieht ganz intelligent aus …‘ ,Ich setze zwei zu eins auf den Lakai‘, sagte Berchtold rasch; dann eben trat der Monarch auf seine beiden Hofchargen zu und sagte: ,Ich habe Baron Burian zu meinem Minister des Äußeren ernannt …‘“37 So amüsant, wie die Situation geschildert wurde, war sie natürlich nicht. Vor allem nicht für Pallavicini, der, in Wien angekommen, erfahren musste, dass die Sache hinfällig sei. Allein, dass immer offener über das Vorgehen des Kaisers gewitzelt wurde, zeigt, dass man den Kaiser zunehmend für labil und unberechenbar hielt, was definitiv kein gutes Zeichen war. Der Unmut wurde nicht nur immer größer, sondern auch immer offener ausgesprochen. So notierte Demblin: „Pallavicini wird brutal abgesagt – für die Art, wie der Kaiser desequilibriert ist, ist der ganze Vorgang charakteristisch.“38

Letztendlich sorgte Karl mit seinen überraschenden Personalentscheidungen aber „nur“ für persönliche Kränkungen und Demütigungen – wie fatal seine Überforderung und seine unvorhersehbaren Meinungswechsel für die Monarchie – und das Leben tausender Menschen – ausgehen konnten, zeigt die Tragödie um den Waffenstillstand mit Italien 1918. Nach langem Ringen mit dem Staatsrat hatte sich der Kaiser, der vehement für einen Waffenstillstand eingetreten war, durchgesetzt. Er wollte ihn zwar nicht selbst unterschreiben und hatte daher kurzerhand das Oberkommando zurückgelegt, aber er hatte sich durchgesetzt. So wurde am 3. November um 2 Uhr früh im Auftrag des Kaisers eine Radiodepesche an General Weber in Italien gerichtet, dass alle Bedingungen angenommen werden und die Truppen den Befehl erhielten, die Feindseligkeiten sofort einzustellen. Der Befehl wurde umgehend an die Heeresgruppenkommandos weitergeleitet. Um 2:30 Uhr entschied Karl jedoch, den ausgegebenen Befehl zur Einstellung des Kampfes an der Front sofort zu widerrufen. „Der Kaiser schien nun doch Bedenken zu haben, die Einstellung zu befehlen, ohne zu wissen, was die Italiener verlangen“,39 notierte Möller. Doch der Befehl war bereits an die Truppen ausgegeben und konnte nicht mehr zurückgenommen werden.


Das Thronfolgerpaar mit Sohn Otto beim Begräbnis von Kaiser Franz Joseph, 30. November 1916.

Da die Italiener erst später antworteten, dass sie ab der endgültigen Unterzeichnung 24 Stunden benötigten, um den Befehl zur Einstellung der Kampfhandlungen weiterzugeben – die Österreicher dies allerdings längst getan hatten –, betrug die Zeitdifferenz zwischen der österreichischen und der italienischen Einstellung 36 Stunden. In dieser Zeit rückten die Italiener vor und nahmen ohne einen Schuss 427.000 Mann gefangen.

Später rechtfertigte sich Karl für dieses Fiasko, dass der Waffenstillstand ein Trick der Italiener gewesen wäre, da „zum Zeitpunkt, als wir den Waffenstillstand anbefahlen, die italienischen Durchführungsbestimmungen mit der Zeitangabe des Einstellens der Feindseligkeiten noch nicht in Schönbrunn eingetroffen“40 waren. Bei aller Berücksichtigung der Hektik dieser Tage stellt sich schon die Frage: Hatte der Kaiser tatsächlich einen Waffenstillstand unterzeichnen und dann umgehend die Niederlegung der Waffen an die Front telegrafieren lassen, ohne den Zeitpunkt des Inkrafttretens zu kennen oder vereinbart zu haben? Fakt ist, dass eine solche „Panne“, die für zigtausend Soldaten Kriegsgefangenschaft bedeutete, Karls Führungsqualitäten mehr als in Frage stellt.

