Rotz am Backen, Scheiß am Been - ach wie ist das Läähm scheen

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Wir merkten schon, als wir auf den Hof einrückten, dass irgendetwas anders als sonst war. Aus dem Haus und vor allen Dingen aus dem Kuhstall drangen laute, aufgeregte und heftige Stimmen. Wir gingen näher heran und sahen, dass Tante Friedel und Tante Erika heftig in Fehde lagen. Sie waren beide sehr aufgeregt und brüllten sich ohne Rücksicht an. Friedel stand, gemeinsam mit Tascha, oben auf dem Heuwagen, welcher halb außerhalb des Tores und halb im Kuhstall stand. Sie hatte eine Mistgabel in der Hand und war glühend rot im Gesicht. Ihr Kopftuch, welches sie trug, war verrutscht und ihre struppigen Haare hingen wirr hervor. Wir hörten nur: „Alles muss ich hier allein machen, Heu aufladen, Heu abladen, Tiere füttern, ausmisten, melken und so weiter und so fort – das ist eine unheimliche Schinderei. Und was tust du? Du hängst ständig in deinem Zimmer rum und kümmerst dich um deine Tochter Elisabeth. Das ist alles. Wir haben hier aber ein Bauerngut und müssen uns alle davon ernähren.“

Erika konterte: „Die Gretel arbeitet aber auch nicht mit auf dem Feld oder im Stall.“

„Die Gretel arbeitet in der Gemeinde, gibt davon Geld an uns alle ab und außerdem haben wir große Vorteile, dass sie in der Gemeinde ist, da wir so über alles Bescheid wissen. Ich meine damit, dass sie uns Wissen vermittelt, was günstig anzubauen ist, wie die Preise für Hähnchen, Eier und so weiter sind – all das ist von Vorteil für uns. Außerdem kümmert sie sich um unsere Kinder. Sie würde das auch für die Elisabeth tun.“ Der Streit ging immer weiter so in diese Richtung, er wurde sogar noch heftiger. Wir gingen zu Oma hinein, die das schon mitbekommen hatte und gerade zu den Streitenden gehen wollte.

„Erika, Friedel – hört sofort mit dem Gebrüll auf. Im Übrigen, du kennst meine Meinung, Erika, du solltest ganz einfach einmal mitarbeiten, so wie es alle tun und wirst sehen, dass es eine ziemlich harte Arbeit ist, es muss aber sein.“

Erika zitterte am ganzen Leibe und schrie zurück: „Ich hab genug mit meiner Familie zu tun. Ich weiß überhaupt nicht, was ihr wollt. Hoffentlich kommt der Heinel bald nach Hause, ich werde mich bei ihm über euch beschweren. Ihr benehmt euch unmöglich zu mir und meinem Kind.“ Sie war über alle Maßen beleidigt und rannte mehr, als das sie ging, davon – in den ersten Stock zu ihrem Zimmer.

Oma ging zu meiner Tante, um sie zu beruhigen: „Friedchen, rege dich nicht so auf, wir wissen doch alle, dass du enorm viel für das Gut tust. Die Erika ist nun mal so. Sie hat zu uns kaum Kontakt, sie ist überhaupt kein Kollektivmensch und macht ihr Ding so für sich allein, etwas verknöchert, immer schnell beleidigt und immer etwas einsam. Die werden wir nicht mehr ändern – ich möchte mal wissen, wie der Heinrich zu ihr gekommen ist. Wahrscheinlich ist es doch so, dass er sie nur geheiratet hat, weil sie schwanger war. So etwas Ähnliches hat ihre Mutter, die Marie, schon angedeutet. Die Marie lässt sich ja auch kaum noch sehen, gestern Abend war sie wieder nicht beim Abendbrot. Wahrscheinlich machen sie sich oben in ihrem Zimmerchen etwas zurecht – sonderbares Benehmen. Man kann sich da nur wundern.“

Tascha schaute mit schreckgeweiteten Augen auf das Krakeele und hatte offensichtlich große Angst. „Ach, kleine Natascha, schau nur nicht so traurig. Wir sind doch alle nett zu dir, bald gibt es Abendbrot, da sehen wir uns wieder in der Stube.“ Sie ging zu Natascha hin, die mit der Gabel in der Hand immer noch auf dem Heuwagen stand und flüsterte freundlich zu ihr: „Komm her, du kleines Mädchen, beuge dich mal herunter zu mir.“

