Sprache: Wege zum Verstehen

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8 Sprachzeichen als psychische Größen

Das sprachliche Zeichen hat zwei Seiten

Die Wörter einer Sprache, die lexikalischen Einheiten, müssen wir lernen, das ist selbstverständlich. Es sind eben konventionelle Zeichen. Das Lernen eines Zeichens führt dazu, dass es Bestandteil der Kenntnisse eines Menschen ist, und dies bedeutet, dass es sich um eine psychische Größe handelt. Die Sprachkenntnis besteht also darin, dass ein Mensch in seinem Kopf über eine Menge von Einheiten verfügt, bei denen ein Zeichenkörper konventionell mit einer bestimmten Bedeutung verbunden ist. Es handelt sich daher um komplexe Einheiten, die aus der Verbindung von zwei Größen, Ausdruck und Inhalt, bestehen. Dass die Verbindung konventionell ist, heißt auch, dass weder eine

Die Verbindung ist arbiträr

bestimmte Bedeutung natürlicherweise mit einem bestimmten Zeichenkörper verbunden wird, noch dass ein bestimmter Zeichenkörper natürlicherweise auf eine bestimmte Bedeutung hinweist. Saussure nennt dies die Arbitrarität des Zeichens (l’arbitraire du signe). Tatsächlich gibt es in Sprachsystemen fast überhaupt keine ikonischen Elemente; nur einigen Randerscheinungen kann ein solcher Charakter

Lautmalerei: Onomatopoetika

zugesprochen werden. Dies sind vor allem lautnachahmende Ausdrücke wie kikeriki, cocorico oder cock-a-doodle-doo, die mehr oder weniger gut den Hahnenschrei imitieren und in dieser konventionellen Form in das Lexikon der deutschen, französischen bzw. englischen Sprache eingegangen sind. Solche Zeichen nennt man onomatopoetische (von griechisch onomatopoiein ›benennen‹ – die ursprüngliche Bedeutung enthält also nicht die Komponente ›lautmalerisch‹).

Die Inhaltsseite: signifié

Daran, dass die Bedeutung psychisch gespeichert ist, würde wohl niemand zweifeln. Denn gespeichert haben wir ja nicht etwa die konkrete Vorstellung des einen Telefons, das jemand meint, wenn er sagt Geh mal zum Telefon – und natürlich schon gar nicht das Telefon selbst, denn physische Objekte kann man gar nicht im Kopf speichern. Immerhin wäre es denkbar, dass das, was wir da gespeichert haben, visuelle Eindrücke der diversen Telefone sind, die wir im Laufe unseres Lebens gesehen haben. Dann würde allerdings jeder mit dem Ausdruck Telefon etwas anderes verbinden. Das ist ja wahrscheinlich auch der Fall, für jeden ergeben sich individuelle Assoziationen auf Grund der |49◄ ►50| jeweils besonderen Erfahrungen, die er mit diesem Gerät gemacht hat. Diese individuellen Assoziationen können aber nicht Bestandteil des Sprachsystems sein, denn sie sind eben nicht kollektiv verbindlich und konventionalisiert. Zum Sprachsystem gehört vielmehr nur eine sehr abstrakte Bedeutung, die im Duden Universalwörterbuch folgendermaßen (wohl nicht ganz glücklich) umschrieben wird: ›Apparat (mit Handapparat und Wählscheibe oder Drucktasten), der über eine Drahtleitung oder drahtlos Telefonate möglich macht‹. Diese Komponente des Zeichens nennt nun Saussure zunächst concept, und er führt dann dafür den Terminus signifié ein. Der signifié ist also die psychisch gespeicherte abstrakte Bedeutung eines Zeichens.

Die Ausdrucksseite: signifiant

Schwieriger zu verstehen ist schon, dass auch die lautlichen und grafischen Komponenten psychisch gespeichert und abstrakt sind, denn bei ihnen handelt es sich ja durchaus um reale, physikalische Phänomene. Dennoch – oder vielmehr gerade deswegen, weil die jeweils realen Lautfolgen oder grafischen Gebilde empirische Einzelphänomene sind – müssen wir von ihnen eine abstrakte Vorstellung haben, so abstrakt, dass man in verschiedenen konkreten Realisierungen immer dasselbe Element wiedererkennen kann. So erkennen wir in den folgenden Realisierungen immer denselben Zeichenträger wieder:


Auch wenn man dieses Wort akustisch realisiert, kann man das auf sehr verschiedene Weise tun. Psychisch gespeichert ist jedoch nur das abstrakte Laut- oder Schriftbild, das von diesen Verschiedenheiten absieht. Saussure nennt dies (unter Beschränkung auf die gesprochene Sprache) zunächst image acoustique und führt dann dafür den Terminus signifiant ein. Dieser soll von jetzt an auch bei uns den Ausdruck Zeichenträger ersetzen. Das Zeichen wird danach von Saussure wie in Abbildung 8 modelliert.