Viel zu lange bemühte sich sein Umfeld, den Kaiser in trügerischer Sicherheit zu wiegen. Wo er auftauchte, wurden Jubel und Begeisterung inszeniert, und der Kaiser wähnte sich populär und die Bevölkerung trotz größter Entbehrungen positiv gestimmt. Die Realität sah bereits ganz anders aus und kritische Stimmen mehrten sich, die gerade darin eine große Gefahr sahen. So notierte Baernreither im April 1918 besorgt in seinem Tagebuch: „Gerüchte, Geschichten, Tratsch wuchern. K(aiser) und K(aiser)in in den Mittelpunkt … Ovationen f. K(aiser) und K(aiser)in gemacht. Einige hundert Detektive und gemietete Menschen winken mit weißen Sacktüchern. Selbst Hohenlohe äußert sich, es sei unverantwortlich, die Majestäten so zu täuschen.“41

Wie abgeschottet der Kaiser lebte und wie stark er vor allem in den letzten Monaten der Monarchie den Bezug zur Realität verloren hatte, geht aus zahlreichen Tagebucheintragungen hervor. Während den Politikern und selbst Aristokraten die militärische Niederlage und der damit verbundene Zusammenbruch der Monarchie schon klar waren und sich alle um die Zukunft Gedanken und Sorgen machten, sorgte der Kaiser mit guter Laune für Irritation. Daran war vor allem sein engstes Umfeld schuld, wie Redlich am 22. Oktober konstatierte: „Der Kaiser und die Kaiserin sind bis vor zwei Tagen guter Laune gewesen: sie haben sich durch Seidler (Ministerpräsident Ernst Seidler von Feuchtenegg) täuschen lassen, da sie diesem elenden Dummkopf vollkommen vertrauten.“42

Doch schließlich dämmerte es auch Karl: Der Untergang zeichnete sich ab und die Monarchie war in größter Gefahr. Aber Karl hatte nicht mehr die Kraft zu kämpfen. Je hektischer um ihn herum alle agierten, desto apathischer wurde der Kaiser. Besprechungen um dringende Entscheidungen verliefen für die Politiker absolut frustrierend. Lammasch war zum Kaiser, der sich bezeichnenderweise ausgerechnet jetzt nach Reichenau zurückgezogen hatte, gefahren, um mit ihm die dringende Antwort auf Wilsons Telegramm – de facto die Formulierung der Kapitulation – zu besprechen; er berichtete, „daß er zwei Stunden dem Kaiser vorgetragen habe, daß dieser zerstreut zuhörte, meinte, ja, er wisse, wie gefährlich die Lage sei, schließlich aber erklärte, er werde einige Tage überlegen“.43 Lammasch stellte schockiert fest, „offenbar hat der Kaiser die Entschlusskraft ganz verloren!“.44

Ähnlich resigniert erlebte ihn Josef Redlich, als er einige Tage später, am 27. Oktober, zum neuen Finanzminister ernannt wurde. Seine Antrittsaudienz beim Kaiser schilderte er schonungslos: „Ich blieb 20–25 Minuten beim Kaiser, der schlecht aussieht, bleich, kleines Gesicht. Er sprach über alles mögliche, streifte die Finanzen nur, über deren Hoffnungslosigkeit er sogar zu lächeln sich anschickte … Der junge Herr spricht leicht, aber man hat nicht das Gefühl, daß die großen Dinge ihn wirklich innerlich anders berühren als das tägliche Leben. Keine Nuancen im Sehen und Beurteilen der Vorgänge: Regentenlos.“45

 

Diese scheinbare Gleichgültigkeit – Ausdruck seiner Resignation und Hilflosigkeit – verstärkte sich in den ersten Novembertagen. Als die kaiserlichen Minister am 8. November ihren Rücktritt anboten, da die Macht bereits in den Händen des republikanischen Staatsrates lag, fanden sie den Kaiser beinahe emotionslos vor: Karl wirkte auf Redlich gefasst, aber innerlich abwesend: „wieder hatte ich das Gefühl, dass ihm all diese Dinge nicht ans Innerste greifen, das Gefühl einer eigentümlichen Leere, Unwirklichkeit des ganzen Wesens.“46

Am Ende, als um ihn herum schon alles zusammenbrach und Karl noch immer von seiner gerechten und treuen Vaterrolle für seine Völker sprach, sagte ihm Erdödy schonungslos, wie er in Wien genannt werde: „Karl der Letzte.“47

