Sprache: Wege zum Verstehen

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15 Die so genannten Synonyme II: Gebrauchsbedingungen

Markierungen im Wörterbuch: umgangssprachlich, norddeutsch …

Nach der Konnotation kommen wir zu einer weiteren Ebene, auf der sich bedeutungsverwandte Ausdrücke unterscheiden können. Auch diese Merkmale sind in der Beschreibung von Balg und Gör angeführt: Balg wird als »ugs.«, d.h. umgangssprachlich, gekennzeichnet, Gör als norddeutsch. Hier kommen also die Varietäten ins Spiel: Referenziell identische oder weitgehend ähnliche Ausdrücke können sich immer noch darin unterscheiden, dass sie nur in bestimmten Regionen, von bestimmten Gruppen, in bestimmten Situationen usw. verwendet werden. Wir sprechen bei dieser Ebene von den Gebrauchsbedingungen der Lexeme. Es ist ganz entscheidend diese Ebene, die für die große Vielfalt bedeutungsverwandter Ausdrücke verantwortlich ist. Sie kann uns auch dazu dienen, unsere restlichen Ausdrücke für Kinder zu

Regionale Gebrauchsbedingungen historisch

differenzieren: Regional spezifiziert sind außer Göre auch noch Mädel, Maid, Bub(e) (alle süddeutsch) und Dirn, Bengel (norddeutsch). Zu den Gebrauchsbedingungen gehört auch die historische Dimension. Knabe klingt nicht sehr aktuell, während Kids, Teenie und Girlie relativ moderne Ausdrücke sind, die erst seit dem Aufkommen einer englisch-amerikanisch geprägten Jugendkultur üblich geworden sind, und zwar mit der Phase, in der immer jüngere Kinder ein spezifisches Konsum- und Freizeitverhalten entwickelt haben. Die Ausdrücke sind daher gleichzeitig sozial und vielleicht sogar referenziell spezifiziert. Sie

sozial

|79◄ ►80| bezeichnen eben die Jugend einer bestimmten Generation mit besonderem ›Lifestyle‹ und werden nur (oder jedenfalls derzeit vorwiegend noch) von dieser oder für diese Gruppe verwendet.

Auch bei Knabe liegen die Verhältnisse komplizierter als eingangs gesagt. Der Duden (1996) führt nämlich wiederum diverse Bestimmungen

stilistisch

an: ›gehoben‹, das ist eine stilistische Markierung, ›veraltet‹, das ist die historische Komponente, ›sonst Amts- und Geschäftssprache‹

situativ

– hier haben wir es schließlich mit einer situativen (und sozialen) Charakterisierung zu tun. Außerdem gibt es noch eine zweite Lesart, nach der Knabe ›umgangssprachlich, oft scherzhaft‹ im Sinne von ›Bursche, Kerl, Mann‹ gebraucht werden kann, wo also das Merkmal ›jung‹ neutralisiert ist, wie z.B. in Hallo, alter Knabe (zu einem 50jährigen).

Bei den Hinweisen zu einigen Änderungen in den Wörterbucheinträgen hat vielleicht manche schon ein gewisser Unmut befallen. Sind die Änderungen sinnvoll, begründet, und kann man überhaupt in einem Wörterbuch die Feinheiten und verschiedenartigen Gebrauchsweisen annähernd exakt erfassen? Die Mittel eines normalen Wörterbuchs, jedenfalls eines Einbänders, sind da zweifellos sehr begrenzt. Das gibt Anlass, auf die neuen Möglichkeiten einzugehen, die das Internetzeitalter den Linguisten und allen anderen an Sprache Interessierten eröffnet.

Girlie

Dafür eignet sich besonders gut der Ausdruck Girlie.

Der Duden-Zehnbänder von 1999 gibt für diesen Ausdruck folgende, etwas überraschende Erklärung, nach der es sich gar nicht um Mädchen, sondern anscheinend um ältere weibliche Personen handelt:

›junge Frau, die unkonventionelle, mädchenhafte, aber körperbetonte Kleidung mit selbstbewusstem, manchmal frechem Auftreten verbindet‹.