Die Konventionalität der Zeichen

Signifié und signifiant bilden zusammen das sprachliche Zeichen (signe linguistique). Sie sind, wie Saussure sagt, miteinander verbunden wie zwei Seiten eines Blattes Papier. Auf Grund der festen Zuordnungskonvention im Rahmen des einzelsprachlichen Systems ruft ein signifiant im Geiste unmittelbar den zugehörigen signifié hervor – und andersherum. Die Beziehung ist nicht auflösbar. Man spricht sprachlichen Zeichen deshalb die Eigenschaft der Konstanz zu. Wer also willkürliche Veränderungen in den Zuordnungen vornimmt (und nicht wenigstens sicherstellt, dass diese Sonderkonventionen auch von anderen übernommen werden), kann mit Hilfe des gegebenen Sprachsystems nicht mehr kommunizieren (vgl. dazu das Textbeispiel 10). Dies gilt, obwohl es ja im Prinzip gleichgültig (arbiträr) ist, welcher signifiant einem bestimmten signifié zugeordnet wird und die verschiedenen Einzelsprachen ganz unterschiedlich verfahren. Dies zeigt noch einmal die große Bedeutung der Konventionalität des sprachlichen Zeichens. Sprachzeichen funktionieren eben immer nur im Rahmen des Systems einer langue.


Abb. 8: Das sprachliche Zeichen nach Saussure

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Textbeispiel 10: Sprachliche Langeweile

Ich will von einem alten Mann erzählen, von einem Mann, der kein Wort mehr sagt, ein müdes Gesicht hat, zu müd zum Lächeln und zu müd, um böse zu sein. […]

Der alte Mann machte morgens einen Spaziergang und nachmittags einen Spaziergang, sprach ein paar Worte mit seinem Nachbarn, und abends saß er an seinem Tisch.

Das änderte sich nie, auch sonntags war das so. Und wenn der Mann am Tisch saß, hörte er den Wecker ticken, immer den Wecker ticken.

Dann gab es einmal einen besonderen Tag, einen Tag mit Sonne, nicht zu heiß, nicht zu kalt, mit Vogelgezwitscher, mit freundlichen Leuten, mit Kindern, die spielten – und das Besondere war, daß das alles dem Mann plötzlich gefiel.

Er lächelte.

»Jetzt wird sich alles ändern«, dachte er […]

Aber im Zimmer war alles gleich, ein Tisch, zwei Stühle, ein Bett. Und wie er sich hinsetzte, hörte er wieder das Ticken, und alle Freude war vorbei, denn nichts hatte sich geändert.

Und den Mann überkam eine große Wut. […]

»Immer derselbe Tisch«, sagte der Mann, »dieselben Stühle, das Bett, das Bild. Und dem Tisch sage ich Tisch, dem Bild sage ich Bild, das Bett heißt Bett, und den Stuhl nennt man Stuhl. Warum denn eigentlich?« Die Franzosen sagen dem Bett »li«, dem Tisch »tabl«, nennen das Bild »tablo« und den Stuhl »schäs«, und sie verstehen sich. Und die Chinesen verstehen sich auch.

»Weshalb heißt das Bett nicht Bild«, dachte der Mann und lächelte, dann lachte er, lachte, bis die Nachbarn an die Wand klopften und »Ruhe« riefen.

»Jetzt ändert es sich« rief er, und er sagte von nun an dem Bett »Bild«.

»Ich bin müde, ich will ins Bild«, sagte er, und morgens blieb er oft lange im Bild liegen und überlegte, wie er nun dem Stuhl sagen wolle, und er nannte den Stuhl »Wecker«.

Er stand also auf, zog sich an, setzte sich auf den Wecker und stützte die Arme auf den Tisch. Aber der Tisch hieß jetzt nicht mehr Tisch, er hieß jetzt Teppich. Am Morgen verließ also der Mann das Bild, zog sich an, setzte sich an den Teppich auf den Wecker und überlegte, wem er wie sagen könnte.