Auffallend ist, dass alle engen Wegbegleiter Karls nach dem Ende der Monarchie nicht nur ihre eigenen Wege gingen, sondern offenbar keinerlei Anteil mehr am Schicksal des Ex-Kaisers nahmen. Weder seine gescheiterten Restaurationsversuche noch sein Exil auf Madeira wurden kommentiert, sein Tod war – wenn überhaupt – den meisten nur eine Zeile wert. Das wohl vernichtendste Urteil fällte Josef Redlich in seinem Tagebuch: „Der Tod von Kaiser Karl hat mich doch einige Tage lang sehr beschäftigt: Wäre er nur ein wenig ,vollwichtiger‘ als Mensch gewesen, läge eine Tragödie vor. Aber er war – zu wenig, ein zu unwesentlicher Mensch.“48

Karl der Friedenskaiser?

Nicht nur Ex-Kaiserin Zita, sondern vor allem die „Kaiser Karl Gebetsliga für den Völkerfrieden“, die über Jahrzehnte die 2004 erfolgte Seligsprechung Karls betrieb, stilisierten den letzten österreichischen Kaiser als Friedenskaiser. Doch ist diese Bezeichnung bei genauerer Betrachtung zulässig?

Als Franz Josephs Großneffe Erzherzog Karl nach der Ermordung Franz Ferdinands in Sarajevo zum Thronfolger aufstieg, war seine Einstellung zum Krieg eindeutig. Er war – wie alle anderen Vertreter des Herrscherhauses – von der Gerechtigkeit dieses Krieges überzeugt und notierte in seinen Memoiren: „Der Krieg war gerecht. Die Ermordung des Erzherzogs Franz, von internationalen Interessensgruppen angezettelt, war nur der letzte Anlaß dazu.“49 Als Karl im November 1916 Kaiser wurde, hatte Österreich mehr oder weniger alle Kriegsziele erreicht. Serbien war besiegt, Russland durch die Revolution so geschwächt, dass es kein ernsthafter Gegner mehr war, und die USA waren noch nicht in den Krieg eingetreten.

Die Situation war also für einen Friedensschluss nicht nur günstig, sondern eigentlich sogar dringend. Nach zwei Jahren begann sich die Versorgung der Truppen merklich zu verschlechtern, Kriegsmüdigkeit machte sich breit und damit verbunden wuchsen nationalistische Strömungen, die Selbständigkeit verlangten und täglich lauter wurden. Vor allem die großen Nachschubprobleme bargen großes Gefahrenpotential. So plädierte u. a. Graf Berchtold, seit März 1916 Obersthofmeister und später Oberstkämmerer Karls, der pikanterweise als ehemaliger Außenminister und Verfasser des Ultimatums an Serbien als eigentlicher Auslöser des Ersten Weltkriegs bezeichnet werden kann, vehement für einen Friedensschluss. Schon kurz vor Franz Josephs Tod hatte er in seinem Tagebuch notiert, dass man eine Einigung mit Deutschland erzielen und dringend eine „Minimalvariante“ ausgearbeitet werden müsse, in der das „Ausmaß derjenigen Gebietsabtretungen“ definiert werden sollte, „zu welchen man sich à ce moment doch bereit finden könnte, um einem völligen Niederbruch zuvorzukommen“.50 Berchtold hatte darüber sogar eine Unterredung mit dem damaligen Thronfolger Karl, dem er die Dringlichkeit schilderte: „März 1917 werden wir die letzten Marschbataillone aufstellen und dann ist unser Menschenreservoir erschöpft. Bis dahin muss Frieden geschlossen sein.“51