Er führt auch einen Beleg an:

Ohne die Frauenbewegung hätten diese Girlies nicht die Freiheit, die sie jetzt genießen (Spiegel 3, 1995, 105).

Hier hat man versucht, ein recht komplexes Phänomen in die im Wörterbuch übliche und notwendige Kurzdefinition zu bannen und mit dem Beleg immerhin den relevanten Kontext Frauenbewegung, Emanzipation aufzurufen. Im Duden Universalwörterbuch 2006 ist übrigens das Merkmal der (körperbetonten) Kleidung nicht mehr genannt. Dort heißt es:

›unkonventionelle junge Frau mit selbstbewusstem, manchmal frechem Auftreten‹.

Wer es nun etwas genauer wissen will (und vielleicht auch die Zweifel nicht los wird, ob mit Girlie nicht doch eigentlich auch Mädchen bezeichnet werden können müssten), tut gut daran, im Neologismenwörterbuch|80◄ ►81| nachzuschlagen, das das Institut für deutsche Sprache in Mannheim im Projekt Online-Wortschatz-Informationssystem Deutsch, kurz OWID, bereitstellt (www.owid.de/Neologismen/). Eine Online-Version erleichtert nicht nur den Zugriff, sondern hat auch nicht mit den Umfangsbeschränkungen zu kämpfen, denen gedruckte Wörterbücher unterliegen. So findet man in dieser Quelle ausführliche und übersichtlich präsentierte Angaben zu Schreibung, Grammatik, Herkunft, Aufkommen (»seit Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts in Gebrauch«) und Bedeutung. Außerdem enthält es auch eine Reihe von Belegen, in denen Sprachteilhaber das Wort (und das Phänomen) kommentieren – das ist für Neubildungen ja nicht untypisch –, also metakommunikative Äußerungen, die sehr konkret vor Augen führen, worum es sich denn nun eigentlich handelt.

Online-Wörterbuch

Als einzige Lesart führt auch dieses Wörterbuch an: ›junge Frau‹ mit der genaueren Beschreibung

›mädchenhafte, sehr junge Frau mit selbstbewusstem, oft provozierendfrechem Auftreten, die unkonventionelle, oft körperbetonte Kleidung trägt‹.

In einem Kommentar (versteckt) liest man dann auch:

»Girlie wird auch allgemein für ›junges Mädchen/junge Frau von heute‹ verwendet«.

Von den Belegen scheinen mir die folgenden besonders aufschlussreich, nicht nur für das Phänomen, sondern auch für die Aufschlusskraft metakommunikativer Belege.

Eine neue Art Frau – die ›Girlies‹ [Überschrift] Der Feminismus, so heißt es, sei in die Jahre gekommen, aber was kommt eigentlich danach? Die SPIEGEL-Redakteure […] haben »Emmas Töchter« gesucht – und dabei eine neue Art Frau gefunden, die sich […] »Girlie« nennt, ihre eigenen Zeitschriften und Videos hat sowie mit kurzen Röcken und klobigen Kampfstiefeln in New York oder Berlin herumläuft. Popkünstlerinnen wie Courtney Love oder Liz Phair verbreiten die Inhalte dieser neuen Weiblichkeit: viel Sex, viel Spaß und keinesfalls ein verbissener Männerhaß. (Der Spiegel, 47/1994)

Was sind denn Girlies? [Überschrift] Mädchen, die auf einmal selbstbewußt sein müssen, weil es das Girlie-Phänomen gibt. Weil es ein Trend ist. Das hat nichts damit zu tun, daß sie wirklich selbstbewußt sind. Das hat ihnen jemand verordnet, wer auch immer dieses Girlie-Syndrom in die Welt gesetzt hat. Früher waren es Tussis, heute sind es eben Girlies. (Frankfurter Rundschau, 10.02.1997)