Dem Bett sagte er Bild.

Dem Tisch sagte er Teppich.

Dem Stuhl sagte er Wecker.

Der Zeitung sagte er Bett.

Dem Spiegel sagte er Stuhl.

Dem Wecker sagte er Fotoalbum.

Dem Schrank sagte er Zeitung.

Dem Teppich sagte er Schrank.

Dem Bild sagte er Tisch.

Und dem Fotoalbum sagte er Spiegel.

Also:

Am Morgen blieb der alte Mann lange im Bild liegen, um neun läutete das Fotoalbum, der Mann stand auf und stellte sich auf den Schrank, damit er nicht an die Füße fror, dann nahm er seine Kleider aus der Zeitung, zog sich an, schaute in den Stuhl an der Wand, |51◄ ►52| setzte sich dann auf den Wecker an den Teppich und blätterte den Spiegel durch, bis er den Tisch seiner Mutter fand.

Der Mann fand das lustig, und er übte den ganzen Tag und prägte sich die neuen Wörter ein. Jetzt wurde alles umbenannt: Er war jetzt kein Mann mehr, sondern ein Fuß, und der Fuß war ein Morgen und der Morgen ein Mann. […]

Der alte Mann kaufte sich blaue Schulhefte und schrieb sie mit den neuen Wörtern voll, und er hatte viel zu tun damit, und man sah ihn nur noch selten auf der Straße.

Dann lernte er für alle Dinge die neuen Bezeichnungen und vergaß dabei mehr und mehr die richtigen. Er hatte jetzt eine neue Sprache, die ihm ganz allein gehörte. […]

Und es kam so weit, daß der Mann lachen mußte, wenn er hörte, wie jemand sagte:

»Gehen Sie morgen auch zum Fußballspiel?« Oder wenn jemand sagte: »Jetzt regnet es schon zwei Monate lang.« […]

Er mußte lachen, weil er all das nicht verstand.

Aber eine lustige Geschichte ist das nicht. Sie hat traurig angefangen und hört traurig auf. Der alte Mann im grauen Mantel konnte die Leute nicht mehr verstehen, das war nicht so schlimm. Viel schlimmer war, sie konnten ihn nicht mehr verstehen.

 

Und deshalb sagte er nichts mehr.

Er schwieg, sprach nur noch mit sich selbst, grüßte nicht einmal mehr.


Die relative Motiviertheit

Wenn die Beziehung zwischen signifiant und signifié – da sie ja arbiträr ist – für jedes Gesamtzeichen einzeln gelernt werden müsste, wäre die Aufgabe, eine Sprache zu lernen, unglaublich groß. In Wirklichkeit müssen wir jedoch nicht jedes Einzelzeichen mit seinen zwei Seiten neu lernen. Wenn man z.B. weiß, dass drei ›3‹ bedeutet und zehn ›10‹, ist es ja nicht besonders schwierig darauf zu kommen, dass dreizehn ›13‹ bedeutet; wenn man weiß, dass Hund ›chien‹, Katze ›chat‹ und Hündchen ›petit chien‹ bedeutet, wird man wohl nicht lange darüber nachzudenken brauchen, was Kätzchen bedeutet. Die vielen Einzelzeichen einer |52◄ ►53| Sprache erklären sich also großenteils gegenseitig. Saussure spricht hier von relativer Motiviertheit. Anders als bei den onomatopoetischen Zeichen beruht die selbsterklärende Kraft dabei nicht auf Ikonizität, sondern auf systeminternen Beziehungen. Das Prinzip der Konventionalität der Zeichen wird dadurch eingeschränkt, aber nicht aufgehoben. Es ist zweifellos leichter, sich den signifiant dreizehn für ›13‹ zu merken, als den signifiant treize aus trois und dix herzuleiten; dreizehn ist also stärker motiviert als treize, aber es könnte natürlich auch ›3 x 10‹, also ›30‹ bedeuten – und wie abwegig es Nicht-Deutschsprachigen erscheint, einunddreißig zu sagen statt dreißigundeins, ist wohl allgemein bekannt. Die Motiviertheit ist deswegen immer nur relativ.