Natascha hatte unter Garantie null verstanden, aber erstaunlicherweise beugte sie sich zu Oma runter, die sie an der Hand tätschelte und die Wange streichelte: „Hab nur keine Angst, Kleine, es ist doch alles gut. Wir haben dich doch auch lieb.“

Ich fand den immer wieder aufkommenden Streit mit Tante Erika nervend und aufregend – er vergiftete unser nettes Miteinander. Innerlich war ich ganz stark auf Friedels und Omas Seite, denn zur Tante Erika hatte ich keinen Kontakt und sie schien darauf auch keinen Wert zu legen. Ich wusste, dass Lothar die gleiche Meinung hatte: „Klaus, die Erika kann mir gestohlen bleiben, die ist einfach gegen mich, zieht immer ein langgezogenes Miesepeter-Gesicht. Da bekommt man richtig Schiss vor ihrer schlechten Laune.“

Nach dem Abendessen sagte Mutti zu Oma: „Du, Mutti, ich habe etwas mit dir zu besprechen. Können wir das gleich hier in der Stube tun? Mir wäre lieb, wenn der Klaus gleich dabei sein könnte, da ich ihm, im Anschluss, noch etwas zu sagen habe.“

Als ich das hörte, war mir sofort klar, dass ich wieder eine Reformande verpasst bekomme. „Mutti, können wir das nicht morgen erledigen?“

„Nein, gleich im Anschluss!“

Unsere Stube bestand aus zwei sehr großen Räumen. In dem einen aßen wir und der andere war mehr als gemütliche Wohnstube mit weichen Lehnsesseln, weichem Sofa und niedrigem Tisch eingerichtet. Von der Essstube ging man durch einen breiten Durchgang in eben diesen Teil. Hier fand die Geheimberatung statt. Ich kannte das schon, weil Mama, wenn sie mal ein ernstes Problem mit mir hatte, und das war relativ häufig, mich immer in die gleiche Ecke mitschleppte, um mit mir zu reden und zwar so, dass es niemand mitbekam.

Nachdem das Abendbrot vorbei und alle hinausgegangen waren, fragte sie: „Denkst du, dass wir es verantworten können, dass der Johann mit dem Wittasch, Erhart in unsere zerbombte Wohnung in Chemnitz fährt, um dort noch Verwertbares zu holen?“

„Was, meinst du den Wittsch – den Mörder? Das meinst du aber nicht im Ernst? Der hat doch einen so schlechten Ruf im Dorf. Am Ende passiert noch irgendetwas.“

„Aber Oma, der Wittasch ist ein ganz passabler Mensch. Das, was man über ihn spricht, glaube ich einfach nicht. Für mich ist er kein Mörder. Die Verhandlungen waren und er wurde freigesprochen – Punkt um!“

„Muss es denn gerade däääär sein – wer weiß, was die Leute über uns dann reden.“

„Oma – es ist weit und breit der einzige, der ein Auto hat. Er hat doch den ‚F7‘ mit der Holzkarosse. Auf alle Fälle hat der einen großen Laderaum und der Mann ist auch durchaus beweglich und intelligent. Für mich ist das größere Problem, dass der Johann als Kriegsgefangener unser Gut nicht verlassen darf. Du musst dir aber mal überlegen – wir haben fast alles verloren. Nachdem, was ich gesehen habe, ist das Bad vollkommen zerstört, die Schlafstube auch, aber aus Vorsaal, Küche und Stube könnten wir noch etwas holen. Der Herbert und ich – wir haben ja fast gar nichts mehr, außer dem, was wir auf dem Leibe tragen. Ich bin einfach der Meinung, wir müssen es riskieren.“

„Meine liebe gute Gretel“, Oma hatte Tränen in den Augen und drückte ihre Große liebevoll, „ich stimme ja zu, auch wenn das Risiko hoch ist und es schwerfällt, zuzustimmen. Auf alle Fälle musst du dem Wittsch …“

„Sag doch nicht immer Wittsch, Oma – das macht mich noch ganz krank.“

„Auf alle Fälle musst du dem, na du weißt schon, eine Vollmacht mitgeben, dass er berechtigt ist, in der Grenadierstraße 6 in Chemnitz im ersten Stock nach verwertbaren Dingen zu suchen und deine eidesstattliche Erklärung, dass du der Wohnungsmieter bist und zur Sicherheit noch, dass du im Gemeindeamt Kleinwaltersdorf arbeitest. Das gibt dem Ganzen noch einen amtlichen Anstrich. Ach – noch etwas fällt mir ein. Du musst dem Wittsch …“

