Sprache: Wege zum Verstehen

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4. ›testicule‹

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Polysemie Lesarten

Obwohl wir nun davon ausgehen können, dass wir es mit einem einzigen Lexem zu tun haben, ruft der signifiant auch hier nicht genau einen, sondern mehrere – und sehr verschiedene! – signifiés im Geiste hervor. Das Lexem ist offenbar mehrdeutig. Hier handelt es sich nun jedoch nicht (wie bei der Homonymie) um eine gewissermaßen regelwidrige Ausnahmeerscheinung, sondern um den Normalfall. Er wird als Polysemie (›viel-bedeutend‹) bezeichnet. Wie man jedem Wörterbuch schnell entnehmen kann, sind die meisten Lexeme polysem; ihnen sind mehrere Bedeutungsvarianten oder Lesarten zugeordnet, die allerdings irgendwie miteinander zusammenhängen. Der Bedeutungszusammenhang kann enger oder weiter sein, deswegen hat man sich in dem Wörterbuch bei unserem Beispiel für die Unterscheidung von vier Lesarten entschieden, von denen die erste in nochmals enger verwandte Unterlesarten zerfällt.

Bedeutungsübertragung

Es ist auch ganz leicht zu erkennen, warum die Varianten der ersten Lesart enger zusammenhängen; sie fallen nämlich alle unter denselben Oberbegriff. In der Bedeutungsbeschreibung wird er bezeichnet als ›Behältnis‹, d.h. ›ein Gegenstand, in den man etwas hineintun, in dem man etwas verstauen kann‹. Das gilt natürlich für die Lesarten 3 und 4 nicht; es handelt sich dabei ja um Körperteile. Wie kommt es dennoch dazu, dass auch diese Referenten mit dem Ausdruck Sack bezeichnet werden können, und warum sehen wir darin eine Erscheinung der Polysemie, gehen also davon aus, dass diese Lesarten etwas miteinander zu tun haben? Auch die Antwort auf diese Frage ist nicht sehr schwer zu finden: Die Gemeinsamkeit der Referenten, auf die man sich mit dem Zeichen in den Lesarten 3 und 4 einerseits und 1 andererseits bezieht, besteht nicht in ihrer Funktion (Behältnis), sondern in der Form: Tränensäcke und Hodensäcke erinnern an die Form bestimmter Referenten des Lexems in der Lesart 1, nämlich an kleine Beutel, Behältnisse aus einem flexiblen Material, die an sich eigentlich keine fixe Form haben, sondern ihre besondere Gestalt (nach unten breit, ausgebuchtet) dadurch gewinnen, dass man etwas hineintut. Wir haben es hier also mit einer übertragenen Bedeutung zu tun, und der Anlass der Übertragung, das tertium comparationis, ist die Ähnlichkeit in der Form. Selbstverständlich können auch andere Ähnlichkeiten zum Anlass für Bedeutungsübertragungen werden. In einem anderen Wörterbuch der deutschen Sprache, dem Wahrig (Ausgabe 1997), wird dies in der Beschreibung einer Lesart ausdrücklich festgestellt:

etwas mit einem Sack (1) [d.h. in der Lesart 1 = ›länglicher Behälter …‹] Vergleichbares, entweder weil es nur einen Eingang u. keinen Ausgang hat [Sackgasse] oder weil es schlaff oder bauschend hängt.

Freilich sind die Ähnlichkeiten immer nur relativ und nicht unbedingt auf den ersten Blick erkennbar. In unserem Beispiel ist vor allem die |60◄ ►61| Lesart 2, Sack als Schimpfwort in Verbindungen wie alter, fauler, blöder Sack, wohl recht schwer rekonstruierbar. Worin könnte die Ähnlichkeit eines Menschen mit dem Behälter bestehen? Ist es vielleicht die Form (z.B. dicker Bauch) bzw. die Formlosigkeit eines Menschen, der ›sich hängen lässt wie ein Sack‹, d.h. sowohl in der Körperhaltung als auch im moralischen Sinne keine Standfestigkeit, kein Rückgrat hat? Oder ist der Grund für die Übertragung vielleicht darin zu sehen, dass Säcke im Allgemeinen keinen großen materiellen Wert haben? Sie sind typischerweise aus grobem Stoff oder Wegwerfmaterial (Papier, Plastik) gefertigt. Vielleicht spielt auch beides eine Rolle, oder noch etwas anderes?