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9 Sprachzeichen und die außersprachliche Welt

Bei der Erläuterung der Saussureschen Vorstellung vom sprachlichen Zeichen war überhaupt nicht mehr davon die Rede, dass man sich mit sprachlichen Äußerungen irgendwie auf die Welt bezieht, es war nur von den psychischen Größen die Rede. Dies ist auch ganz in Saussures Sinne. Er hat sein Modell des sprachlichen Zeichens ausdrücklich als Gegenkonzept zu Vorstellungen präsentiert, nach denen das Zeichen nur aus einem Zeichenkörper besteht, der direkt auf einen Gegenstand bzw. die Vorstellung davon hinweist, etwa so:


V Tatsächlich vertritt Saussure die Auffassung, dass es außerhalb der Sprache überhaupt keine klaren Vorstellungen (concepts) von irgendetwas gibt: »Das Denken, für sich allein genommen, ist wie eine Nebelwolke, in der nichts notwendigerweise begrenzt ist. Es gibt keine von vornherein feststehenden Vorstellungen, und nichts ist bestimmt, ehe die Sprache in Erscheinung tritt«.6 Sprache ist also nicht bloß da, um etwas in der Wirklichkeit zu bezeichnen, sondern sie ist bereits notwendig, um die Wirklichkeit überhaupt geistig zu erfassen und zu strukturieren, um klare Konzepte auszubilden – eben siginifiés, die ohne die zugehörigen signifiants überhaupt nicht denkbar sind.

Stellenwert (valeur) der Zeichen

Verschiedene signifiés gewinnen ihre spezifische Bedeutung aus der Abgrenzung gegen andere (verwandte) signifiés – das macht ihre Systemgebundenheit aus. Für diese einzelsprachspezifische Abgegrenztheit von Konzepten führt Saussure den Ausdruck Wert (valeur) ein und erläutert ihn u.a. mit folgendem Beispiel: |53◄ ►54|

das franz. mouton kann dieselbe Bedeutung haben wie das engl. sheep, aber nicht denselben Wert, und das aus mancherlei Gründen, besonders deshalb, weil, wenn von einem Stück Fleisch die Rede ist, das zubereitet und auf den Tisch gebracht wird, das Englische mutton und nicht sheep sagt. Der Unterschied des Wertes zwischen sheep und mouton kommt daher, weil das erstere neben sich ein zweites Glied hat, was bei dem franz. Wort nicht der Fall ist.7

Wir kommen auf diese Fragen weiter unten zurück und halten hier nur fest: Da die signifiés nicht unmittelbar außersprachlichen Gegenständen zuzuordnen sind, sondern nur im Rahmen der langue existieren, spielt für Saussure die Untersuchung des Verhältnisses von Sprache und Welt nur eine höchst untergeordnete Rolle.

Referenz

Die vorgestellten Überlegungen Saussures zur Sprachgebundenheit von Bedeutungen ändern natürlich nichts an der Tatsache, dass Sprachzeichen in einer bestimmten Beziehung zu Gegenständen stehen und sprachliche Äußerungen verwendet werden, um sich auf die Welt zu beziehen. Diesen Bezug nennen wir Referenz. Unter Einschluss dieses Aspekts stellt sich das Zeichenmodell nun wie in Abbildung 9 dar.

Aktuelle Referenz

In einer konkreten Kommunikationssituation, also einem Parole-Akt, referiert der Sprecher mittels eines Zeichens auf einen Referenten. Dies kann z.B. ein konkretes Einzelobjekt sein (Da steht ein Schaf), aber auch eine abstrakte Größe, z.B. die Gattung Schaf (Das Schaf wurde schon frühzeitig domestiziert). Für die Verständigung ist es sehr wichtig zu wissen, worauf der Sprecher genau referiert: Ich hätte gern ein Schaf – meint er jetzt ein lebendiges, ein geschlachtetes oder ein Stofftier? Wir sprechen hier von der aktuellen Referenz des Zeichens.

Potenzielle Referenz

Als Langue-Einheit haben Sprachzeichen keine aktuelle Referenz. Sie werden jedoch auf Grund ihrer Bedeutung zur Referenz auf bestimmte Dinge ausgewählt. Schaf ist etwa geeignet, auf diverse Schafe, wirkliche, vorgestellte oder gezeichnete, auf Schafe überhaupt usw. zu referieren. Es ist aber nicht geeignet, um auf Kühe, Bücher oder Autos zu referieren. Beim Sprachzeichen als Langue-Einheit sprechen wir daher von potenzieller Referenz.


