Sprache: Wege zum Verstehen

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Ich habe Wilkins, den unbekannten (oder apokryphen) chinesischen Enzyklopädisten und das Bibliographische Institut in Brüssel mit einer Aufstellung von Beliebigkeiten vorgeführt. Bekanntlich existiert keine Klassifikation des Universums, die nicht willkürlich und mutmaßlich ist. Aus einem sehr einfachen Grund: wir wissen nicht, was das Universum ist.

|69◄ ►70|

Bei der Beschreibung des Systems einer Einzelsprache kommt es nun genau darauf an zu rekonstruieren, welche Kategorisierungen konventionalisiert sind, nämlich Lexemen der langue (eines Systems, das für eine ganze Sprachgemeinschaft oder größere Untergruppen davon verbindlich ist) entsprechen.

|70◄|

|►70|

13 Bedeutungsverwandte Ausdrücke: Wortfelder

Das Wortfeld Oberbegriff – Unterbegriffe

Da die valeur eines Lexems sich daraus ergibt, welche anderen Lexeme ihm an der Seite stehen, besteht ein erster Schritt der Rekonstruktion der sprachspezifischen Kategorien in der Zusammenstellung von Lexemen, die einander ähnlich sind, sich eben gegenseitig begrenzen. Solche Gruppen bedeutungsverwandter Lexeme werden mit dem Terminus Wortfeld bezeichnet. Genauer gesagt werden jedoch bei der Zusammenstellung immer nur einzelne Lesarten dieser Lexeme berücksichtigt. Die Fragestellung ist also zunächst onomasiologisch: Welche Lexeme gibt es für diesen Gegenstandsbereich? Für den Gegenstandsbereich ›Behältnisse‹ kommen z.B. neben Sack und Tasche im Deutschen noch in Frage: Tüte, Beutel, Netz, Ranzen, Korb, Mappe, Tornister, Dose, Kiste, Truhe … Alle fallen unter einen Oberbegriff (man benutzt dafür auch den Terminus Hyperonym, zu griechisch hyper- ›über‹), hier: ›Behälter‹. Umgekehrt spricht man von Unterbegriff (oder Hyponym, zu griechisch hypo- ›unter(halb)‹). Mann, Frau, Kind, Junge, Mädchen usw. sind z.B. hyponym zu ›Mensch, Person‹.

Synonymie

Bedeutungsverwandte Ausdrücke sind einander natürlich mehr oder weniger nahe. Eng bedeutungsverwandte Ausdrücke können |70◄ ►71| gleichermaßen auf ein und denselben Referenten angewandt werden. So kann man für einen bestimmten Gegenstand etwa durchaus wählen zwischen Tasche, Tüte und Beutel; auf keinen Fall könnte man dagegen für denselben Gegenstand Dose, Kiste oder Truhe verwenden. Wenn zwei Lexeme ohne jeden Bedeutungsunterschied in jedem möglichen Parole-Akt gegeneinander ausgetauscht werden können, sprechen wir von strenger Synonymie. Ein solcher Fall kommt jedoch nur selten vor, meistens gehören die Ausdrücke nämlich mindestens einer anderen Varietät an: Beispielsweise sagt man im Süden Samstag, im Norden Sonnabend, in Frankreich quatre-vingt-dix, in der französischen Schweiz und Belgien nonante usw.

Das Beispiel der Personenbezeichnungen

Hat man bedeutungsverwandte Ausdrücke zusammengestellt, kommt es weiter darauf an zu bestimmen, was sie inhaltlich gemeinsam haben und worin sie sich unterscheiden. Wir suchen also nach den Differenzierungsmerkmalen. Beginnen wir mit einem ganz einfachen Beispiel, den gängigsten Personenbezeichnungen im Deutschen: Mensch, Kind, Frau, Mann, Mädchen, Junge. Alle diese Lexeme haben eines gemeinsam: Sie bezeichnen menschliche Wesen, daher ist der Ausdruck Mensch der Oberbegriff zu den anderen. Als Differenzierungsmerkmale kommen offensichtlich das Geschlecht und das Alter ins Spiel. Man kann diese Verhältnisse zusammenfassend in der folgenden Tabelle darstellen:


Semantische Merkmale/Seme

Wie man sieht, lässt sich die Bedeutung der sechs Lexeme säuberlich voneinander unterscheiden, wenn man drei Differenzierungsmerkmale berücksichtigt. Diese analytisch unterscheidbaren Bedeutungskomponenten bezeichnen wir von jetzt an als semantische Merkmale oder Seme. Jedes Lexem weist eine andere Kombination von Semen auf. Allen gemeinsam ist das semantische Merkmal ›menschlich‹, das einzige, das bei Mensch spezifiziert ist; daran ist erkennbar, dass dies der Oberbegriff ist. Bei Kind ist das Merkmal Geschlecht nicht spezifiziert, dieses Lexem bildet daher den Oberbegriff zu Junge und Mädchen. Die Bedeutung eines Lexems, den signifié, können wir nun also als ein

Semem: ein Bündel semantischer Merkmale

Bündel von Semen betrachten. Dafür benutzt man den Ausdruck Semem.

|71◄ ►72|

Der Nutzen der Merkmalanalyse

Welchen Nutzen hat eine solche Aufspaltung der Lexembedeutung in Seme? Einerseits kann man auf diese Weise sehr klar die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Lexemen darstellen. Dies ist besonders deswegen möglich, weil Merkmale, die auf den ersten Blick ganz verschieden zu sein scheinen, als verschiedene Ausprägungen ein und desselben Merkmals analysiert werden. So kann man bei Lebewesen etwa zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen unterscheiden, aber auch mit dem Merkmal ›menschlich‹ und den Ausprägungen ›ja/ nein‹ bzw. ›+/ – ‹ arbeiten. Bei Vorliegen von › – menschlich‹ würde man dann auf einer Ebene tiefer mit dem Merkmal ›± tierisch‹ operieren. Ebenso kann man weiblich und männlich zusammenfassen und wahlweise ›männlich‹ als › – weiblich‹ bzw. ›weiblich‹ als › – männlich‹ definieren.

Sprachvergleich

Vor allem erlaubt uns die Methode aber auch, die Lexeme verschiedener Sprachen miteinander zu vergleichen. Sie operieren nämlich häufig mit denselben Semen. Zumindest einige (vielleicht aber auch sehr viele) semantische Merkmale sind bei der sprachlichen Kategorisierung so fundamental, dass wir sogar annehmen können, es handele sich um universale, also in allen Sprachen vorliegende, Merkmale. Dazu gehört höchstwahrscheinlich das Sem ›menschlich‹, denn die Besonderheit der eigenen Gattung gegenüber anderen Lebewesen sprachlich hervorzuheben, entspricht anscheinend einem menschlichen Grundbedürfnis.

Die Semanalyse kann aber vor allem Unterschiede zwischen Einzelsprachen aufdecken, und auch dafür finden wir in unserem einfachen Beispiel schon einen Beleg, für den wir nur das Französische heranziehen müssen. Dort gibt es nämlich kein besonderes Lexem mit der Semkombination: ›menschlich‹, ›männlich‹, ›erwachsen‹, denn homme entspricht ja sowohl Mann als auch Mensch. Man muss also aus dem Kontext entnehmen, welche Lesart gemeint, welches die aktuelle Bedeutung ist, oder sich mit einem komplexen Ausdruck wie être humain bzw. (être humain) adulte (de sexe) masculin behelfen.

Systematisierung des Ansatzes: die Komponentenanalyse

Für die differenzierte Beschreibung des lexikalischen Inventars einer Einzelsprache, aber auch für den systematischen Vergleich des Wortschatzes verschiedener Sprachen wäre es nun sehr nützlich, wenn wir alle Lexeme als Sememe, als Bündel semantischer Merkmale, darstellen könnten. Dabei würden wir dann auch Aufschluss darüber gewinnen, wie ähnlich oder verschieden die vielen Einzelsprachen denn eigentlich sind: Arbeiten sie überwiegend mit denselben Semen und sind nur die jeweiligen Bündelungen, also die Sememe, verschieden, oder gibt es auch (viele) sprachspezifische Seme? Besonders in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts hat man in der Semantik viele Anstrengungen unternommen, Wortfelder nach dieser Methode zu analysieren. Diese Ansätze fasst man unter der Bezeichnung Merkmal-|72◄ ►73| oder Komponentenanalyse zusammen. Ein bekanntes Beispiel8 für solch eine Analyse betrifft Lexeme für Sitzgelegenheiten im Französischen:

Das Beispiel der Sitzgelegenheiten


Wie man sieht, wird hier die oben schon angedeutete Methode angewandt, Inhaltsbestandteile als Ausprägungen von Semen darzustellen. Für die Beispiellexeme reichen die Ausprägungen + oder – ; zusätzlich wird aber oft die Ausprägung ›irrelevant‹ bzw. ›nicht spezifiziert‹ (unser früheres ›unentschieden‹) notwendig, dargestellt meist durch ± oder Ø. Die einzelnen Seme werden mit einem kleinen ›s‹ symbolisiert und durchnummeriert, die gleichfalls durchgezählten Sememe bekommen den Großbuchstaben ›S‹. Gegenüber normalen Bedeutungsumschreibungen, wie wir sie in Wörterbüchern finden, hat die Darstellungsmethode folgenden Vorteil: Sie zwingt uns zu einer expliziten, vollständigen und kohärenten Beschreibung. Alle bedeutungsverwandten Lexeme werden ›im selben Format‹ beschrieben, und zwar vollständig, und erst dies gewährleistet einen exakten Vergleich.

Probleme der Analysemethode

Die Methode wirft aber auch eine Reihe von Schwierigkeiten auf, und tatsächlich sind bislang für keine Sprache größere Ausschnitte des Wortschatzes auf diese Weise beschrieben oder gar zweisprachige Wörterbücher nach diesem System erstellt worden. In neuerer Zeit ist man sogar insgesamt von dieser Methode der Bedeutungsbeschreibung wieder abgekommen. Wir wollen im Folgenden klären, wo ihre Probleme liegen und konzentrieren uns dabei auf zwei Aspekte. Einerseits fragt sich, ob die Komponentenanalyse tatsächlich fein genug zwischen bedeutungsverwandten Ausdrücken unterscheiden kann und alle relevanten Differenzierungsmerkmale erfasst. Andererseits kann man daran zweifeln, dass eine Inhaltskomponente tatsächlich mit Hilfe der Ausprägungen +, – und ± bestimmt werden kann. In traditionellen Wörterbuchbeschreibungen heißt es nämlich stattdessen – und dies ist wahrscheinlich kein Zufall – oft, ein bestimmtes Merkmal sei ›mehr bzw. weniger‹, ›meistens oder selten‹ gegeben und dergleichen. Dies ist auch bei beiden Beispielen aus Kapitel 10 der Fall (vgl. Textbeispiel |73◄ ►74| 11). Bei weiß heißt es u.a. (Lesart 2a) ›sehr hell aussehend‹, bei Sack ›größeres Behältnis‹.

 

|74◄|

|►74|

14 Die so genannten Synonyme I: Denotation und Konnotation

Eng bedeutungsverwandte Ausdrücke

Unsere Paradebeispiele für die Komponentenanalyse – die zitierten Analysen der Personenbezeichnungen und der Sitzmöbel – sind insofern problematisch, als sie jeweils nur wenige Lexeme berücksichtigen und gerade besonders eng bedeutungsverwandte Ausdrücke beiseite lassen. Ein bestimmtes Wesen ist in der Regel entweder Mann, Frau, Junge oder Mädchen, wählen kann man also nur zwischen einem dieser Ausdrücke und den Oberbegriffen Mensch bzw. Kind. Es gibt aber noch eine große Menge weiterer Lexeme, die man wahlweise einsetzen kann, um auf ein und dasselbe Wesen (bzw. die entsprechende Gruppe) zu referieren, Ausdrücke also, die quasi synonymisch sind. Demonstrieren wir dies lediglich an dem Ausschnitt für nicht-erwachsene Personen. Dafür erweitern wir zunächst die Lexemliste:

Nicht-erwachsene Personen

– Kind, Kleinkind, Baby, Säugling, Gör(e), Balg, Kids, Teenie

– Mädchen, Mädel, Maid, Dirn, Girlie

– Junge, Knabe, Bub(e), Bengel, Bursche

Referenzielle/ denotative Bedeutungsebene

In der ersten Gruppe, bei den geschlechtsunspezifischen Bezeichnungen, gibt es offenbar noch ein eindeutiges Differenzierungsmerkmal, nämlich das Alter. Offenbar reicht › – erwachsen‹ zur Abgrenzung nicht aus: Kleinkind, Baby und Säugling referieren auf jüngere Kinder, Teenie sollte nur für Kinder von mindestens (drei)zehn Jahren gebraucht werden können. Dieses Differenzierungskriterium ist, ebenso wie das Geschlecht, sehr leicht nachvollziehbar; es betrifft nämlich bestimmte Eigenschaften der Referenten, und zwar Eigenschaften, die ihnen objektiv zukommen. Sie dienen zur Unterscheidung von Gegenstandsklassen in der Wirklichkeit, und das war ja auch der Ausgangspunkt unserer Überlegungen: Worauf, auf welche Klasse von Objekten kann man mit dem Lexem referieren? Diese Art von Differenzierungsmerkmalen betrifft die referenzielle oder denotative Bedeutungsebene (zu lateinisch denotare ›bezeichnen‹), und auf ihre Herausarbeitung ist die Komponentenanalyse konzentriert. Was jedoch macht man mit bedeutungsverwandten Ausdrücken wie Kinder und Kids oder Junge, Knabe, Bub? Sie haben nämlich jeweils dieselbe referenzielle Bedeutung, es |74◄ ►75| lässt sich kein denotatives Merkmal finden, das sie gegeneinander abgrenzen würde. Und was unterscheidet ein Gör von einem Kind, ein Mädchen von einem Mädel und einem Girlie? Offensichtlich kommen hier andere Differenzierungskriterien ins Spiel. Die semantische Analyse ist mit der Aufdeckung der denotativen Merkmale eines Lexems nicht abgeschlossen.

Andere Bedeutungsebenen

Um sich zunächst darüber Klarheit zu verschaffen, wie diese Lexeme verwendet werden, wird man ein semasiologisches Wörterbuch benutzen (also eines, in dem die Ausdrücke alphabetisch angeordnet und mit einer Bedeutungsbeschreibung versehen sind). Wahrscheinlich müssen dies auch manche Personen mit Deutsch als Muttersprache tun, denn einige der genannten Ausdrücke sind nicht allen Sprachteilhabern vertraut. Außerdem werden sie (von verschiedenen Gruppen und in verschiedenen Situationen) auch unterschiedlich verwendet. Wir stoßen hier also erneut auf den früheren Befund, dass nämlich die Bedeutungsbeschreibung in Wörterbüchern kompliziert ist (und sein muss), weil Lexeme polysem sind und es verschiedene Varietäten einer Einzelsprache gibt. Dies ist nun auch der Grund dafür, dass man die Erläuterungen aus traditionellen Wörterbüchern nicht einfach vollständig in eine Komponentenanalyse des oben dargestellten Formats übersetzen kann. Es fehlen dort meist bestimmte Ebenen der Analyse.

In der Semantiktheorie ist sehr umstritten, wie diese Phänomene angemessen behandelt werden können, und es wurden zahlreiche Lösungen vorgeschlagen. Diese können hier nicht im Einzelnen vorgestellt werden. Vielmehr geht es vor allem darum, einige grundlegende Unterscheidungen zu treffen, die es uns erlauben, über die verschiedenen Ebenen des konventionalisierten Lexemgebrauchs zu sprechen. Ferner sollen an den Beispielen die Veränderlichkeit von Wortgebräuchen, die Interaktion verschiedener Bedeutungskomponenten und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten für die Lexikografen aufgezeigt werden. Denn wie wir schon am Beispiel von Sack gesehen haben, sind die für die erste Auflage dieses Buchs herangezogenen Nachschlagewerke kontinuierlich neu bearbeitet worden, und das betrifft auch mehrere der hier diskutierten Beispiele. Schließlich haben sich die Arbeitsbedingungen für Lexikografen im letzten Jahrzehnt erheblich geändert und man kann heute auf Ressourcen zurückgreifen, die früher noch nicht zur Verfügung standen. Auch dies soll ansatzweise an den Beispielen demonstriert werden.