Die Bedeutung der Sach- und Sprachgeschichte für die Erklärung von Polysemie

Wie man sieht, begeben wir uns mit solchen Fragen auf die Suche nach der relativen Motiviertheit der Anwendung bestimmter Lexeme auf bestimmte Referenten, anders gesagt: Wir versuchen zu rekonstruieren, wie es zu solchen Lexemverwendungen und zu bestimmten Lesarten kommen konnte. Um solche Fragen beantworten zu können, ist es oft nützlich, ja manchmal notwendig, in die Geschichte zurückzublicken, sowohl in die Sach- als auch in die Sprachgeschichte. Wenn z.B. auch ein Portmonnee mit dem Ausdruck Sack belegt wird, so liegt das natürlich am Geldverkehr zu früheren Zeiten. Als es noch kein Papiergeld, sondern nur Münzen gab, trug man diese in mehr oder weniger großen Behältern von sackartiger Form bei sich. Für Geldscheine eignet sich dieser Aufbewahrungsbehälter nicht besonders gut, als Behältnisse kamen also Gegenstände anderer Form in Gebrauch. Sie hatten jedoch noch dieselbe Funktion wie die früheren Geldbeutel oder -säcke, und dies bildet einen hinreichenden Grund für die Beibehaltung des Lexems. Beispiele für solchen Wandel gibt es in Hülle und Fülle; wir führen nur ein zweites an: Schreibgeräte, die auf Deutsch als Bleistifte, auf Französisch als crayons bezeichnet werden, enthalten heutzutage weder Blei (›plomb‹) noch Kreide (›craie‹), sondern Grafit; die Ähnlichkeit in Funktion und Form bildet den Grund für die Anwendung des Lexems auch auf den neuen Typ der Stifte.

Die Relativität der Grenze zwischen Homonymie und Polysemie

Mitunter haben sich die Dinge derartig stark verändert, dass eine Rekonstruktion der früher mehr oder weniger offenkundigen Ähnlichkeit nicht mehr unmittelbar möglich ist. In diesen Fällen würde man dann das Vorliegen von Homonymie rekonstruieren. So ist es z.B. für viele schwer einsehbar, was das Gemeinsame an einer serrure und einem château sein soll; für Schloss werden dementsprechend zwei unabhängige Lexeme rekonstruiert. Für andere gehören jedoch beide Bedeutungen klar zum Verb schließen, denn bei dem Gebäude Schloss hatte man zunächst eine befestigte Burg vor Augen, in der man sich vor Eindringlingen schützen, sich abschließen konnte. Erst später bauten sich die Mächtigen besonders prunkvolle und repräsentative Gebäude, die keineswegs mehr einen besonderen Schutz nach außen bieten. Wer diese Verbindung sieht, rekonstruiert demnach ein Lexem mit mehreren Lesarten.

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11 Wortbedeutungen im Bewusstsein der Sprecher

Können wir nun sagen, dass die eine oder die andere Lösung die richtige ist? Welche Aufgabe hat der Wörterbuchschreiber, der Lexikograf? Soll er erklären, wie es zu der Bedeutungsvielfalt von Lexemen (Polysemie) und zu verschiedenen Lexemen mit identischem signifiant (Homonymie) gekommen ist, oder ist es nur wichtig festzuhalten, welche Lexeme gegenwärtig konventionell in welchen Bedeutungen gebraucht werden? Die Frage stellt sich um so mehr, als es ja in der parole ständig zu neuen Bedeutungsübertragungen kommen kann. Wer z.B. seinen Computer nur zu Textverarbeitungszwecken benutzt (und das waren einmal viele!), für den könnte es durchaus naheliegen, ihn als Schreibmaschine zu bezeichnen. Soll man deswegen für das Lexem Schreibmaschine eine Lesart ›Computer, der nur mit einem Textverarbeitungsprogramm ausgestattet ist‹ rekonstruieren? Schließlich haben wir auch eine elektronisch unter einem bestimmten Namen gespeicherte Datenmenge schon als Dokument bezeichnet, als etwa das Duden Universalwörterbuch in diesem Zusammenhang nur die Lesarten ›Urkunde, amtliches Schriftstück‹ und ›Beweisstück, Zeugnis‹ vorsah, was ja nicht auf Computerdokumente passt. Inzwischen ist auch die folgende Variante verzeichnet: ›(EDV) strukturierte, als Einheit erstellte u. gespeicherte Menge von Daten; [Text]datei‹.