Abb. 9: Die Referenz des sprachlichen Zeichens

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Dass es Unterschiede zwischen den valeurs von Sprachzeichen in verschiedenen Sprachen gibt, wie Saussure es hervorhebt, können wir nun folgendermaßen reformulieren: Die potenzielle Referenz solcher Zeichen, z.B. von sheep und mouton, ist nicht identisch: mouton kann man auf Referenten anwenden, für die sheep nicht infrage kommt. Sie ist allerdings teilidentisch: Es gibt (eine große Menge von) Referenten, für die man im Französischen das Zeichen mouton, im Englischen sheep verwenden kann. Die aktuelle Referenz, von der wir in Bezug auf zwei Sprachen allerdings eigentlich nur sprechen können, wenn es sich um Übersetzungen handelt, sollte dagegen immer identisch sein (sonst ist die Übersetzung falsch oder wenigstens problematisch). Im Beispiel von Saussure, der Tischszene, haben also mouton und mutton dieselbe aktuelle Referenz.

Die onomasiologische Fragestellung: Wie bezeichnet man das Objekt?

Wie bedeutsam nun immer die Berücksichtigung des Aspekts der Referenz für systemlinguistische Untersuchungen sein mag, in der Sprachpraxis, vor allem im Spracherwerb, spielt sie eine herausragende Rolle! Denn für jemanden, der die Konventionen einer Sprache kennenlernen will, ist es ja von fundamentaler Bedeutung, wie er auf bestimmte außersprachliche Größen angemessen referieren kann. Bei der aktiven Verwendung einer Sprache, wenn er also eine Äußerung produzieren will, stellt sich für ihn die Frage: Wie nennt man X?; wie sagt man zu X?; in linguistischer Ausdrucksweise sollte man sagen: Wie bezeichnet man X? oder: Mit welchem Zeichen referiert man auf X? Diese Fragestellung nennt man die onomasiologische (zu griechisch onoma ›Name‹). Und obwohl Saussure ja festgestellt hat – und ich meine: ganz zu Recht! –, dass Sprachzeichen gar nicht direkt bestimmten Gegenständen (bzw. Vorstellungen davon) zugeordnet sind, bekommen wir auf eine solche Frage im Allgemeinen dennoch eine durchaus brauchbare Antwort. Manchmal allerdings auch zwei oder noch mehr, und daran erkennen wir, wie richtig Saussures Überlegungen sind. Auf die Frage: »Mit welchem Zeichen referierst du auf ?«, könnte man z.B. die Antwort bekommen: »Telefon oder Telefonapparat oder auch Fernsprecher.« Auch Saussures Beispiel ist alles andere als eindeutig. Auf die Frage: »Wie heißt das, was du da isst?«, wird man nämlich (jedenfalls heutzutage) wahrscheinlich nicht die Antwort bekommen: »(gigot de) mouton«, sondern »(gigot d’) agneau«.

Die semasiologische Fragestellung: Was bedeutet der Ausdruck?

Die andere Situation, in der sich ein Sprachlerner befindet, ist die des so genannten passiven Sprachgebrauchs: Er will die sprachliche Äußerung eines anderen verstehen oder wissen, was ein bestimmtes Zeichen (zugänglich ist ihm ja immer nur der signifiant) bedeutet. Die Frage wäre hier also: »Was bedeutet mouton, agneau?« Diese Fragestellung nennt man die semasiologische (zu griechisch sema, semeinon |55◄ ►56| ›Zeichen‹). Hier geht es darum, den einem signifiant zugeordneten signifié zu bestimmen. Da die psychische Größe signifié nicht unmittelbar greifbar ist (man kann auch nicht auf sie zeigen oder dergleichen), ist die Antwort auf eine solche Frage in der Regel eine Bedeutungsumschreibung, in der allerdings oft auch etwas über den Referenten selbst gesagt wird. Die Antwort auf unsere Beispielfrage (aus dem Larousse de la cuisine) lautet (in meiner Übersetzung):

Im Fleischerhandwerk nennt man mouton ein agneau, das älter als ein Jahr ist. Sein Fleisch ist weniger zart, hat aber einen ausgeprägteren Geschmack. […] In Europa ist mouton-Fleisch relativ selten, weil der Verbraucher bei weitem l’agneau vorzieht, aber es ist noch sehr beliebt in Indien, Nordafrika und im mittleren Orient, wo es stark gewürzt zubereitet wird.