Beginnen wir mit dem Lexempaar Baby – Säugling. Im Duden Universalwörterbuch

Baby – Säugling

1996 fanden wir folgende Erklärungen:

Baby ›Säugling, Kleinkind im ersten Lebensjahr‹

Säugling ›Kind, das noch an der Brust der Mutter oder mit der Flasche genährt wird‹

|75◄ ►76|

Offenbar sind beide Ausdrücke also synonym. In den neueren Ausgaben der Wörterbücher aus dem Dudenverlag ist nun die Bedeutung von Säugling in zwei Unterlesarten aufgespalten:

Säugling

a. ›Kind, das noch an der Brust der Mutter oder mit der Flasche genährt wird‹

b. ›Kind im ersten Lebensjahr‹

Das überrascht insofern, als die durch beide Bestimmungen definierten Gruppen ja referenzidentisch sind. Es sind eben Kinder im ersten Lebensjahr, die nur flüssige Nahrung zu sich nehmen können. Die frühere Differenz hatte ich damit erklärt, dass die relative Motiviertheit von Säugling, seine Verwandtschaft mit dem Verb saugen, bei der Bedeutungsbeschreibung ausgenutzt und ins Gedächtnis gerufen wird. Damit wird also die Ernährungsweise von Kleinkindern in den Mittelpunkt gerückt und dieses Merkmal zur Klassifizierung benutzt. In der Bedeutungsbeschreibung von Baby ist das nicht der Fall, hier wird das Alter als Differenzierungsmerkmal eingesetzt, denn Säuglinge haben eben auch die Eigenschaft, klein und vor noch nicht allzu langer Zeit geboren worden zu sein.

Die veränderte Eintragung lässt darauf schließen, dass nach Einschätzung der Lexikografen das Wachrufen der Motiviertheit von Säugling in den Hintergrund rückt und die Sprachteilhaber gar nicht mehr (immer, häufig) an diese Beziehung denken. Dies würde bedeuten, dass Säugling ein weniger sprechender Ausdruck ist als z.B. Brust-, Flaschenkind oder auch Neugeborenes und Wickelkind, dass es ein ziemlich neutraler Ausdruck ist, da in bestimmten Kontexten das geläufigere Baby nicht vorkommt (vgl. z.B. Säuglingsstation, Säuglingsschwester, Säuglingssterblichkeit ).

Dass tatsächlich die relative Motiviertheit ganz aus dem Bewusstsein verschwinden kann, zeigen am besten tote Metaphern wie etwa Handschuh, wo niemand mehr an die Übertragung des Ausdrucks für die Fußbekleidung denkt. Das ist erst recht der Fall bei synchron nicht mehr durchschaubaren Lexemen wie dem französischen enfant, das zurückgeht auf den lateinischen Ausdruck infans. Dieser ist relativ motiviert und benutzt das Nicht-Sprechen der Säuglinge als Differenzierungsmerkmal (in: ›Privativ/Negativ‹ und fans zu fari ›reden‹).

Da die genannten Eigenschaften den betreffenden Referenten alle gleichzeitig zukommen, sind die Ausdrücke referenziell identisch. Würde man also eine große Gruppe Menschen verschiedenen Alters an einem Ort versammeln und eine Person beauftragen, auf alle Babys zu zeigen, einer zweiten sagen, sie solle alle Säuglinge streicheln usw., dann müssten alle jeweils dieselben Menschen auswählen und dieselbe Gruppe von ›Kindern unter einem Lebensjahr‹ zusammengreifen. Dennoch sind die Lexeme semantisch unterschiedlich, sie fokussieren |76◄ ►77| nämlich einen jeweils anderen Differenzierungsaspekt – die Referenten werden unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet. Im Unterschied

Konnotative Bedeutungsmerkmale

zu den referenziellen oder denotativen Merkmalen sprechen wir hier von konnotativen Bedeutungsmerkmalen (lateinisch con- ›mit‹).