Girlies sind keine naturbelassenen Teenager, sondern ausgewachsene Frauen, die für gute Geschäfte mit den »Kids« Kindchen mimen. […] (St. Galler Tagblatt, 19.06.1997)

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Als »Girly« bezeichnen sich die wenigsten der befragten Teenies. Die zerbrechen sich über das Modewort erst gar nicht den Kopf: »Warum soll ich mir einen Stempel aufdrücken lassen«, erklärt die 16jährige Tina provokant. (Tiroler Tageszeitung, 11.08.1998)

Auch Knabe ist ein gutes Beispiel, um zu zeigen, dass die Internet-Ressourcen durchaus zur Verbesserung von Wörterbucheinträgen genutzt werden (können). Die Erläuterung der Verwendungsweisen von Wörtern kann sich ja nur auf einen möglichst guten Überblick über den tatsächlichen Sprachgebrauch stützen. Im (selbstverständlich völlig utopischen) Idealfall müsste man also alle Belege sammeln und untersuchen, wer den Ausdruck wann und wo in welchem Kontext wie gebraucht hat. Es versteht sich, dass man früher nur intuitive Einschätzungen vornehmen konnte, und so erklärt sich auch, dass verschiedene Wörterbücher und Bearbeiter bei den Gebrauchsbedingungen oft unterschiedliche Angaben machen oder diese auch öfter ändern. Dies

Knabe

ist auch bei Knabe geschehen. Während das Duden Universalwörterbuch 1996 den Ausdruck noch u.a. als veraltend markierte, heißt es jetzt (2006):

›meist gehoben schweizerisch, sonst gehoben, Amtssprache‹.

Die stilistische und situative Markierung ist also beibehalten, aber statt der historischen erscheint jetzt eine regionale. Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, dass Wörterbuchschreiber inzwischen auf umfangreiche Korpora zurückgreifen (der Duden seit 2001) und dabei nicht umhin kommen festzustellen, dass Knabe auch in jüngeren Texten durchaus mit einer gewissen Häufigkeit zu finden ist.

Wenn man mit Korpora arbeitet, ist es natürlich wichtig, nicht nur eine breite Materialbasis zur Verfügung zu haben, sondern auch Texte aus verschiedenen Varietäten beizuziehen. Dem (West-)Duden – und auch westdeutschen Sprachwissenschaftlern – wurde nun lange vorgeworfen, den bundesdeutschen Standard (mit Schwerpunkt auf dem Norddeutschen) quasi als die ›normale Bezugsgröße‹ zu behandeln, während es sich doch beim Deutschen, ebenso wie etwa dem Englischen, Französischen und Spanischen, um eine plurizentrische Sprache handele, für die in unterschiedlichen Ländern verschiedene Standards ausgebildet werden, die als gleichberechtigt zu betrachten sind.

nationale Varietäten: Variantenwörterbuch

Um die verschiedenen nationalen Ausprägungen zu dokumentieren, wurde in langwieriger und mühevoller – selbstverständlich korpusbasierter – Arbeit das Variantenwörterbuch des Deutschen erstellt, das 2004 erschienen ist. Für Knabe kommt es zu folgenden Feststellungen: Der Ausdruck ist üblich nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Österreich und steht dort, aber auch im Süden Deutschlands neben Bub, während in Nord- und Mitteldeutschland das geläufigste Wort für |82◄ ►83| männliche Kinder Junge ist und Knabe in dieser Region nicht nur als gehoben, sondern auch als veraltend anzusehen ist. Nur die scherzhafte Verwendung wie in alter Knabe ist gemeindeutsch.

 

Genau dies stand übrigens auch schon im 1970 erschienenen dritten Band des Wörterbuchs der deutschen Gegenwartssprache (WDG) aus der DDR – und es wird sich sehr wahrscheinlich über kurz oder lang so auch im Duden wiederfinden.

Das digitalisierte WDG bildet übrigens die Grundlage für das derzeit von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erarbeitete Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, das einzige, das den

Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache

Wortschatz des 20. und 21. Jahrhunderts in dieser Art aufbereitet und auch die Korpusbelege frei online zugänglich macht (www.dwds.de).