Am Beginn seiner Herrschaft erhoffte man sich vom jungen Kaiser neuen Elan und frische Energie und seine Auftritte, bei denen er nicht müde wurde zu betonen, dass er kein anderes Ziel habe, als den Krieg zu beenden, wurden von der bereits kriegsmüden Bevölkerung äußerst positiv aufgenommen. Doch die Schritte, die er setzte, gingen nicht wie erhofft in Richtung konkreter Friedensverhandlungen – vielmehr sollte ein Wechsel der Armeeführung einen „Siegfrieden“ ermöglichen. Karl war der Meinung, dass das Problem des sich dahinziehenden Krieges vor allem in der schwachen Führung der Armee lag, die sich durch die Lethargie Kaiser Franz Josephs in seinen letzten Lebensjahren und die damit verbundene Verselbständigung des reinen Aufrechterhaltens des status quo ergeben hatte. Der junge Kaiser brachte frischen Wind und krempelte die gesamte Armeeführung um. In seinen Memoiren, die er 1920 in seinem Schweizer Exil verfasste, urteilte Karl äußerst scharf über die beiden wichtigsten Repräsentanten der k. u. k. Armee – Oberbefehlshaber Erzherzog Friedrich und Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf: „Erzherzog Friedrich war zwar ein guter Mensch, aber gänzlich unfähig und ohne irgendeinen eigenen Willen. Besonders Conrad gegenüber war er eine reine Puppe. Conrad wieder war zwar als Chef des Generalstabs zweifellos ein sehr fähiger General; er war auch vor dem Krieg von der ganzen Armee vergöttert worden. Seit Kriegsbeginn aber vermied er es, er, der sonst so jugendliche und agile Conrad, durch seine Umgebung beeinflußt, außer einigen wenigen Frontbesuchen den so nötigen Kontakt mit der Truppe aufrechtzuerhalten. Er verschloß sich in sein Büro in Teschen und operierte mit den Divisionen wie mit den Kasterln am grünen Tisch, ausschließlich auf die nicht immer einwandfreien Meldungen der Armeen angewiesen. Außerdem hatte der im 64. Lebensjahr stehende General mitten im Kriege eine verhältnismäßig junge, geschiedene Frau ,geheiratet‘! Abgesehen davon daß diese Handlungsweise bei einem Großteil der Armee scharf kritisiert wurde, begann im Hauptquartier eine Weiber- und Protektionswirtschaft.“52 Karl zog zur Überraschung aller umgehend Konsequenzen: Conrad wurde kurzerhand gegen Arthur Arz von Straußenburg ausgetauscht und den Oberbefehl übernahm Karl selbst. Erzherzog Friedrich wurde aber nicht nur auf Grund seiner mangelnden Qualifikation als Oberbefehlshaber entlassen. Karl fand es auch untragbar, dass Friedrich gleichzeitig privat als Eigentümer einer riesigen Molkereiindustrie die Armee belieferte – und sehr gut damit verdiente. Als Friedrich „der Rahmreiche“, wie man ihn nannte, in Zeiten, als die Versorgungslage der Armee ohnehin schon schlecht war, die Preise zusätzlich erhöhte, um seinen Gewinn zu maximieren, war Karl empört. Völlig zu Recht sah er ein großes moralisches Problem darin, dass der Oberbefehlshaber mit seinen Milchgeschäften zu Reichtum gekommen war, obwohl er ohnehin schon zu den vermögenden Habsburgern zählte. Friedrich erkannte diese „schiefe Optik“ keineswegs, war völlig überrascht von seiner Ablöse und zählte ab nun gemeinsam mit seiner ehrgeizigen Frau Erzherzogin Isabella zu den familieninternen Gegenspielern Karls.


Miramare in weiter Ferne: Reise Karls an die Isonzofront am 10. April 1917.