„Oma!“

„… sagen, und dem Johann übrigens auch, dass der Johann nicht reden sondern nur etwas zeigen, darf. Sonst merken die, dass er ein Ausländer und etwas faul ist.“

„Ja, Mutti, so machen wir das. Es ist alles schon sehr kompliziert und schwer – hoffentlich kommt mein Herbertl bald von der Front zurück oder der elendige Krieg ist bald vorbei.“

„Bravo, meine Große, so habe ich dich doch noch nie reden gehört, der Krieg ist eine Schande für unser gesamtes Land.“

„Pst, lass das nur nicht unsere Volksgenossen hören. Ich habe da manchmal richtig Angst bei dir, Oma.“

„Na ja, Gretel, ich bin ja auch nicht im Bund deutscher Mädchen gewesen, wie du. Ich kann ja mal meine Meinung frei und offen sagen.“

„Oma, du wirst dich nie ändern.“

Nachdem dies nun abgearbeitet war, kam ich an die Reihe. Mir war schon ganz schön mulmig zu Mute. Zunächst einmal kam der Vorfall mit der am Leiterwagen eingespannten Ziege und dem kleinen Unfall an die Reihe: „Lothar und du, ihr habt überhaupt kein Recht, eigenmächtig so etwas zu tun. Ihr könnt nicht einfach die Ziege einspannen und damit losgehen. Da braucht es etwas Erfahrung und das richtige Geschirr – das wird euch der Johann schon noch zeigen. Außerdem dürft ihr nicht einfach mit dem Handwagen ins Dorf fahren. Das ist viel zu gefährlich. Also nochmals Klaus, wenn ihr das Gut verlassen wollt, müsst ihr mich oder Oma oder Friedel fragen. Anders geht das ganz einfach nicht. Hast du das nun endlich verstanden und wirst du dich danach richten?“

„Ja, Mama, das werde ich.“ Es war überstanden. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass sie, wenn ich immer gegenhielt, superzornig wurde und ich nur das Gegenteil erreichte.

Am nächsten Tag kam der Wittsch mit seinem F7 in den Hof gerollt. Am Abend zuvor hatte Mutti, nach der Reformande an mich, zusammen mit Oma, ein Sechsaugengespräch mit Johann geführt und dieser hatte zugestimmt, zusammen mit dem „Mörder“ nach Chemnitz zu fahren.

Der Herr Wittasch stieg aus dem Auto aus – er war relativ klein, stark übergewichtig mit ziemlich dickem Bauch, welcher durch ein Sakko eingehüllt wurde. Neugierig schaute ich hin und überlegte mir: „Das Sakko ließe sich niemals über diesem dicken Bauch schließen, der Knopf hätte keine Chance in das Knopfloch zu gelangen.“ Auf seinem fast kahlen Schädel war nur ein Haarkranz sichtbar, seine Schiebermütze war verrutscht und saß auf Pfiff auf einer Seite. Mutti war sofort da und rief: „Sagt bitte sofort dem Johann Bescheid – das Auto ist da.“ Nach kurzer Zeit kam auch Johann und wurde dem Autofahrer vorgestellt. Als Johann die etwas verschobene Figur des Herrn Wittasch mit Gehstock sah, schien es mir, als wenn er schmunzeln würde, sein schwarzes Menjoubärtchen zuckte belustigt. Danach wurden ein großer, offener Pappkarton und drei Holzkisten (die schönen Plastikkästen von heute gab es ja damals noch nicht) in den hinteren Teil des Autos hineingelegt. Mutti übergab Herrn Wittasch noch einen Umschlag mit Schreiben – Johann holte sich schnell noch eine Jacke und ab ging die Post durch unser großes Tor. Wir alle winkten freundlich hinterher, vor allem Tante Friedel gestikulierte sehr begeistert. Mehrfach hatte sie schon zu ihrer Schwester Gretel gesagt: „Ach, weißt du, der Johann ist ein richtig hübscher Mann, der könnte mir sehr gefallen. Ich mag solche dunklen Typen mit schwarzen Haaren, er ist einfach ein schöner Mann.“

 