Synchronie und Diachronie im Wörterbuch

Bei der Beantwortung der Frage, was denn nun die Aufgabe des Lexikografen, oder allgemeiner: der Sprachwissenschaft, ist, sollten wir noch einmal an Saussures Überlegungen zurückdenken. Nach seiner Auffassung geht es in der Linguistik der langue um die Rekonstruktion des Sprachsystems zu einem gegebenen Zeitpunkt (Synchronie). Wie die Verhältnisse früher einmal waren – die Diachronie also – ist für die Rekonstruktion des Systems irrelevant. Folgt man dieser Auffassung streng, so sind irgendwelche Erklärungen sprachlicher Phänomene, für die man erst auf frühere Sprach- und Weltzustände zurückgreifen muss, für die Rekonstruktion des Systems ohne Bedeutung. Viele konkrete Entscheidungen bei der Beschreibung einer Einzelsprache, wie man sie etwa in Wörterbüchern und Grammatiken findet, werden denn auch tatsächlich mit dem synchronen Standpunkt begründet: Wenn eine Beziehung synchron nicht mehr einsehbar ist, wird sie nicht als Gegebenheit des Systems gerechnet. So betrachten wir z.B. den Ausdruck Eltern als nicht weiter analysierbares Lexem, obwohl er natürlich historisch mit alt-älter-(die) Älter(e)n zusammenhängt; aber tatsächlich dürfte heutzutage bei Eltern kaum jemand an diese Verbindung denken. Synchron ist die Beziehung also nicht mehr gegeben, das Lexem erscheint unmotiviert. So wird es auch verständlich, dass heutzutage (vor allem jugendliche) Sprecher ihre Eltern auch als meine|62◄ ►63| Alten bezeichnen, d.h. dass sie auf ein Lexem zurückgreifen, in dem wieder neu die relative Motiviertheit hergestellt ist.

Etymologische Wörterbücher

Die Aufdeckung synchron nicht mehr unmittelbar einsichtiger Beziehungen erleichtert uns aber das Lernen der Sprache und fördert unser Verständnis für ihr Funktionieren. Tatsächlich interessiert viele Sprachteilhaber an linguistischer Arbeit ganz besonders dieser Aspekt. Sie fragen: Wo kommt dieser Ausdruck her, wie kommt es zu dieser Bedeutung? Sie empfinden offenbar Vergnügen und Befriedigung, wenn sie erkennen können, dass etwas, was auf den ersten Blick arbiträr erscheint, doch relativ motiviert ist. Auch die Sprachwissenschaftler haben die diachrone Fragestellung natürlich nie ganz aus dem Auge verloren. Wir können also die Frage nach den Aufgaben der Lexikografen zunächst mit dem Hinweis auf eine Arbeitsteilung beantworten: Die diachron orientierte Linguistik beschäftigt sich mit der Frage nach der Entwicklung von Sprachen. Auf lexikografischem Gebiet fasst sie ihre Ergebnisse in etymologischen oder Herkunfts-Wörterbüchern zusammen, die auch für an Sprachfragen interessierte Laien aufschlussreich sein können. Die synchron orientierte Linguistik versucht dagegen, das Funktionieren eines sprachlichen Systems zu einem gegebenen Zeitpunkt zu beschreiben und vernachlässigt dabei die Frage nach dem Sprachwandel. In synchron orientierten Wörterbüchern (für die heutige Zeit also: Wörterbüchern der Gegenwartssprache) braucht sie nur die konventionellen Lexemverwendungen aufzubereiten, die im Augenblick geläufig sind. Solche Beschreibungen sind daher für Sprachteilhaber relevant, die vor allem wissen wollen, welche Konventionen im Moment gültig sind.

 

Die historische Tiefe des sprachlichen Wissens

Allerdings lassen sich beide Orientierungen dennoch nicht ganz scharf voneinander trennen. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die Rekonstruktion des synchronen Systems ja letzten Endes der Versuch ist, das sprachliche Wissen der Sprachteilhaber, also eine psychische Größe, zu rekonstruieren. Nun hat jedoch das sprachliche Wissen jedes einzelnen immer eine gewisse historische Tiefe. Wer schon 1920 gehört und gelesen hat, kennt selbstverständlich noch viele Lexemverwendungen, die heute ganz ungebräuchlich sind, und vielleicht kennt er viele nicht, die erst in neuester Zeit aufgekommen sind, weil er z.B. kaum mit jungen Leuten kommuniziert. Auch das Bewusstsein für bestimmte Zusammenhänge, die Motiviertheit von einzelnen Lesarten etwa, verschwindet in der Sprachgemeinschaft nicht plötzlich, sondern nur allmählich und kann überdies – z.B. durch etymologische Erläuterungen – auch immer wieder (re-)aktiviert werden. So kommt es dazu, dass manche Menschen den Zusammenhang zwischen den Lesarten von Schloss oder zwischen Eltern und alt erkennen und andere nicht. Außerdem werden sich manche für solche Zusammenhänge interessieren und andere nicht.