Das ermöglicht auch die für den Gebrauchswert von Lexemen zweifellos sehr wichtige Feststellung, wie häufig quasi-synonyme Ausdrücke im Korpus belegt sind. Für den hier besprochenen Wortschatzausschnitt ergibt sich (im August 2008) die Reihenfolge: Junge (14.840 Belege), Knabe (4033), Bursche (2725), Bub (1495) und schließlich Bengel (305). Eine Verlaufsstatistik erlaubt Hinweise auf diachrone Entwicklungen. Ihr kann man z.B. deutliche Anhaltspunkte für den Rückgang von Knabe entnehmen:


Abb. 10: Verlaufsstatistik für ›Knabe‹ im DWDS-Kernkorpus

Sehr hilfreich sind Korpusrecherchen auch noch für eine letzte Ebene, die wir unterscheiden wollen. Sie betrifft den Tatbestand, dass man bestimmte Lexeme nur mit solchen anderen verbinden kann, die ein |83◄ ►84| bestimmtes semantisches Merkmal haben. Wir haben bis jetzt vor allem Ausdrücke betrachtet, die alle das Sem ›+ menschlich‹ haben. Viele Verben können nun als Subjekt nur Ausdrücke zu sich nehmen, die genau

Selektionsbeschränkungen

dieses Merkmal tragen. Wir sprechen hier von Selektionsbeschränkungen. Beispiele bieten etwa Verben für die Nahrungsaufnahme, die danach ausgewählt werden müssen, ob es Menschen sind, die essen und trinken oder Tiere, die fressen und saufen. Aber jeder wird wissen, dass man doch sagen kann: Dieser Mensch frisst und säuft den ganzen Tag. In diesem Fall wird die Selektionsbeschränkung durchbrochen, und das hat einen Einfluss auf die denotativen und/oder konnotativen Merkmale. Wenn man von einem Menschen sagt, dass er frisst und säuft, bringt man damit nämlich entweder zum Ausdruck, dass er übermäßig viel zu sich nimmt und/oder dass er dies ohne Beachtung der üblichen Tischsitten (eben wie ein Tier) tut oder man drückt schließlich eine irgendwie motivierte negative Einstellung zum (möglicherweise durchaus mäßigen und manierlichen) Essen und Trinken aus: Musst du immer nur ans Fressen denken, ich hab mit dir zu reden!

Kollokationen

Eine so deutliche Einschränkung der Verbindbarkeit von lexikalischen Elementen ist relativ selten. Wichtiger ist der Tatbestand, dass alle Lexeme üblicherweise in bestimmten Kombinationen auftreten, dass in der sprachlichen Umgebung andere erwartbar sind, weil die Referenten sachlich oder assoziativ zusammengehören: Bett – schlafen, Auto – fahren, Nacht – dunkel. Man bezeichnet diese typischen Umgebungen als Kollokationen des Ausdrucks (zu lateinisch collocatio ›Anordnung, Stellung‹). Zu den Selektionsbeschränkungen besteht dabei ein fließender Übergang, z.B. sagt man in der Regel nur von Pferden, dass sie wiehern, nur von Butter oder Öl, dass sie ranzig sind. Das Adjektiv stark dagegen ist in relativ vielen Kombinationen möglich, es hat aber eine andere Lesart, je nachdem in welcher Verbindung es vorkommt: starker Mann, stärkere (›dicke‹) Frau, starker Raucher, starke Schneefälle, starkes Stück. Die Kenntnis dieser üblichen Verbindungen von Lexemen, die auch noch entsprechend dem situativen Kontext variieren können – z.B. benutzt man in Todesanzeigen selten den Ausdruck sterben – macht viel von dem aus, was man das Sprachgefühl nennt und ist etwas, über das man in Fremdsprachen normalerweise nur in eingeschränktem Ausmaß verfügt.