„Sicher hast du Recht, Friedchen, ich sehe es genauso – du solltest aber zurückhaltend sein. Dein Herbert wird schon bald wieder hier sein. Nicht, dass du auf dumme Gedanken kommst. Schließlich ist der Johann uns hier als Gefangener zugeteilt.“

„Aber Gretel, du machst mir richtig Angst, du siehst ganz blass um die Nase aus und außerdem bist du ja so dünn – das ist mir bisher nie aufgefallen.“

„Mach dir keine Sorgen, Friedel, ich bin nur etwas unruhig, weil der Johann mit nach Chemnitz gefahren ist und doch eigentlich unser Gut nicht verlassen darf. Außerdem ist der Wittasch wirklich ein komischer Kerl, hoffentlich passiert da nichts.“

„Komm Gretel, wir gehen ins Haus, setzen uns an den Kamin und schwatzen ein wenig – das ist doch immer gemütlich.“

Am späten Abend kam das Auto von Chemnitz zurück. Johann stieg als Erster aus – wirkte ruhig wie immer, aber Mutti, die schon lange auf dem Hof wartete, spürte irgendetwas. „Johann, schön, dass ihr gesund wieder angekommen seid. War alles in Ordnung? Habt ihr in dem Dreck und Durcheinander etwas gefunden und mitgebracht?“

„Oui, ja, ja – ier schauen.“ Johann zeigte auf all die Dinge, die sie mitgebracht hatten: eine Decke (es war ein Federbett), noch eine Decke (es war aber nur ein Kopfkissen), viel Bettwäsche, einen großen Packen gefalteter Hemden und Pullover, Handtücher, Taschentücher, Wischtücher, Kaffeekannen und viele Bilder von Spitzweg. Das wichtigste für meine Mutti war aber das Rosenthaler Porzellan – das Speiseservice mit vielen tiefen und flachen Tellern, Vorlegetellern, Soßiere, Suppenterrine und vor allem das komplette Kaffeeservice mit kleinen und großen Zuckerbehältern, Kuchentellern. Als sie das sah, strahlte sie und nahm eine Tasse. „Ach, Johann schau mal das wunderbare dünne Porzellan“, ging auf Johann zu und gab ihm einen Schmatz auf die Wange. Dieser war erstaunt, nahm den Kuss aber freudig entgegen, er lächelte. Oma, die dies sah, schmunzelte und sagte zu Mama: „Na Gretel, lass das nur nicht den NSDAP-Ortsvorsteher sehen.“

Aufgeregt quakte ich dazwischen: „Johann, du solltest mir doch meinen braunen Teddybär, den Brummi und die Puppe ‚Freche Liese‘ mitbringen.“ „Klous (so richtig Klaus auszusprechen, gelang ihm selten), haben wir nicht gesucht, non, non, isch meine, nicht funden. Aber hier – sieh – ein Auto und Kugeln.“ Er übergab mir meinen Holzlaster und ein paar Murmeln. Das war natürlich nicht gerade viel, aber besser als gar nichts. Ich nahm es zufrieden entgegen und drückte Johann dankbar die Hand.

Mama ging zur Haustür und rief hinein: „Oma, bring mal bitte den Nicolaj und den Marcel mit. Die sollen mal alles ins Haus hineintragen.“

Während all dieser Gespräche hatte sich nun natürlich auch Herr Wittasch aus dem Auto geschält. Er sah etwas mitgenommen und äußerst unzufrieden aus. Das traf übrigens auch auf Johann zu, welcher erschöpft und abgespannt wirkte. Wittasch ging sofort auf Mutti zu und speckerte äußerst unzufrieden los: „Frau Eulenberger, da lief wieder mal einiges schief. Als wir ankamen, haben wir uns sofort bei der Familie Goldmann gemeldet, welche ins Nachbarhaus zu Bekannten gezogen ist. Sie wussten auch Bescheid und haben sich sehr interessiert, wie es Ihnen geht. Dann haben wir begonnen zu suchen. Es war aber äußerst risikovoll, weil wir immer dachten, dass noch ein Teil der Decke einstürzt. Plötzlich rief ein alter Mann von unten mit Donnerstimme: ‚Was tun Sie denn hier? Das ist verboten. Kommen Sie sofort herunter – auf der Stelle!‘