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Jeder Wörterbuchschreiber muss daher immer gewisse Kompromisse machen. Das Wörterbuch, aus dem wir unsere beiden Eingangsbeispiele entnommen haben, ist ein vor allem synchron orientiertes. Trotzdem führt es am Anfang der Einträge auch etymologische Erläuterungen an und greift hier und da auf historische Erklärungen zurück, z.B. wenn der Ausdruck Sack Zement als Entstellung aus Sakrament erklärt wird oder die Hintergründe für den Ausdruck der Weiße Sonntag aufgedeckt werden. Dies entspricht Zugeständnissen an den Tatbestand,

Ein synchroner Schnitt betrifft nicht einen Zeitpunkt, sondern einen größeren Zeitraum

dass ein wirklich synchroner Schnitt, die Momentaufnahme einer Sprache (z.B. Deutsch am 17.9.1998, 11 Uhr 50) ohnehin gar nicht möglich und auch nicht sinnvoll ist. Wie schnell sich nun allerdings die sprachlichen Verhältnisse wirklich ändern, ist außerordentlich schwer zu sagen. Leicht festzustellen ist hingegen, dass die Wörterbücher alle paar Jahre neu herausgegeben werden. Ist das eigentlich notwendig, muss man ständig das neueste haben, geht es dabei nur um Änderungen in der Orthografie, die die Diskussion im letzten Jahrzehnt ja beherrscht haben?

Das Textbeispiel 11 habe ich aus dem Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in sechs Bänden entnommen, das im Jahre 1981 vollständig vorlag. Die 2. Auflage erschien in acht Bänden (1995), die 3. in zehn Bänden liegt seit 1999 vor. Wächst die deutsche Sprache so schnell und zunehmend rasant, dass man alle zwei Jahre einen neuen Band füllen kann? Schauen wir uns am Beispiel etwas genauer an, welche

Veränderungen beim Eintrag Sack

Veränderungen vorgenommen wurden: Der Eintrag zu Sack ist in der neuesten Version etwa doppelt so lang wie 1980 (in diesem Jahr erschien der 5. Band mit der Buchstabenstrecke O-So). Eine echte Neuigkeit in der Wirklichkeit ist der gelbe Sack, der erst mit dem dualen System der Müllbeseitigung in den 1990er Jahren auch als komplexes Lexem in die Welt kam, so dass erst in den Neuauflagen erklärt werden konnte: ›gelber Plastiksack, in dem recycelbare Wertstoffe gesammelt werden‹.

Alle anderen Änderungen beruhen meiner Einschätzung nach nicht auf Sprach- und/oder Weltwandel, sondern auf veränderten Prinzipien oder Entscheidungen der Wörterbuchmacher. Die wesentlichste, d.h. diejenige, die zu einer so bedeutenden Umfangserweiterung führt, besteht darin, dass viel großzügiger nicht nur Beispielsätze, sondern auch authentische Verwendungen, Belege also, aufgenommen werden, z.B.:

»Nachdem er als Moderator von ›Show u. Co. mit Carlo‹ … in den S. gehauen hat [Hörzu 19, 1986, 5]«,

»Zusatzlichter mit Batterie … lassen sich abnehmen und in den S. stecken (Basler Zeitung 2.10.1985, 27)«.

Häufiger geworden sind auch die Erklärungen zur (eventuellen) Herkunft von Phraseologismen: jemanden in den Sack stecken » geht wohl auf |64◄ ►65| eine frühere Art von Wettkampf zurück, bei der der Besiegte vom Sieger tatsächlich in einen Sack gesteckt wurde«. Die Wendung in Sack und Asche gehen erfährt folgende Erläuterung: »wohl nach dem Alten Testament [Esther 4, 1], wo von dem altorientalischen Brauch berichtet wird, dass die Menschen sich zum Zeichen der Trauer in grobes Tuch [Säcke] kleideten u. sich Asche auf die Haare streuten«. Auch die eigentliche Bedeutung des griechischen sákkos ist neu hinzugekommen: »= grober Stoff aus Ziegenhaar; (aus solchem Material hergestellter) Sack«.