Doch die Entschlossenheit, mit der Karl die oberste Armeeführung austauschte, setzte sich in der Leitung nicht fort. Es zeigte sich, dass Karl als Oberbefehlshaber unsicher war, immer wieder seine Meinung änderte und vor allem Entscheidungen verzögerte und verschob. Seine Unentschlossenheit verunsicherte nicht nur seine eigene Armee, sondern verärgerte auch den deutschen Bündnispartner. Ein Beispiel von vielen war Karls Hin und Her in der Frage des U-Boot-Krieges, die gegen Ende des Krieges immer brisanter wurde. Karl war eigentlich entschieden gegen den uneingeschränkten U-Boot-Krieg. So äußerte er sich seinem Vertrauten Tamás Erdödy gegenüber ganz eindeutig: „Wir werden den Unsinn eines ,uneingeschränkten U-Boot-Krieges‘ nicht mitmachen … Das In-den-Grund-Bohren wehrloser Passagierschiffe, das Ertränken von Tausenden Menschen wie Ratten, ist eine Scheußlichkeit, die ich nicht mitmachen möchte …“53 Vor allem fürchtete er völlig zu Recht, dass damit auch noch die USA in den Krieg hineingezogen würden. Deutschland, aber auch die Alliierten und nicht zuletzt die USA erwarteten eine klare Stellungnahme des österreichischen Kaisers – der jedoch schob seine Entscheidung immer wieder hinaus. Im Jänner 1917 war Deutschland des Wartens müde und beschloss den uneingeschränkten U-Boot-Krieg am 9. Jänner einfach alleine – wovon Karl, der sich weiterhin wand, nicht einmal verständigt wurde. Erst am 20. Jänner informierten die Deutschen Karl offiziell von ihrem Entschluss, worauf es zu einer gemeinsamen Konferenz kam – doch auch da konnte sich Karl zu keiner Entscheidung durchringen und vertagte diese wieder. Im Kronrat am 24. Jänner fragte Karl seinen Finanzminister Stephan Graf Burian um Rat: „Ich weiß nicht, was ich tun soll, Graf. Sie kennen meine außerordentlichen Bedenken gegen den unglücklichen U-Boot-Krieg. Aber die Deutschen drängen und drängen, ich weiß nicht, wie ich in Pleß (wo ein neuerliches Treffen mit Wilhelm stattfinden sollte) werde standhalten können …“54 Am 26. Jänner stimmte Karl schließlich zu und nannte seine Entscheidung ein „Geburtstagsgeschenk an den deutschen Kaiser“. Diese Episode zeigt Karls Schwäche augenscheinlich – und genau das empfanden auch alle Beteiligten, von den Alliierten über den Bündnispartner bis hin zu seinen eigenen Ministern, die irritiert waren, dass der Kaiser sie nach wochenlangem Hin und Her fragte, was er denn tun solle. Das war nicht der entschlossene Kaiser, den sie sich vorgestellt hatten – und den es in dieser Situation des beginnenden Zerfalls gebraucht hätte. Außenminister Czernin erklärte verbittert: „Wir sind heute die rückgratlosen Vasallen Ludendorffs.“55


Wurde gegen Arz von Straußenburg ausgetauscht:

Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf.


Besuch bei der 48. Infanteriedivision in Laas.

August von Cramon, der deutsche bevollmächtigte General beim k. u. k. Oberkommando, brachte es auf den Punkt: Karl verzettelte sich, „griff überall ein, blieb überall an der Oberfläche, erzeugte Verwirrung, Unsicherheit und Unlust“.56 Auch den „frischen Wind“ empfand er eher negativ – wobei das bei einem deutschen General vielleicht wenig überraschend ist. Er beklagte, dass der riesige Armeeapparat nur durch Einhaltung der Abläufe funktionierte – dadurch, dass Karl den Oberbefahl übernommen hatte und alles entscheiden wollte, sich aber nicht an die festgesetzten Zeiten halten konnte oder wollte, brachte er eingespielte Abläufe durcheinander, denn der ganze Apparat wartete auf seine Entscheidungen und alles blieb stehen, um Tage später hektisch weiterzuarbeiten. Dadurch entstanden zunehmend Kommunikationsfehler, die sich vor allem auf die Geduld, die Nerven und schließlich die Moral auswirkten.