Der Mann stellte sich als Herr Lehmann vor und war für diesen Distrikt der Luftschutzobmann und verantwortlich für zivile Verteidigung, wie er uns sagte. Zudem sagte er uns noch, dass er uns anzeigen müsste, da wir eine illegale Räumung durchführen würden. Dazu bräuchte es eine Genehmigung vom Zivilschutz. Bei diesem hätten wir die Entsorgung von persönlichen Dingen beantragen müssen. Mit ernsten Worten sagte er, es gehe um Deutschland und da müsse sich jeder ganz diszipliniert verhalten – sein NSDAP-Abzeichen auf dem Revers blitzte in der Sonne. Ich bekam richtig Angst, dass er uns anzeigt und redete mit Engelszungen, dass wir das alles einsehen würden und in Zukunft passiert das nie wieder. Er ließ sich kaum erweichen und wir bekamen richtiggehende Furcht. Ich schaute zu Johann – der schaute recht bedrückt und schüttelte den Kopf. Plötzlich sagte er: ‚Bitte, Verständnis – Familie kein Haus mehr.‘ Na, da war vielleicht etwas los. Der Alte kreischte: ‚Ist hier etwa ein Ausländer dabei, vielleicht noch ein Feind Deutschlands? Das muss ich jetzt auf der Stelle anzeigen.‘ Unsere Sorgen stiegen ins Unermessliche, Johann begriff, dass er für diese negative Entwicklung verantwortlich war und wurde immer blasser. Plötzlich sagte er: ‚Kein Ausländer, isch will nur elfen.‘ Mir war wie Hefe in der Magengegend – ich öffnete mein Portmonee, holte fünf Reichsmark heraus, gab sie dem Luftschutzobmann in die Hand mit der Bemerkung: ‚Mein Kollege hilft mir hier nur. Wir sollten jetzt aber weiterarbeiten, Herr Lehmann. Haben Sie doch Verständnis für uns – alles Gute für Sie und wollen wir hoffen, dass nie wieder eine Bombe auf unser schönes Deutschland fällt.‘“

Mutti hatte aufgeregt mit gefalteten Händen dem ellenlangen Vortrag des „Mörders“ zugehört. Immer dann, wenn ich eine Frage zwischendrin loswerden wollte, zischte sie mich an: „Ruhe, Klaus, jetzt nicht!“ Ich traute mich gar nicht mehr zu atmen, ging zu Johann und hielt seine Hand.

„Herr Wittasch, das haben sie wunderbar gemacht. Ich bin ihnen ja so dankbar und muss sie für diese tolle Leistung einmal drücken“, was sie auch wirklich tat. Der „Mörder“ strahlte vor Freude, riss seine Schiebermütze von seinem Schädel und sagte strahlend: „Man tut halt, was man kann, gel Johann?“ Mutti fiel jetzt auf, dass sie Johann überhaupt nicht in ihre Dankesrede eingeschlossen hatte, also ging sie zu ihm hin, drückte ihn ebenfalls (einen Schmatz hatte sie ihm ja schon gegeben) und sagte mit ziemlich zittriger Stimme: „Johann, vielen, vielen Dank. Du bist ein ganz Lieber.“

Nun griff sie in ihre Geldbörse und suchte lange darin. Mir war klar, dass sie nicht mit den fünf Reichsmark an den Luftschutzmenschen gerechnet hatte und demzufolge überlegte. Dann gab sie sich plötzlich einen Ruck, griff hinein und gab dem „Mörder“ fünfzehn Reichsmark, die dieser dankend entgegennahm. Parallel zu diesem gesamten Geschehen, hatten Marcel und Nikolai alles ins Haus geschafft und Oma rief: „Gretel, ich hab alles in die Stube legen lassen, du kannst dann selbst aufräumen.“

Friedenszeit

Abends, als alle gegessen hatten, erzählte Mama davon, wie glücklich sie mit ihrem Herbert in der Grenadierstraße gewesen sei. Ich quakte wieder einmal dazwischen: „Aber, Mama, ich war schließlich auch noch da.“

„Ja, sicher, allerdings erst in den letzten Jahren – zuvor lagst du noch als Käse im Schaufenster.“

„Das nehme ich dir wirklich übel, Mama.“

Sie erzählte jetzt über ihre schöne Zeit in Chemnitz. Vor allem Johann hörte aufmerksam zu. Er verstand relativ viel, während Marcel, Tascha und Nikolai sich verständlicherweise zurückzogen.