Als eine gewisse Selbstkorrektur betrachte ich die Aufnahme zusätzlicher Fügungen, die man 1980 wohl vergessen bzw. für nicht so wichtig gehalten hatte. Schon länger gehören jedenfalls die folgenden Verwendungen zur deutschen Sprache:

das Kleid sitzt, sieht aus wie ein S. (ist unförmig, schlecht geschnitten); lieber einen S. [voll] Flöhe hüten als … (… ist eine kaum zu bewältigende Aufgabe): lieber einen S. [voll] Flöhe hüten als diese drei Kinder [zu] beaufsichtigen.

Nicht sicher bin ich mir bei angeben wie ein, zehn Sack Seife, was eine saloppe Ausdrucksweise mit der Bedeutung ›sehr prahlen‹ sein soll, die mir noch nicht begegnet ist.

Als Korrektur muss man auch betrachten, dass der dritte Unterfall der ersten Lesart, nämlich ›Geldbeutel‹ entfallen ist und keinen Pfennig im Sack haben jetzt auf die Tasche im Kleidungsstück bezogen wird (die Anpassung des Beispielsatzes an die neue Währung ist im Universalwörterbuch seit 2003 vorgenommen).

Ob es sich um Sprachwandel oder eine veränderte Einschätzung der Lexikografen handelt, ist mir am wenigsten klar bei einigen Veränderungen, die die Gebrauchsbedingungen betreffen. Während nämlich 1980 die Lesart ›Mann, Mensch‹ als ›derb, meist abwertend‹ bezeichnet wurde, ist sie 1999 nur noch als ›salopp abwertend‹ charakterisiert. Umgekehrt sind jemandem auf den Sack fallen und etwas bzw. eins auf den Sack kriegen nun nicht mehr ›salopp‹, sondern ›derb‹. Aber solche Einschätzungen sind ja ohnehin recht subjektiv.

Das Wörterbuch ist eine Annäherung an das unterschiedliche Sprachwissen vieler Individuen

Dies zeigt am deutlichsten, dass ein Lexikograf auch in anderer Hinsicht die Idealisierung von der langue als einem stabilen und homogenen System zurücknehmen muss.

Wie wir im zweiten Kapitel gesehen haben, umfasst eine Einzelsprache tatsächlich ja verschiedene Varietäten, z.B. landschaftliche, stilistische und soziale. Das Wörterbuch versucht, die Varietäten umfassend zu beschreiben (und gibt damit übrigens ein Sprachwissen wieder, über das kein einziger konkreter Sprachteilhaber wirklich verfügt).

Zusammenfassung

Es sind, so können wir zusammenfassend feststellen, hauptsächlich drei Tatbestände, die dazu führen, dass ein Wörterbuchartikel |65◄ ►66| viel komplizierter ist, als es das einfache Zeichenmodell von Saussure erwarten lässt:

Polysemie Wörter und Wendungen: Idiomatik

– Lexeme haben meist mehrere Lesarten (Polysemie).

– In ihrer Bedeutung konventionalisiert sind nicht nur Einzelausdrücke (von der Größe eines Worts, also Sack und weiß), sondern auch komplexere Ausdrücke, Fügungen wie der Weiße Sonntag, Redewendungen wie in den Sack hauen oder jemandem nicht das Weiße im Auge gönnen, Redensarten oder Sprichwörter wie Den Sack schlägt man, den Esel meint man und schließlich geläufige Sätze wie Ihr habt zu Hause wohl Säcke an den Türen. Auch diese Einheiten haben den Status von Lexemen in dem Sinne, dass sie fest im Lexikon gespeichert sind, d.h. nicht erst im jeweiligen Parole-Akt neu konstruiert werden.

Varietätenspezifik

– Lexeme und deren Lesarten sind zum Teil nur in bestimmten Varietäten der Sprache gebräuchlich. Ihre regional, stilistisch usw. nur begrenzt gültige Verwendbarkeit muss erläutert werden.

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12 Sprache als Mittel des Denkens: Die Kategorisierung der Welt

Bei der Betrachtung der Bedeutungsbeschreibung in Wörterbüchern waren wir bereits auf die Wichtigkeit der Polysemie von Lexemen für das Funktionieren einer natürlichen Sprache gestoßen. Die Polysemie von Lexemen kommt vor allem dadurch zustande, dass ein Ausdruck, der eigentlich für eine bestimmte Art von Referenten gebraucht wird, auch für ganz andere Referenten verwendet werden kann, die in irgendeiner Ähnlichkeitsbeziehung dazu stehen. Wenn sich ein solcher Gebrauch einbürgert, liegt eine neue konventionalisierte Lesart vor.