Venus – Morgenstern – Abendstern

Führen wir dafür noch einige Beispiele an. Ein besonders berühmtes, das auch sehr schön verdeutlicht, inwiefern es um den jeweiligen Blickwinkel geht, ist der zweite Planet unseres Sonnensystems. Dieses Objekt gibt es nur einmal, es existieren aber drei geläufige Lexeme dafür im Deutschen: Von der Venus spricht man, wenn man das Gestirn im Zusammenhang mit unserem Sonnensystem betrachtet, vom Morgenstern, wenn man die Himmelskörper unter dem Gesichtspunkt betrachtet, wie es am Morgen aussieht, vom Abendstern, wenn man dasselbe für den Abendhimmel tut.

Lexem – Semem

In den bisherigen Ausführungen zur Semantik haben wir auch schon eine solche Differenzierung nach unterschiedlichen Gesichtspunkten vorgenommen: Von einem Lexem spricht man unter dem Gesichtspunkt, dass das Zeichen zum Lexikon einer Sprache gehört, von einem Semem unter dem Gesichtspunkt, dass es sich aus Semen zusammensetzt.

Göre und Balg

Versuchen wir jetzt, die Lexeme aus unserer obigen Liste zu bestimmen, die sich gleichfalls auf Grund besonderer konnotativer Merkmale von anderen unterscheiden. Dafür kommen vor allem Göre und Balg in Frage. Für die beiden Ausdrücke fanden wir im Duden Universalwörterbuch (1996) die folgenden Erklärungen:


Gör(e): (nordd., oft abwertend):1. ›[schmutziges, unartiges] Kind‹
2. ›vorwitziges, freches kleines Mädchen‹
Balg: (ugs., meist abwertend):›[unartiges, schlecht erzogenes] Kind‹

Abwertende Ausdrücke: die Pejoration

Wie man sieht, wird uns hier gleich eine ganze Reihe von differenzierenden Merkmalen präsentiert. Zunächst interessiert uns die Charakterisierung ›(oft/meist) abwertend‹, also die Pejoration. Diese betrachten wir als einen Spezialfall der Konnotation: Mit pejorativen Ausdrücken (zu lateinisch peior, Komparativ von malus ›schlecht‹) bringt man ja auch einen bestimmten Blickwinkel, nämlich eine emotionale Einstellung ins Spiel, und zwar eine negative. Wer Lexeme wie Gör und Balg benutzt, bringt zum Ausdruck, dass ihm die Kinder auf die Nerven gehen, dass er sich über sie ärgert oder dergleichen. Nun gehen Kinder anderen (besonders erwachsenen) Menschen natürlich im Allgemeinen nicht überhaupt, sondern nur unter bestimmten Bedingungen und aus bestimmten Gründen auf die Nerven, z.B. wenn sie Arbeit machen – das tun sie, wenn sie sich schmutzig machen –, oder wenn sie etwas tun, was man für unartig, vorwitzig, frech hält, wenn man sie als schlecht erzogen erlebt. All diese Bestimmungen werden in der Bedeutungsbeschreibung genannt, und eigentlich erscheinen sie als denotative|77◄ ►78| Merkmale. Es handelt sich also nicht um echte Synonyme zu Kind, sondern um Ausdrücke für eine Untergruppe von Kindern, nämlich solche, die unartig usw. sind. Bei Gör in der geschlechtsspezifischen Lesart (›vorwitziges, freches kleines Mädchen‹) schien der Duden tatsächlich von einer solchen grundsätzlichen denotativen Komponente auszugehen. Für die Lesart ›Kind‹ dagegen wurden sowohl bei Gör als auch bei Balg diese referenziellen Komponenten nur in Klammern gesetzt. D.h. so viel wie: ›meist, aber nicht unbedingt unartig …‹. Haben sich die Gebrauchsbedingungen bei Gör(e), Lesart 2, in den letzten Jahren geändert? Jedenfalls sind inzwischen auch diese Adjektive in Klammern gesetzt. Man kann diese Lexeme also in beiden Lesarten auch in Bezug auf ganz brave Kinder verwenden. Das werden aber nur Leute tun, denen selbst artige Kinder noch auf die Nerven gehen; in diesem Fall liegt ausschließlich Pejoration, das konnotative Merkmal ›abwertend‹, vor.