„Ach, Johann, war das doch eine wunderschöne, herrliche Zeit mit meinem Herbertl in Chemnitz.“

„Wer sein Herbertl?“, fragte der aufmerksam zuhörende Johann.

„Entschuldige, das ist der Herbert, von dem ich dir auch schon erzählt habe. Das ist eine Verniedlichung, die wir vielfach in Deutschland anwenden.“

„Verwirklichung – was sein das?“

„Das heißt nicht Verwirklichung, sondern Verniedlichung.“ Als Johann immer noch fragend schaute, fasste sie mit der rechten Hand ihre linke und wiegte sie vor der Brust hin und her. „Wir machen das Ganze niedlich, wie bei einem kleinen, süßen Baby. Ein Beispiel – zu dem kleinen Steppke Klaus sagen wir zum Beispiel (und wieder machte sie die Bewegung, als wenn sie ein kleines Baby in den Armen wiegen würde) Kläuschen, so wie kleiner Klaus.“ Johann schmunzelte, er hatte verstanden und sagte: „Ich bin Johannchen, Oui?“

„Ja, richtig!“, strahlte meine Mama und stimmte zu. Auch Friedchen freute sich sehr, sie war immer froh, wenn Johann gute Laune hatte. Sie schaute ihn häufig an und falls er einmal etwas erzählte, hing sie an seinen Lippen. Mit einem Wort – sie mochte ihn ganz besonders.

„Wir hatten großes Glück, dass wir so schnell die schöne Wohnung im ersten Stock der Grenadierstraße acht in Chemnitz bekamen. Herbert arbeitete als Reisender für Kaffeegewürze bei der Firma O & Weber in Leipzig. Er war hier sehr beliebt, vor allem, weil er mit viel Geschick agierte und den Umsatz der Firma beträchtlich erhöhen konnte. Dadurch vermittelte diese Firma ihrem Außendienstmitarbeiter, das heißt uns, diese schöne Wohnung. Später wechselte Herbert zur Firma C. H. KNORR A. G., wo nun Knorr-Suppen und Knorr-Würfel in seinem Programm standen.“ Unter Garantie wusste Johann nichts anzufangen mit Knorrwürfeln, er nickte aber eifrig, denn das mit der Wohnung hatte er schon verstanden. Schließlich war er ja dort gewesen.

Mutti erzählte freudig, dass Vater seine Verkaufsgeschäfte oft so rasch erledigt hatte, dass er Freitag bereits elf Uhr bei seiner hübschen, jungen Frau sein konnte (um sich um die Liebe und damit mein Werden kümmern zu können). Das Grundstück ihres neuen Hauses grenzte an das Wikingbad Bernsdorf. Es gab eine Abmachung mit dem Bademeister, dass sie als Besitzer einer Dauerkarte, je nach Belieben, durch den Zaun bei zwei extra lose befestigten Zaunlatten hinein- und wieder herausschlüpfen konnten. Wie wunderschön für das frisch gebackene Ehepaar. Johann strahlte: „Wasser von Bad, ich gesehen – schön.“ Plötzlich rief Oma im Kommandoton, wie immer, aus der Küche: „Friedel, Gretel – kommt bitte gleich zum Aufwaschen. Es ist unheimlich viel zu tun.“

Später erzählten mir meine Eltern, wie sehr sie sich darauf gefreut haben, Nachwuchs zu bekommen. Über Jahre hinweg hatten sie nur ein Ziel und dieses Ziel hieß: „Wir möchten nun endlich ein hübsches Baby haben“, aber es wollte sich nicht einstellen. Als sie mir von diesen Bemühungen erzählten (ich war schon erwachsen), sagte ich sarkastisch: „Wenn ich mir das so in Ruhe überlege, eigentlich war das eine schwache Leistung von euch. Es wurde ja dann auch wirklich Zeit – vor allem, wenn man bedenkt, dass du, Vater, immer Freitag elf Uhr schon zu Hause warst.“

„Du bist ganz schön frech, Großer, wo du doch überhaupt keine Ahnung von dieser Materie hast“, konterte mein alter Herr.

„Erlaube mal, viereinhalb Jahre, und das in der Friedenszeit.“

„Du glaubst gar nicht, mein lieber Klaus, wie traurig wir waren, als es wieder und wieder keinen Erfolg gab. Dabei hatten Gretel und ich uns doch so sehr lieb und waren sehr inniglich miteinander verbunden. Was lange währt, wird endlich gut. Du siehst doch, was für ein feines Kerlchen du geworden bist“, sagte er, nicht ohne einen gewissen Stolz.