Die Vielfalt der außersprachlichen Gegenstände

Schon in einer einzelnen Lesart referiert jedoch ein Lexem potenziell auf Gegenstände, die einander durchaus nicht besonders ähnlich sein müssen. So kann man als Sack sowohl einen großen Behälter aus Jute bezeichnen, in dem z.B. Kartoffeln oder Kohle transportiert werden und der oben zugebunden werden kann, als auch einen großen Sack aus festem Papier (z.B. für Zement), der nicht zugebunden, sondern nur verklebt werden kann, als auch z.B. einen kleinen Plastikbeutel, in dem gerade einmal ein Kilo Mohrrüben Platz hat und der an zwei Stellen auf die gleiche Weise verschweißt ist. In manchen Gegenden des deutschen Sprachraums (in der Schweiz) kann man dann auch noch Plastikbeutel oder Papiertüten, wie sie z.B. in Supermärkten |66◄ ►67| ausgegeben oder verkauft werden, als Säcke bezeichnen. Im Norden würde man dagegen bei der Bitte um einen (Plastik-) Sack wohl auf ziemliches Unverständnis an der Kasse stoßen. Auch wenn jemand von seinem Schweizer Sackmesser oder vom zu geringen Sackgeld spricht, reizt das viele Nordlichter zum Lachen. Bei ihnen heißt es nämlich Taschenmesser bzw. Taschengeld.

Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Gegenständen sind relativ

Nun ist es natürlich nicht so, dass die Norddeutschen nicht in der Lage wären, die große Ähnlichkeit zwischen einer Plastiktüte der Coop und einem kleinen Beutel für Gemüse zu erkennen, denn beide haben miteinander ja wohl mehr gemeinsam als mit dem großen Kartoffelsack. Auch die Ähnlichkeit von solchen Säcken oder Säckchen mit der Hosen- oder Jackentasche kann man nicht als besonders abwegig ansehen, wenn man sogar die Ähnlichkeit zum Tränensack erkennt. Verschieden sind also nicht die kognitiven Fähigkeiten (nämlich Ähnlichkeiten zu sehen), sondern lediglich die sprachliche Strukturierung der Welt.

Wir kommen damit auf Saussures Begriff der valeur und der Systemgebundenheit sprachlicher Zeichen zurück. Wir hatten im neunten Kapitel festgestellt: Die potenzielle Referenz eines Ausdrucks ergibt sich letztlich erst daraus, welche anderen Ausdrücke ihm an der Seite stehen. Während man im Englischen zwischen sheep und mutton differenziert, steht dem im Französischen nur mouton gegenüber. Gleiches gilt für unser Beispiel: Im Norddeutschen beschränkt die Existenz von Tasche die potenzielle Referenz von Sack, während dies im Süddeutschen – und erst recht im Französischen (sac) – nur zum Teil bzw. gar nicht der Fall ist. Letztlich bedeutet dies aber nichts anderes, als dass wir die Bedeutung, den Stellenwert (valeur), eines Lexems überhaupt nicht genau beschreiben können, ohne zugleich andere Lexeme zu berücksichtigen. Bedeutungsverwandte Ausdrücke müssen also im Zusammenhang gesehen werden, damit man feststellen kann, welche spezifische Strukturierung eines Weltausschnitts in einer bestimmten Sprache gegeben ist, d.h. für welche Kategorien es in der Sprache konventionalisierte Zeichen gibt.

Kategorisierung

Es geht also grundlegend um das Phänomen der Kategorisierung; diese erfolgt einerseits durch Abstraktion (kognitive Nivellierung von Verschiedenheiten), andererseits durch Differenzierung (kognitive Hervorhebung von Verschiedenheiten). Die beiden Vorgänge lassen sich folgendermaßen erläutern:

 

Abstraktion

Die Abstraktion ist notwendig, weil nicht jeder einzelne Gegenstand in der Welt einen eigenen ›Namen‹ bekommen kann. Man will ja oft eine Vielzahl von individuellen Objekten zu einer Klasse zusammenfassen und muss dabei von vielen ihrer besonderen Eigenschaften absehen. Man kann fast beliebig weit abstrahieren und z.B. sämtliche Unterschiede zwischen individuellen Objekten beiseite lassen; das geschieht mit Ausdrücken wie Ding oder quelque chose. Sehr viel weniger |67◄ ►68| (aber immer noch Milliarden von) Individuen werden in der Klasse zusammengefasst, für die es im Deutschen den Ausdruck Mensch gibt.