Gut aufbereitete Korpora und darauf aufbauende Lexikonartikel enthalten nun auch solche Informationen zu häufigen Kontextpartnern.

Kerl

Dies sei am Beispiel des Ausdrucks Kerl demonstriert, den ich in der ersten Auflage schlichtweg als pejorativ konnotiert bezeichnet habe. Damit war ich hinter der Sprachentwicklung offenbar schon etwas zurück, denn die Wörterbücher der 1990er Jahre charakterisieren es lediglich als ›umgangssprachlich‹. Bezeichnend ist die Veränderung im Wahrig, wo das Wort 1980 bzw. 2006 folgendermaßen charakterisiert wird: |84◄ ►85|

1980 umg. ›Mensch, Mann, Bursche, Junge <oft abwertend>‹ […]

2006 umg.

1. Mensch, Mann, Bursche, Junge

2. <in Verbindung mit Adj.> ein durch bestimmte positive od. negative Eigenschaften ausgezeichneter Mensch […]

Noch weiter gehen die Wörterbücher aus dem Dudenverlag, wo zunächst innerhalb der Beschreibung der mögliche abwertende Charakter der Lesart 1 explizit genannt wurde, während er jetzt nur noch aus einigen Beispielen hervorgeht und die positive Lesart nicht mehr als familiär charakterisiert wird und anscheinend als besonders charakteristisch gilt, wenn man sich mit Kerl auf weibliche Personen bezieht:

1. (ugs.)

a. ›männliche Person, Mann, Bursche‹: ein junger, kräftiger, großer, langer K.; ein tüchtiger, anständiger, ehrlicher, forscher K.; ein unverschämter, frecher, gemeiner, widerlicher, grober, langweiliger, dummer, komischer, alberner K.; […] ich kann den K. nicht leiden!; schmeißt die Kerle/(nordd., md.:) Kerls hinaus!; du blöder K.! […]

2. (durch bestimmte [positive Charakter]eigenschaften charakterisierter) Mensch: ein patenter K.; sie ist ein feiner, netter, prächtiger, guter K.; ein lieber, goldiger, tapferer K.

Nun fragt sich natürlich, ob denn eigentlich dem Wort Kerl selbst eine bestimmte Konnotation zugesprochen werden kann oder es einfach die dabei stehenden Adjektive sind, die ihm eine bestimmte Färbung verleihen. Hier ist es nun nützlich auf Kollokationsanalysen zurückzugreifen. Das digitale Wörterbuch liefert z.B. folgende, automatisch berechnete Abbildung für zentrale Kollokationen:


Abb. 11: Kollokationen von Kerl (nach DWDS)

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Sie lassen erkennen, dass eine pejorative Lesart eher selten ist. Die Eigenschaften dumm und arm sind zwar nicht positiv, gehören aber auch nicht unter den Oberbegriff ›böse‹.

wortschatz.unileipzig. de

Die tendenziell positive Verwendung bestätigt auch eine andere Online-Quelle für den deutschen Wortschatz, das Wortschatz-Portal der Universität Leipzig, das u.a. die Kollokationen sehr ausführlich und detailliert präsentiert. Von den 37 Adjektiven, die man dort (im August 2008) als signifikant häufig mit Kerl verbunden findet, ist das mit Abstand häufigste nett (1476 Fälle), das in der obigen Abbildung gar nicht vorkommt. Erwähnt seien noch folgende Kontextpartner, links die mehr als 100 Mal belegten, rechts die eindeutig negativen:


arm (994)frech (51)
fein (484)autoritär (47)
jung (358)übel (42)
klein (271)schlecht (41)
ganz (224)ungehobelt (37)
prima (171)fies (32)
echt (150)nervig (30)
hart (141)
lieb (124)
anständig (120)
richtig (117)