Meine Eltern Margarete (genannt Gretel) und Herbert waren äußerst glücklich über ihr Baby, welches von Mutti zärtlich Klausmann genannt und nun natürlich unwahrscheinlich verwöhnt und verhätschelt wurde. Dies hatte zur logischen Folge, dass Mama von Tag zu Tag dünner wurde, für Herbert keinen Blick (nicht mal einen kleinen flüchtigen – sie hatte viel wichtigere Aufgaben, als sich um den Ehemann zu kümmern) übrig hatte, sondern nur noch für das Baby da war. Gab der kleine Klausmann nur mal einen Seufzer von sich, von Schreien und Brüllen gar nicht zu reden, war Mama sofort da, nahm ihn hoch an ihre Brust, roch, wickelte aus, schaute nach, ob nicht etwas Schlimmes mit dem wunderbaren Baby im Anflug wäre. Herbertl war schockiert – er glaubte schon, sein Liebling Gretel hätte ihn nicht mehr lieb. Große Sorgen bereitete ihm offensichtlich auch die Tatsache, dass seine verehrte Gretel gar nicht mehr die Formen in der Größe aufwies, die er gewohnt war und doch so sehr schätzte.

 

Hinzu kam noch ein Problem, welches sich ab dem Zeitpunkt, als das Baby (also ich) da war, für meinen Papa entscheidend verschärfte – er erzählte es mir, als ich schon lange erwachsen war: „Weißt du, Klaus, es war für mich schon ein Rätsel. Früher, als du noch nicht auf der Welt warst, kam meine liebe Gretel immer so spät ins Bett. Es ist nun mal nicht schön und du kannst das ganz sicher auch nachvollziehen, bist ja nun übrigens auch in dem entsprechenden Alter, wenn du mit Sehnsucht auf deine Geliebte wartest und sie kommt nicht. Ich habe dann Zeitung gelesen, mir einen dicken Wälzer als Buch zugelegt – das machte mich aber auch nicht ruhiger. Es ist sicherlich das normalste der Welt“, wetterte er im Nachhinein, „dass man nun mal auf seinen Liebling wartet mit der Maßgabe, dass endlich auch mal was losgeht. Sonst vergehen einem ja sämtliche Gefühle und man bekommt schlechte Laune und die bekam ich. Jetzt kam meine liebe Gattin“, sagte er recht förmlich, „überhaupt nicht mehr ins Bett. Sie hatte immer mit dir zu tun, nur mit dir – das dauerte Stunden. Kam sie dann erst Mitternacht oder gar ein Uhr nachts ins Bett, war sie so todmüde, dass sie schon schlief, obwohl sie noch nicht einmal beide Beine ins Bett gezogen hatte. Fünf Stunden Schlaf genügten ihr, fünf Uhr war sie wieder fit. Dabei hatte sie nachts noch zweimal in das Kinderbett geschaut.“

Im Mai 1939 wurde Klausmann geboren, aber bereits im September desselben Jahres wurde Vater zur Wehrmacht eingezogen. Wie schon durch meinen Papa mit starken Bedenken festgestellt, verschwanden ihre feinen, rundlichen Formen. Sie wurde immer dünner – dafür wurde das Baby Klaus aber immer dicker. Sie fütterte mich kugelrund und die Bilder zeigten ein dermaßen kreisrundes Gesicht meiner kindlichen Person, dass man auf die Nase eine Zirkelspitze hätte setzen und die Konturen mit Blei nachziehen können. Kein Wunder, denn nach der Muttermilch bekam der verwöhnte Fratz über Jahre hinweg seinen geliebten Grießbrei in einer feinen Babypully verabreicht.

Für mich als Baby war dies eine unheimlich glückliche Zeit. Ich konnte fast alles tun, was mir als Kleinstkind in den Kopf kam und ich realisieren konnte. Es ist ja bekannt, dass Babys noch nicht allzu viel bewerkstelligen können. Wenn ich schrie, kümmerte sich meine Mama sofort um mich – wiegte mich in den Armen, wickelte mich zur Not aus oder gab mir zu essen mit dem schon beschriebenen Ergebnis, dass sich wie ein Vollmond zu Pferde aussah.