Differenzierung

Die Differenzierung ist notwendig, weil wir oft auch kleinere Klassen bilden, d.h. verschiedene Dinge gegeneinander abgrenzen wollen. Dabei müssen speziellere Eigenschaften herausgehoben werden. Mit Mensch beziehen wir uns z.B. nur auf solche Etwasse, die die Eigenschaften haben, ›Lebewesen‹ und ›menschlich‹ zu sein.

Eigennamen

Man kann auch beliebig weit differenzieren – im äußersten Fall bildet man gar keine Klasse mehr, sondern bezieht sich auf ein Etwas als ganz Individuelles. Dafür stehen spezielle sprachliche Ausdrücke zur Verfügung, nämlich Eigennamen: Johann Wolfgang von Goethe. Das reicht aber nicht immer aus: Herta Müller, verwitwete Adamzik, geb. am 11.6.1931 in Kiel könnte man nämlich verwechseln mit Herta Müller, Schriftstellerin, geb. 1953 in Nitzkydorf (Rumänien), 2009 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.

Die Relativität von sprachlichen Kategorien

Man kann nicht nur beliebig weit abstrahieren bzw. beliebig fein differenzieren, vielmehr kann man im Prinzip auch auf beliebige Art differenzieren. Dies zeigt das Textbeispiel 12, dessen Kategorisierungen (Tiere, die dem Kaiser gehören; Tiere, die den Wassertopf zerschlagen haben; Tiere, die mit einem feinen Pinsel gezeichnet sind, usw.) uns wohl ziemlich absurd vorkommen. Allerdings ist jede Kategorisierung nur relativ gültig und sinnvoll. Wenn wir mit Kategorisierungen konfrontiert werden, die wir nicht gewohnt sind – und dies ist eben häufig schon der Fall, wenn man den konventionellen Kategorisierungen einer fremden Sprache oder Varietät begegnet –, löst das zwar oft Befremden oder Belustigung aus, in der Regel reicht jedoch einiger guter Wille, um die (relative) Nützlichkeit auch dieser fremden Kategorisierung zu begreifen. Auch ungewohnte Kategorisierungen, besonders wenn sie sehr fein sind, dienen nämlich im Allgemeinen bestimmten Zwecken: Je genauer man sich mit einem Gegenstandsbereich auseinandersetzt, desto genauer wird man differenzieren. Daher besteht auch eine wesentliche Eigenschaft von Wissenschaften in der Kreation neuer Differenzierungen, neuer Termini bzw. einer ganzen Fachsprache (ein Typ von Varietät). Wenn es z.B. für den an Sprache nicht weiter Interessierten ausreicht, über Ausdrücke wie Wort und Zeichen zu verfügen (diese kennt aber wirklich jeder Deutschsprachige), so sieht man sich bei genauerer Analyse des Gegenstandes veranlasst, weiter zu differenzieren und etwa zwischen Lexem und Wort oder signifiant und signifié zu unterscheiden.

Kategorienbildung mit komplexen Ausdrücken

Kategorienbildung ist jedoch nicht an die Kreation neuer Ausdrücke gebunden. Der Text von Borges und auch das Beispiel Herta Müller zeigen uns jedoch Folgendes: Wenn man beliebig (d.h. entsprechend sehr spezifischen Interessen und Bedürfnissen) kategorisieren will, dann greift man im Allgemeinen auf komplexe sprachliche Ausdrücke zurück: Einzelne Unterscheidungsmerkmale werden explizit genannt und miteinander kombiniert. Auf diese Weise ist jedwede Kategorienbildung (in jeder Sprache) möglich. Wiederum ist es gerade in wissenschaftlichen Untersuchungen oft notwendig, sehr spezielle Kategorien zu bilden. Beispielsweise könnte es für eine linguistische Untersuchung sinnvoll sein, die folgende Kategorie zu bilden: ›Personen, die zur Zeit in Genf ansässig sind, zwischen 1960 und 1980 geboren wurden, im August Geburtstag haben und deren Mutter zweisprachig ist‹. Nichts hindert, eine solche für die Untersuchung gebildete Kategorie dann auch noch mit einem sprachlichen Sonderzeichen zu belegen, etwa Zwimu (von zweisprachige Mutter), eine Vergleichsgruppe hieße dann natürlich Zwiva usw. Solche Ausdrücke für ›x-beliebige‹ Kategorien werden allerdings kaum eine Chance haben, in der Sprachgemeinschaft konventionalisiert zu werden, sie bleiben Ausdrücke der Gruppensprache der mitarbeitenden Forscher.