Fazit: neutrale versus markierte Lexeme

Was ergibt sich nun aus all dem für unsere Sprachpraxis und auch den Nutzen von Wörterbüchern? Halten wir zunächst fest: Referenziell identische Ausdrücke zerfallen in zwei große Untergruppen: Die eine Gruppe bilden die üblichsten, ›normalen‹ oder neutralen Lexeme, die durch die denotativen Seme vollständig charakterisiert werden können. Man spricht auch von unmarkierten Ausdrücken; im Wörterbuch erhalten sie nämlich keine Markierung für Gebrauchsbedingungen wie ›gehoben‹, ›veraltet‹ o.ä. Das sind in unserem Fall Mensch, Mann, Frau, Kind und Mädchen. Die Ausdrücke der zweiten Gruppe sind demgegenüber in irgendeiner Weise markiert, sie transportieren zusätzliche Bedeutungskomponenten. Wenn ein Sprecher sie benutzt, dann gibt es dafür irgendeinen Grund und man kann daraus bestimmte Schlüsse ziehen. Im Grenzfall liegt der Grund einfach darin, dass für diesen Sprecher das benutzte Lexem statt des standardsprachlich neutralen das normale ist, weil er im Allgemeinen eine ganz bestimmte Varietät, z.B. einen Dialekt, benutzt. In diesem Fall können wir auf Grund des Lexemgebrauchs auf die Herkunft des Sprechers schließen. Norddeutsch indiziert auf jeden Fall der Plural Jungs. Junge(n) dagegen benutzen auch Sprecher aus dem süddeutschen Raum, für die das normalere eigentlich Bub ist; dieser Ausdruck klingt aber so eindeutig süddeutsch, dass sie ihn lieber vermeiden, schon um |86◄ ►87| nicht bezichtigt zu werden, Dialekt zu sprechen – die süddeutschen Regionalismen haben eben im Bewusstsein der Sprecher tendenziell noch immer ein geringeres Prestige als die norddeutschen.

Gründe für den Gebrauch markierter Lexeme

Das Besondere an den Varietäten einer Einzelsprache ist also, dass jeder einzelne Sprecher jeweils über mehrere davon verfügt. Das gilt am wenigsten für Dialekte, von denen die meisten Sprecher in der Regel höchstens einen beherrschen. Aber selbst Sprecher, die normalerweise Dialekt sprechen, z.B. Deutschschweizer, kennen heutzutage zugleich mindestens einen Ausschnitt der Standardsprache, die in der Schule vermittelt wird und der auf Grund der allgemeinen Schulpflicht ja niemand mehr entgehen kann. Bei der Begegnung mit Sprechern aus anderen Regionen, heutzutage besonders auch durch die Massenmedien, wird jeder außerdem mindestens mit einzelnen Lexemen konfrontiert, die in anderen Gebieten die üblichen sind, und so gehen auch diese in das Sprachwissen ein. Selbst wenn man sie dann nicht selbst aktiv gebraucht, so kann man sie doch mindestens verstehen und außerdem irgendwelche Schlüsse daraus ziehen, warum der andere sie benutzt hat. Außer der Identifizierung von dessen Herkunft kommen dabei die oben angeführten Ebenen infrage: Der Sprecher möchte eine bestimmte Bedeutungsnuance realisieren, ein bestimmtes Merkmal fokussieren, den Referenten in ein negatives oder positives Licht stellen, er möchte abwechslungsreich reden, z.B. um originell zu erscheinen oder gebildet, wozu ein Norddeutscher dann vielleicht ein Lexem wie Knabe benutzt. Vielleicht will er sich auch nur über eine bestimmte Gruppe von Sprachteilhabern lustig machen, indem er deren Ausdruck gewissermaßen zitierend und mit Distanz verwendet. Der Sprecher könnte aber im Gegenteil durch Übernahme dieses Ausdrucks auch seine Zugehörigkeit, Solidarität oder Vertrautheit mit der Gruppe ausdrücken. Dies versucht man z.B. in Massenmedien, nicht zuletzt in der Werbung, durch die Verwendung jugendsprachlicher Ausdrücke, um dem Zielpublikum nahe zu kommen. Textbeispiel 13 ist ein parodistisches Spiel mit der Sprache der Jugendkultur der 1970er und frühen 1980er Jahre. Heute sähe die Parodie schon wieder ganz anders aus. Besonders bei historischen Texten – an solchen lesen wir natürlich vor allem literarische – ist es also oft unumgänglich, sich über die genaue Bedeutung der Lexeme zu orientieren, und zwar über die zur Zeit der Abfassung des Werkes gültige. Dazu muss man historische und Spezialwörterbücher (z.B. zu einzelnen Autoren) heranziehen.