Auch der Glaube an seinen „unbedingten“ Friedenswillen, den Karl nach wie vor immer wieder betonte, schwand merklich. Auch wenn der Kaiser es ehrlich meinte – es folgten einfach keine konkreten Schritte. Informelle Friedensgespräche verliefen im Sand, ohne dass Karl besonderen Druck erzeugt hätte oder vehement dafür eingetreten wäre. Im Gegenteil – entgegen allen Lippenbekenntnissen führte der Kaiser den Krieg an der Seite des deutschen Bündnispartners entschlossen weiter. Damit beschädigte er peu à peu seine eigene Glaubwürdigkeit. Da er eine offene, ehrliche Auseinandersetzung mit Deutschland offenbar scheute, suchte er andere Wege in Form eines geheimen Separatfriedens. Mag sein, dass hinter seinem Bemühen allgemeiner Friedenswille stand – die Vorgehensweise war jedoch unverständlich und am Ende desaströs. In März und Mai 1917 hatte Karl über seinen Schwager Sixtus von Bourbon-Parma hinter dem Rücken Deutschlands den Kriegsgegnern nicht nur ein geheimes Friedensangebot unterbreitet, sondern sogar versichert, dass Österreich den Anspruch Frankreichs auf Elsass-Lothringen als legitim ansehe und daher unterstützen würde. Die geheimen Verhandlungen verliefen jedoch im Sand und gerieten vorerst in Vergessenheit. Doch im Frühjahr 1918 folgte der Eklat: Frankreich veröffentlichte – provoziert von einer Rede des österreichischen Außenministers Ottokar Czernin, der zwar von der Korrespondenz wusste, aber nicht den Inhalt der Briefe kannte – die geheimen „Sixtus-Briefe“. Karl leugnete zunächst offiziell, von den Briefen zu wissen, später räumte er ein, dass es eine Korrespondenz gegeben habe – die veröffentlichten Briefe seien jedoch eine Fälschung. Doch alles Leugnen half nichts und Karl stand vor aller Welt blamiert als Lügner und Verräter da. Czernin, der sich geweigert hatte, die Schuld auf sich zu nehmen, trat erschüttert zurück. Die Folge war ein Canossagang Karls nach Spa, wo er sich und die Monarchie endgültig dem Deutschen Kaiserreich auslieferte und damit nicht nur seinen letzten Handlungsspielraum, sondern vor allem die Achtung der Alliierten verlor. Noch schlimmer war jedoch die Wirkung nach innen. Karls Umfeld war entsetzt und seine Beliebtheit am Tiefpunkt angelangt.

 

An der Piave kämpfen im Herbst 1918 auch US-Einheiten gegen die k. u. k. Truppen.

Auslöser der ganzen Affäre war ein Satz in der Rede Czernins am 2. April 1918 vor dem Wiener Gemeinderat gewesen, in dem er erwähnte, dass Frankreich einen Friedensversuch unternommen habe, der aber an den französischen Forderungen gescheitert sei. Das war natürlich eine unbedachte Provokation Frankreichs, denn es war ja genau umgekehrt gewesen. Da Czernin jedoch nicht wusste, was tatsächlich in den Sixtus-Briefen gestanden war, hatte er nicht mit einer solch vehementen Reaktion Frankreichs gerechnet – umso mehr, als er Karl die Rede vorher vorgelegt hatte und sie von diesem genehmigt worden war. Vielleicht war also der Auslöser für die folgenschwere Affäre der simple Umstand gewesen, dass Karl die Rede nicht ernst genommen und daher gar nicht wirklich durchgelesen hatte, bevor er sie abzeichnete. Der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau reagierte prompt, ließ die Bombe platzen und bezichtigte Czernin der Lüge, indem er die Existenz einer Korrespondenz über geheime Friedensverhandlungen offenbarte. Karl telefonierte daraufhin sofort mit Außenminister Czernin und wollte sich zuerst gar nicht an die Briefe erinnern, nach langem Zögern räumte er zwar ein, sich zu erinnern, versicherte aber, dass in dem Brief an seinen Schwager „niemals etwas Politisches gestanden“57 sei. Daraufhin ließ Czernin die Behauptung Clemenceaus offiziell dementieren und berichtete erleichtert in einem Telegramm an Hohenlohe: „Seine Majestät teilt mir soeben mit, dass alles, was Clemenceau sage, Lug und Trug sei, Er vollständig reines Gewissen habe und spricht mit Entrüstung über dieses Lügengewebe. Niemals habe Er Briefe politischen Inhalts an Parma gerichtet. Es handelt sich also offenbar um eine Fälschung …“58