Eine praktische Aufgabe der Sprachwissenschaft ist es u.a., die Konventionen der Sprachen zu erklären, die Erklärungen zusammenzufassen und sie Sprachbenutzern zugänglich zu machen. Für die Sprachzeichen mit referenzieller Bedeutung geschieht dies in Wörterbüchern. Die anderen sprachlichen Zeichen sind dort nur zum Teil erfasst; sie werden zusammenfassend in Grammatiken beschrieben. Wir wenden uns im Folgenden zunächst den referenziellen Zeichen zu, die im Wörterbuch beschrieben werden. Die gebräuchlichsten Wörterbücher sind semasiologisch ausgerichtet, d.h. sie listen – normalerweise in alphabetischer Folge – signifiants auf und geben dazu Erläuterungen, u.a. zum signifié. Diese Bedeutungserklärungen bilden den Gegenstand des folgenden Kapitels.

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10 Bedeutungsbeschreibungen im Wörterbuch

Lexikalische Semantik

Das Saussuresche Zeichenmodell sieht außerordentlich einfach aus. Es soll die Zuordnungsbeziehungen zwischen signifiants und signifiés darstellen, die in ihrer Gesamtheit im Wörterbuch einer Sprache aufzufinden sind. Wie wir schon bei der Übersicht über die sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen festgestellt haben, bildet die Beschreibung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke den Gegenstand der Semantik. Mit der Untersuchung der Bedeutung von Lexikoneinheiten wenden wir uns der lexikalischen Semantik zu. Schauen wir uns nun einmal an zwei Beispielen an, wie die Bedeutungsangaben in Wörterbucheinträgen aussehen.

Wir sehen am Textbeispiel 11 unmittelbar, dass die Verhältnisse offenbar viel komplizierter sind, als es das einfache Modell nahelegt (und dass Wörterbucheinträge gar nicht einfach zu lesen sind). Wir wollen die Beispiele nun besprechen und sehen, welche Differenzierungen wir an unserem einfachen Modell vornehmen müssen.

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Textbeispiel 11: Zwei Wörterbucheinträge

1weiß [vajs]: ↑wissen

2weiß [ – ] <Adj.: -er, -este; nicht adv.> [mhd. wīʒ, ahd. (h)wīʒ, eigentl. = glänzend]:

1. von der hellsten Farbe; alle sichtbaren Farben, die meisten Lichtstrahlen reflektierend (Ggs.: schwarz 1): w. wie Schnee; -e Schwäne, Wolken, Lilien; -e Wäsche, Gardinen; ein -es Kleid; -e Haare; die -en und die schwarzen Felder des Spielbretts; der Rock war rot und w. gestreift; sie hat strahlend, blendend -e Zähne; die Wand w. tünchen; -es (unbeschriebenes) Papier; -e Weihnachten, Ostern (Weihnachten, Ostern mit Schnee); vor Schreck, Wut w. (sehr bleich) im Gesicht werden; er ist ganz w. geworden (hat weiße Haare bekommen); die Dächer waren über Nacht w. geworden (waren verschneit); der -e Sport (Tennis); -e Blutkörperchen (Med.: Leukozyten); die -e Substanz (Med.: an Nervenfasern reicher, weißlicher Teil des Gehirns u. des Rückenmarks); <subst.:> das Weiße im Ei; Weiß (der Spieler, der die weißen Figuren hat) eröffnet das Spiel; *der Weiße Sonntag (Sonntag nach Ostern [an dem in der kath. Kirche die Erstkommunion stattfindet]; nach kirchenlat. dominica in albis = Sonntag in der weißen Woche [= Osterwoche]; bis zu diesem Sonntag trugen in der alten Kirche die Ostern Getauften ihr weißes Taufkleid); jmdm. nicht das Weiße im Auge gönnen (ugs.: jmdm. gegenüber sehr mißgünstig sein);

 

2.a) sehr hell aussehend: -er Pfeffer; -e Bohnen; -es Brot (Weißbrot); -es Fleisch (helles Fleisch vom Kalb); er mag -en Wein (Weißwein) lieber als roten; <subst.:> einen Weißen ([ein Glas] Weißwein) trinken;

b) der Rasse der2Weißen, der Europiden angehörend: die -e Rasse (die 2Weißen);

<subst.:> Weiß [-], das; -[es], -: weiße Farbe, weißes Aussehen: ein strahlendes W.; die Braut trug W.; in W. heiraten

Sack, der: -[e]s, Säcke (als Maßangabe auch: Sack) [mhd., ahd. sac < lat. saccus < griech. sákkos]:

1.a) größeres, längliches Behältnis aus [grobem] Stoff, starkem Papier, Kunststoff o.ä., das der Aufnahme, dem Transport od. der Aufbewahrung von festen Stoffen, Gütern dient: ein voller, leerer S.: drei Säcke [voll] Zucker; drei S. Kartoffeln; einen S. zubinden; Säcke schleppen, stapeln; etw. in einen S. stecken, stopfen, füllen; es ist dunkel wie in einem S. (ugs.: sehr dunkel); er fiel um, lag da wie ein [nasser] S. (salopp: wie leblos); schlafen wie ein S. (salopp: tief u. fest schlafen); R hinein mit S. und Pfeife (Soldatenspr.: drauflos mit allem Drum und Dran); ihr habt zu Hause wohl Säcke an den Türen! (salopp: Aufforderung an jmdn., die Tür zu schließen); Spr den S. schlägt man, den Esel meint man (man tadelt jmdn., meint aber in Wirklichkeit jmdn. anders); Ü ein S. voll Lügen; *den S. zubinden (salopp: ein Unternehmen beenden); *jmdn. im S. haben (salopp: jmdn. gefügig gemacht haben); etw. im S. haben (salopp: einer Sache sicher sein können); jmdn. in den S. stecken (ugs.: 1. jmdm. überlegen sein. 2. jmdn. betrügen); in den S. hauen (salopp: 1. sich entfernen, davonmachen, 2. kündigen; viell. urspr. [nach getaner Arbeit] das Werkzeug in einen Sack tun); in S. und Asche gehen (geh.: Buße tun); mit Sack und Pack (mit aller Habe); S. Zement (salopp: Ausruf des Erstaunens, der Verwünschung; entstellt aus #Sakrament);

b) (landsch., bes. südd., österr., schweiz.) Hosentasche;

c) (landsch., bes. südd., österr., schweiz.) Geldbeutel: keinen Pfennig im S. haben.;

2. (derb, meist abwertend) Mann, Mensch: ein alter blöder S.; ihr Säcke!

3. sackförmige Hautfalte unter den Augen. Tränensack (meist Pl.): Säcke unter den Augen haben;

4. (derb) Hodensack: jmdm. auf den S. fallen (salopp: jmdm. lästig fallen); etw auf den S. kriegen (salopp: 1. eine Rüge erhalten. 2. verprügelt werden. 3. eine Niederlage erleiden); jmdm. auf den S. niesen/husten/treten (Soldatenspr.: 1. jmdn. grob zurechtweisen. 2. jmdn. drillen).

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Mehrere Wörterbucheinträge zum selben signifiant: Homonymie

Beim ersten Beispiel fällt zunächst auf, dass der signifiant weiß zweimal vorkommt, hier versehen mit vorangestellten Zahlen. Der erste Eintrag enthält überhaupt keine Bedeutungsbeschreibung, sondern bloß einen Verweis auf den signifiant wissen, ein Verb, das in der 1. und 3. Person Singular Präsens die Form weiß hat. Dieses Verb hat mit dem Adjektiv weiß, erläutert im zweiten Eintrag, gar nichts zu tun. Es handelt sich um zwei verschiedene Zeichen, deren signifiants zufälligerweise übereinstimmen. Diese Erscheinung nennt man Homonymie (von griechisch homonymos ›gleichnamig‹), und wir können feststellen, dass es Ausnahmen zu der Regel gibt, ein signifiant würde im Geiste unmittelbar einen (und genau einen) signifié hervorrufen. Dennoch müssen wir die Annahme, beide seien miteinander so verbunden wie die zwei Seiten eines Blattes, nicht aufgeben, nur sehen eben manche Blätter von der einen Seite genauso aus wie manche andere. Die Homonymie betrachten wir als eine für das prinzipielle Funktionieren einer Sprache nicht weiter relevante Ausnahme, und im Deutschen kommen Homonyme auch relativ selten vor. Im Französischen dagegen sind sie sehr häufig. Dies hängt vor allem mit den unterschiedlichen orthografischen Systemen der beiden Sprachen zusammen: Die deutsche bildet die Lautung sehr viel getreuer ab als die französische, d.h. im Französischen gibt es sehr viele signifiants, die in ihrer lautlichen Realisierung übereinstimmen, während sie in der grafischen Realisierung verschieden sind. Wenn wir von Homonymie sprechen, sollten wir daher noch genauer unterscheiden.