Die Interaktion zwischen verschiedenen Bedeutungsebenen

Es gibt also viele Gründe, markierte Lexeme zu gebrauchen, und wenn man einen Text wirklich gut verstehen will, dann muss man erstens wissen, welche Lexeme markiert sind und sich außerdem auch darüber orientieren können, welche Ebenen dabei eine Rolle spielen könnten. Die Interaktion zwischen denotativen und konnotativen Bedeutungsmerkmalen sowie den Gebrauchsbedingungen und Kollokationen |87◄ ►88| führt dazu, dass die wenigsten markierten Lexeme eindeutig einer bestimmten Ebene zugewiesen werden können. Deswegen wirken die Erläuterungen aus den Wörterbüchern (besonders wenn man mehrere heranzieht) auf den ersten Blick oft so widersprüchlich und unklar. Dies spiegelt jedoch nur die realen Verhältnisse, nicht zuletzt natürlich auch die Tatsache, dass selbst Lexikografen immer nur über ein begrenztes Sprachwissen verfügen, wenn sie auch einen sehr großen Ausschnitt des Wortschatzes einer Sprache und ihrer Varietäten aufbereiten. Gerade deswegen ist es nützlich, für praktische Recherchen viele Stellungnahmen einzuholen, d.h. mehrere Wörterbücher zu konsultieren.

 

Textbeispiel 13: Rotkäppchen in der Scene Von Irmela

Da wa ma ne echt coole Frau, die hatte sich die Haare mit Henna gefärbt, da hieß sie überall nur noch Rotkäppchen. Die wohnte bei ihren Alten wegen der Kohle, auf Malochen hatte sie Null Bock. Aber die Alten machten total Terror von wegen Jobben oder so. Emotional lief da rein gar nichts mehr, und ne Zweierkiste hatte sie auch gerade nicht am Laufen.

Da sagte sie sich: »Hier wirste nich alt, und überhaupt is Action angesagt« und machte sich vom Acker zu ner befreundeten Land-WG, die hatten mitten im Wald en irres Haus aufgerissen, von so ner kranken Oma. Bei Karstadt in der Reformabteilung klaute die Frau noch ne Packung Müsli und ne Flasche okzitanischen Bio-Wein, dann trampte sie los.

Klappte auch alles ganz locker, nur das letzte Stück ging sie zu Fuß durch den Wald. Da kam ein total ausgeflippter Typ angelatscht, ganz schön beknackt, sag ich dir, Wolfgang hieß der oder so, is ja auch egal. Der Typ hing so rum, laberte was von nem Blumenstrauß und nem Jäger und wo denn die Großmutter wohnen würde.

Die Frau war zentral genervt und kriegte wahnsinnige Aggressionen: »Also, ich find das unheimlich Scheiße oder so. Das ist ja wohl die Härte, wie du mich hier so repressiv anmachst, Alter, da läuft echt Null!« Der abgefuckte Freak brauchte ne Weile, bis er das geschnallt hatte. Der war irgendwo total geschockt. Dann verpisste er sich, war wohl en echter Hammer für den, der hing völlig durch für en paar Wochen, war aber bestimmt en wichtiger Lernprozeß oder so.

Und die Frau, die hat sich voll eingebracht in die Land-WG, die waren alle unheimlich lieb und spontan. Hab ich alles von dem Wilhelm gehört, das ist der Bruder von dem Jacob. Die beiden Typen erzählen vielleicht heiße Stories. Echt irre, ehrlich!

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