Doch damit wurde alles nur noch schlimmer. Am 11. April gab Karl Czernin gegenüber zwar zu, in dem Brief doch über Friedensmöglichkeiten geschrieben zu haben, leugnete jedoch hartnäckig die darin vorkommende Anerkennung der französischen Ansprüche auf Elsass-Lothringen durch Österreich, womit er Clemenceau quasi einer Fälschung der Briefe bezichtigte. Czernin bat daher den Kaiser um das Konzept des „originalen“ Briefes, das dieser ihm für den nächsten Tag zusagte. Am 12. April veröffentlichte Frankreich den Brief Karls an Sixtus mit der Passage: „… bitte ich Dich, geheim und inoffiziell Herrn Poincaré, dem Präsidenten der französischen Republik, zur Kenntnis zu bringen, daß ich mit allen Mitteln und unter Anwendung meines ganzen persönlichen Einflusses bei meinen Verbündeten die gerechten Rückforderungsansprüche Frankreichs mit Bezug auf Elsaß-Lothringen unterstützen werde.“59 Karl schickte Czernin gleichzeitig sein Konzept – das die für ihn so peinliche Elsaß-Lothringen-Passage natürlich nicht beinhaltete. Czernin wollte diesen „originalen“ Text sofort veröffentlichen lassen und wunderte sich, dass Karl sich dagegen sträubte. Misstrauisch geworden, verlangte er nun vom Kaiser – eigentlich eine unglaubliche Situation – mit einem schriftlichen Ehrenwort die Authentizität seines Konzeptes zu bestätigen, in dem sich folgende Formulierung fand: „Ich hätte meinen ganzen persönlichen Einfluß zugunsten der franz. Rückforderungsansprüche bezüglich Elsaß-L. eingesetzt, wenn diese Ansprüche gerecht wären; sie sind es jedoch nicht.“60 Diesem Wunsch entsprach Karl schließlich nach einigem Zögern: „Ich gebe meinem M(inister) des Äußeren mein kaiserliches Ehrenwort, daß ich nur einen Brief an den Prinzen Sixtus von Bourbon geschrieben habe und daß die dem M(inister) des Äußeren am 12. 4. 1918 übergebene Kopie des Briefes wortgetreu und authentisch ist. Prinz Parma hat von mir keine Ermächtigung erhalten, den Brief der franz(ösischen) Regierung zu zeigen. Belgien wurde gar nicht erwähnt, und der Absatz über El(saß)-Loth(ringen) ist in dem Entwurf Clem(enceaus) gefälscht. Baden 12. 4. 1918.“61 Diese Briefversion sollte veröffentlicht und alles andere als Fälschung bezeichnet werden. Doch nicht einmal seine engsten Berater vertrauten ihrem Kaiser noch.

Wie dramatisch die Ereignisse damals abliefen, ist den Tagebuchaufzeichnungen engster Vertrauter und Mitarbeiter des Kaisers zu entnehmen. August Graf Demblin, ein Mitarbeiter des Außenministeriums, hielt die nervenaufreibenden Tage beginnend mit seinem ersten Misstrauen in seinem Tagebuch fest und notierte am 9. April über die ominösen Briefe: „… der Kaiser leugnet übrigens, jemals irgendjemandem (dem Papst?) geschrieben zu haben (wie Clemenceau es behauptet), daß er die französischen Ansprüche auf Elsass-Lothringen begreiflich finde. Hoffentlich wird ihn dies endlich davon kurieren, sich immer wieder von der Kaiserin in politische Extra-Touren hineinreiten zu lassen.“62 Doch die Lüge des Kaisers flog auf und Demblin schrieb tief erschüttert: „Fahre dann per Auto nach Wien mit dem angeblichen Text des vom Kaiser an Prinz Sixtus gerichteten Briefes. Lügt der Kaiser wieder oder ist der Text authentisch? Inzwischen veröffentlicht Clemenceau seinen Text und der Skandal ist da! Wer glaubt dem Kaiser noch? Wir sind Deutschland und der Entente gegenüber furchtbar kompromittiert, es gibt kaum mehr einen Ausweg aus dem Gewebe an Verstellung und Lüge, da der Kaiser, statt Czernin gleich reinen Wein einzuschenken, nur langsam mit der Wahrheit herausrückt und morgen widerrufen muß, was er heute als Wahrheit bekräftigt. Soweit sind wir mit der parmesanischen Politik gekommen!“63 Die Situation war natürlich vor allem Deutschland gegenüber entsetzlich peinlich. General von Cramon notierte: „Schon bei der ersten Verlautbarung Clemenceaus konnte ich im Oberkommando und in den österreichischen Kreisen, mit denen ich zusammenkam, die Wahrnehmung machen, daß man weit mehr geneigt war, dem französischen Ministerpräsidenten zu glauben als dem österreichischen Kaiser. Als dann in Baden der Wortlaut des Sixtusbriefes bekannt wurde, war der Eindruck ein niederschmetternder. Es herrschte allgemein die Überzeugung, daß sich der junge Kaiser in ein Lügennetz verstrickt hatte.“64 Arz versuchte am 12. April, die Situation ansatzweise zu retten, und bat Cramon: „Ich traue mich kaum, Ihnen ins Auge zu sehen; unsere treue Kameradschaft und persönliche Freundschaft treiben mich aber zu einer Aussprache. Die Erfahrungen, die wir gegenwärtig machen, sind überaus traurige. Rechnen Sie es der Jugend und Unerfahrenheit des Kaisers, den Einflüssen, denen er ausgesetzt ist, und seiner unglückseligen Neigung, unter allen Umständen zu einem Frieden kommen zu wollen, zugute, wenn sich Unverständliches ereignete, und urteilen Sie nicht zu schroff über ihn. Zu entschuldigen ist leider nichts.“65