Homophonie

Wenn die signifiants zweier Zeichen lautlich übereinstimmen, sprechen wir von Homophonie; dabei kann die Schreibung gleich sein wie im Fall von weiß (›blanc‹ – ›sais‹) oder mineur (›Bergmann‹ – ›Minderjähriger‹) oder aber verschieden: Moor (›marais‹) – Mohr (›nègre‹;); sang (›Blut‹) – cent (›hundert‹) – sans (›ohne‹); lave, laves, lavent (verschiedene Formen von laver ›waschen‹); livre, livres, livrent (Singular und Plural von livre ›Buch‹, livre ›Pfund‹ und verschiedene Formen von livrer ›liefern‹).

Homografie

Wenn die signifiants zweier Zeichen grafisch übereinstimmen, sprechen wir von Homografie; dabei kann zugleich Homophonie vorliegen (livre, weiß) oder nicht: Montage (›lundis‹ – ›montage‹); Druck|erzeugnis (›publication‹) – Drucker|zeugnis (›diplôme d’imprimeur‹); sens (›ich fühle‹ – ›Sinn‹).

Die angeführten Beispiele sind allerdings nicht alle gleich überzeugend, um die These zu stützen, dass jeweils zwei (oder mehr Zeichen) mit denselben signifiants vorliegen, und es ist kein Zufall, dass livres und livrent gar nicht als Eintrag im Wörterbuch geführt werden. Denn |58◄ ►59| es handelt sich ja nur um verschiedene Formen von livre oder livrer.

Lexikalische und grammatische Zeichen zusammengesetzt

Tatsächlich sind livres und livrent zusammengesetzte Zeichen, in denen -s und -nt grammatische Bedeutung tragen. Wir kommen auf diese grammatischen Zeichen später zurück und wollen hier nur eine terminologische Differenzierung einführen, die uns erlaubt, die verschiedenen Fälle auseinanderzuhalten. Dies führt uns auf den Unterschied zwischen langue und parole zurück.

Wort versus Lexem

Ein Äußerungsakt, ein Satz oder ein Text, stellt normalerweise ein komplexes Zeichen dar, in dem mehrere Einzelzeichen miteinander kombiniert sind. Sie sind linear angeordnet. Die Grenzen zwischen den Einzelzeichen werden aber nur zum Teil auch physisch markiert, in der grafischen Realisation etwa durch die Abstände zwischen Wörtern und die Satzzeichen. Bei der lautlichen Realisation können Pausen als Grenzsignale eingesetzt werden. Davon macht man jedoch nur beschränkt Gebrauch, eher zwischen Sätzen oder Satzteilen, kaum zwischen einzelnen Wörtern, und schon gar nicht zwischen den referenziellen und den grammatischen Zeichen, aus denen viele Wörter zusammengesetzt sind. Ein Wort im Text, in der parole, kann also aus mehreren Einheiten der langue bestehen. Wir legen nun fest: Jede Einheit der langue, die eine referenzielle Bedeutung trägt und deren signifié im Wörterbuch erläutert wird, nennen wir Lexem. Die Einheit, die im (geschriebenen) Text durch Abstände von anderen abgegrenzt ist, nennen wir demgegenüber Wort. Das Wort ist eine Einheit der parole, das Lexem eine Einheit der langue. wissen, wusste, gewusst sind daher drei Wörter (Zeichen im Text), sie gehören aber zu einem Lexem (Zeichen der langue, das im Wörterbuch unter der Form wissen geführt wird). weiß, weißer und wissen sind dagegen drei Wörter, die zwei Lexemen zugeordnet werden können, dem Adjektiv (weiß und weißer) oder dem Verb (weiß und wissen).

Verschiedene, aber miteinander zusammenhängende Bedeutungen

Wenn wir uns im Wörterbuch über die Bedeutung eines Zeichens im Text orientieren wollen, kommt es also zunächst darauf an, das richtige Lexem zu identifizieren. Bei dem Beispiel Sack nun scheint nur ein einziges Lexem zu existieren. Dennoch finden wir auch hier in der Wörterbuchbeschreibung mehrere Bedeutungen angeführt. Sie seien hier zusammengefasst und versuchsweise durch französische Entsprechungen umschrieben:

1.

a. ›sac‹

b. ›poche‹

c. ›porte-monnaie, bourse‹

2. ??? (injure)

3. ›lacrymal‹