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Textbeispiel 12: Die vierzig Kategorien des Universums

In der Universalsprache, die John Wilkins um die Mitte des 17. Jahrhunderts erfand, definiert jedes Wort sich selber. Schon Descartes hatte in einem Brief, datiert vom November 1629, vermerkt, daß wir mit Hilfe der Zählung nach dem Dezimalsystem binnen eines einzigen Tages die Zählung sämtlicher Größenmengen bis zum Unendlichen erlernen und diese in einer neuen Sprache, nämlich in Ziffern, niederschreiben können, und hatte entsprechend die Bildung einer Allgemeinsprache vorgeschlagen, die das menschliche Denken organisieren und in sich befassen sollte. John Wilkins nahm um das Jahr 1664 diese Aufgabe in Angriff.

Erteilte das Universum in 40 Kategorien oder Genera auf, die sich ihrerseits in »Differenzen« und diese wiederum in »Spezies« unterteilten. Jedes Genus bezeichnete er mit einer Silbe aus zwei Buchstaben; jede Differenz mit einem Konsonanten; jede Spezies mit einem Vokal. Zum Beispiel: de bedeutet: Element; deb das erste der Elemente, das Feuer; deba einen Teil des Elements Feuer, eine Flamme. In der ähnlich konstruierten Sprache von Letellier (1850) bedeut ›a‹ soviel wie Tier; ›ab‹ Säugetier; ›abo‹ Fleischfresser; ›aboj‹ Katzengattung; ›aboje‹ Katze, ›abi‹ Pflanzenfresser, ›abiv‹ Pferdegattung usw. […] Die Wörter der analytischen Sprache John Wilkins’ sind keine plumpen willkürlichen Symbole. Jeder einzelne der Buchstaben, aus denen sie sich zusammensetzen, ist bezeichnend, so wie für die Kabbalisten die Buchstaben der Heiligen Schrift. […]

Nachdem wir Wilkins’ Methode definiert haben, müssen wir ein Problem untersuchen, das sich unmöglich oder nur schwer hintan halten läßt: die Gültigkeit der Vierzigertabelle, die der Sprache zugrunde liegt. Betrachten wir die achte Kategorie, unter die die Gesteine fallen. Wilkins unterteilt sie in gewöhnliche (Kiesel, Kies, Schiefer), in durchschnittliche (Marmor, Bernstein, Koralle), in kostbare (Perle, Opal), in durchsichtige (Amethyst, Saphir), in unlösliche (Steinkohle, Ton, Arsenik). Fast so beunruhigend wie die achte ist die neunte Kategorie. Sie führt uns vor Augen, daß die Metalle unvollkommen (Zinnober, Quecksilber), daß sie künstlich (Bronze, Messing), abfallartig (Eisenfeilspäne, Rost) und natürlich (Gold, Zinn, Kupfer) sein können. Die Schönheit hat ihren Ort in der sechzehnten Kategorie; sie ist ein lebendgebärender, länglicher Fisch. Diese Doppeldeutigkeiten, Überlagerungen und Fehlanzeigen erinnern an die Gebrechen, die Franz Kuhn einer gewissen chinesischen Enzyklopädie nachsagt, die sich betitelt: Himmlischer Warenschatz wohltätiger Erkenntnisse. Auf ihren weit zurückliegenden Blättern steht geschrieben, daß die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, j) unzählbare, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen. Das bibliographische Institut in Brüssel befleißigt sich ebenfalls des Chaotischen: es hat das Weltall in tausend Unterteilungen zerstückelt. Nummer 262 entspricht dem Papst, 282 der römisch-katholischen Kirche, 263 dem Tag des Herrn, 268 den Sonntagsschulen, 289 dem Mormonismus und 294 dem Brahmanismus, Buddhismus, Schintoismus und Taoismus. Es schreckt vor den heterogensten Unterteilungen nicht zurück. So zum Beispiel Nummer 179: »Grausamkeit gegen Tiere. Tierschutz. Das Duell und der Selbstmord, moralisch betrachtet. Verschiedene Laster und Gebrechen. Verschiedene Tugenden und Qualitäten«.