Vor allem die Stimmung im Armeeoberkommando war für Karl ein Desaster. Möller notierte: „Offiziere und Beamte waren sehr ernst, schweigsam, eine schwere Last lag auf ihren Gemütern. Man hatte das Gefühl etwas Unersetzliches verloren zu haben – man hatte seinen Kaiser im Herzen verloren!“66 Und Arz stellte tief erschüttert fest: „Ich habe erfahren, dass mein Kaiser lügt.“67

Ähnlich erschüttert zeigte sich Joseph Baernreither, der in seinem Tagebuch noch deutlicher wird: „12. April. Aufsehen, das der Brief von K(aiser) Karl gemacht hat, ungeheuer. Sein Dementi wird bezweifelt, ist auch nicht glücklich abgefasst. Heute früh bei Czernin. Er erklärt: noch nie habe er den Kaiser in hellem Zorn gesehen. Diesmal war er heftig und ausser sich, sprach von ,Schweinerei‘ und gab Cz(ernin) sein kais(er)l(iches) Wort, daß er den Brief nicht geschrieben habe …“68

Karl sah sich nun auch genötigt, sich vor seinem Bündnispartner zu verteidigen, und schickte folgendes Telegramm an Kaiser Wilhelm: „Der französische Ministerpräsident, in die Enge getrieben, sucht dem Lügennetz, in das er sich selbst verstrickt hat, zu entrinnen, indem er immer mehr und mehr Unwahrheiten anhäuft und sich nicht scheut, nunmehr auch die völlig falsche und unwahre Behauptung aufzustellen, daß Ich irgendwelche ,gerechten Rückerwerbungsansprüche Frankreichs auf Elsaß-Lothringen‘ anerkannt hätte. Ich weise diese Behauptung mit Entrüstung zurück. In einem Augenblick, in welchem die österreichisch-ungarischen Kanonen gemeinsam mit den deutschen an der Westfront donnern, bedarf es wohl kaum eines Beweises dafür, daß Ich für Deine Provinzen genau so kämpfe und auch ferner zu kämpfen bereit bin, als gälte es Meine eigenen Länder zu verteidigen …“69 Peinlicherweise war es genau umgekehrt und Karl war es, der sich immer tiefer in sein „Lügennetz“ verstrickte. Baernreither notierte trocken: „15. April. ,Katastrophe‘ ist der mildeste Ausdruck, der heut in aller Munde ist. Katastrophe für den Kaiser u. die Dynastie, für unser Bündnis u. für unsere inneren Verhältnisse …18. April. Kaiser gegen seinen eigenen T(h)ron derart mit Ententefeinden in Verbindung, die bei jedem anderen Hochver(rat) wäre. (Beck: ohne es zu verstehen!) Wenn der Brief zu widerlegen wäre, hätte es geschehen müssen. Czernin hat nichts gewusst …“70

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