Das Zusammenspiel der denotativen und konnotativen Ebene

Das Beispiel zeigt, dass man die denotative und konnotative Ebene durchaus nicht immer säuberlich auseinanderhalten kann. Dies ist kein Fehler der Beschreibung, sondern liegt in der Natur der Sache, um die es eben in der Kommunikation oft Streit gibt: Ist es nun der Fehler der Kinder, die zu unartig sind, oder der Fehler des Erwachsenen, der nicht kinderfreundlich genug ist, wenn sie diesem als Gören oder Bälger erscheinen? Dieser fließende Übergang zu denotativen Merkmalen ist bei wertenden Konnotationen die Regel; wenn man also in einem Text auf einen solchen Ausdruck stößt, steht man immer vor der Frage, ob dies nun auf eine für den Sprecher typische Einstellung zum Referenten schließen lässt oder auf besondere Eigenschaften des Referenten, dem der Sprecher im Allgemeinen neutral gegenübertritt.

 

Aufwertende Ausdrücke: die Melioration

Ähnliches gilt auch für das positive Pendant zu Pejorativa, die aufwertenden, ›bedeutungsverbessernden‹ Ausdrücke, die man auch meliorative (zu lateinisch melior, Komparativ von bonus ›gut‹) nennt. Hier wird die Sache in ein besonders günstiges Licht gestellt bzw. unter einem entsprechenden Gesichtspunkt betrachtet. Konventionalisierte meliorative Ausdrücke sind viel seltener als pejorative (anscheinend gibt es mehr Bedarf zum Ausdruck negativer Einstellungen). Ein Standardbeispiel für Melioration sind gewisse euphemistische Bezeichnungen für das Sterben, nämlich verscheiden oder heimgehen, in denen der Tod als eine Station auf einem Weg betrachtet wird, der noch nicht beendet ist und sogar heim (ins Paradies) führt. Sehr häufig werden jedoch in Parole-Akten (unter Umständen auch in einem längeren Diskurs über eine gewisse Zeit hin) positiv konnotierte (komplexe) Ausdrücke z.B. zur Verschleierung von Gräueln verwendet. Ein noch immer aktuelles Beispiel dafür ist der Ausdruck ethnische Säuberung, der von den Verantwortlichen für die Vertreibung und Vernichtung von bestimmten ethnischen Gruppen verwendet wird. Andere nennen dies Völkermord oder Genozid.

|78◄ ►79|

Diminutiva

Positive Konnotationen kommen sehr häufig durch komplexe Ausdrücke zustande, z.B. durch die Kombination mit Verkleinerungsformen, durch diminutive Ausdrücke (zu lateinisch diminutum ›verkleinert‹). Kleinheit wird in Bezug auf viele Referenten nämlich mit ›niedlich‹ assoziiert. Schon die Fokussierung des Merkmal ›klein‹ in Baby führt dazu, dass dieser Ausdruck viel besser dazu geeignet ist, positive Emotionen zu transportieren als etwa Säugling oder Wickelkind. Man kann ihn auch noch zusätzlich mit verkleinernden Zeichen umstellen: Mein kleines Babylein. So ist es kein Zufall, dass heutzutage das aus dem Englischen entlehnte Baby das üblichste Wort zur Bezeichnung von Säuglingen ist, denn im Deutschen gibt es kein Erbwort mit dieser Konnotation. Schließlich führt die positive Konnotation auch zu einer Polysemie, die für Säugling oder Wickelkind undenkbar ist: Mit Baby referiert man ja nicht nur auf Kleinstkinder, sondern es ist auch ein geläufiges Kosewort (für Frauen).

|79◄|