Wenn sie mit mir ausging (mit unserem damals üblichen Korbwagen) bekam ich einen Nuckel in den Mund. Nach kurzer Zeit hatte ich ausgekundschaftet, dass man dieses kleine Lutschgerät ausspucken konnte. Später merkte ich, dass man es mittels gekonnter Spucktechnik sogar sehr weit weg schleudern konnte. Mama sagte häufig: „Hier, Klausmann, hast du dein Nuckel, das beruhigt dich und du hast was zu tun.“ Da ich es nicht exakt aussprechen konnte, deutete Mutti mein Gestammel als Nuna. Ich spuckte selbigen weit aus dem Wagen. Da dies aber nicht immer glückte, fasste ich ihn an und warf ihn aus dem Wagen, was mir, je nach Umstand, gut oder weniger gut gelang.

Mama sagte warmherzig und fast begeistert über diese kühne, tolle Handlung ihres Sprösslings: „Das sollst du doch nicht tun, du kleiner Mann.“

Klausmann machte die Sache aber höllischen Spaß und er spuckte begeistert, warf hinaus und wartete, was nun passieren würde. Mama hatte in weißer Voraussicht ein kleines Täschchen mit feuchtem Waschlappen dabei, wischte und säuberte für Klausmann, damit ja keine unrechten Bazillen an ihm Unheil ausrichten konnten.

Plötzlich brach aber doch ein Unglück herein und zwar in Gestalt des Soldaten Papa Eulenberger, der Heimaturlaub erhielt. Wir gingen nicht, wie üblich, zu zweit spazieren, sondern zu dritt, wobei ich eben gefahren wurde. Mein Vater marschierte stolz in seiner deutschen Wehrmachtsuniform neben meiner Mutter her, war sehr glücklich und wohlgelaunt. Ich fing an, meine Schnerzchen auszuführen. Ich spuckte aus, warf hinaus und wartete. Mama verhielt sich ganz normal, aber Papa keineswegs. Er sagte scharf: „Gretel, du kannst doch nicht ständig – nein, das ist ja unmöglich. So geht das nicht!“

Nach nochmaligen Spuckaktionen bekam er Zorn und schrie mich, den kleinen, zarten Klausmann, an. Dies war neu und irritierte mich sehr. Er fauchte: „Wehe, du wirfst noch einmal den Nuckel hinaus, dann kracht’s!“


Ich erschrak mächtig und hielt die Nuna aus dem Wagen, öffnete aber die Hand nicht, da ich Bedenken hatte, dass er wieder so ranzig wird.

Die zwei unterhielten sich und meine Mutter sagte: „Schön, Herbertl, dass du da bist, hoffentlich habt ihr bald den Krieg gewonnen – ich vermisse dich so sehr, Liebling.“ Dieses Gerede war mir sehr zuwider, keiner kümmerte sich um mich. Ich öffnete die Hand und die Nuna fiel aus dem Wagen. Es passierte etwas noch nie Dagewesenes. Mein Vater kreischte vor Wut, schlug mir auf die Händchen, dass es brannte und schrie: „Das sollst du nicht machen, nie wieder! Du tust das deiner Mutter zur Schur, du verwöhnter Fratz, so nicht!“

Er schlug und ich winselte vor Schmerz und Verzweiflung. Meine Mutter regte sich auch fürchterlich auf, aber ihre Aufregung ging in eine andere Richtung. Sie bedeutete meinem Vater, nicht solchen Stunk zu machen. Das brachte ihn vollends auf die Palme. Er sah feuerrot aus, schrie etwas von „verziehen“ und „später wirst du schon sehen, was du für eine Pflanze gezüchtet hast – das wird ein Chaos!“

Mama schrie zurück: „Gott sei Dank ist der Junge gut erzogen!“

Dann schwiegen beide – lange, eine sehr lange Zeit. Es war regelrecht sonderbar und sehr, sehr langweilig für mich. Um die Stimmung anzuregen, hielt ich nach dieser Ewigkeit ohne Gespräch der zwei, die Zeit für gekommen, etwas zu unternehmen. Kurzum – ich hielt die Nuna erneut aus dem Wagen. Plötzlich sah er das: „Trau dich nicht, wirf das nicht hinaus, ich sage es dir, dann passiert etwas ganz Schlimmes, du verzogener Bengel!“

Ich traute mich nicht, ich traute mich lange nicht.

Nach vielleicht fünf Minuten Langeweile und widersinnigen Gedanken in mir, tat ich es doch. Das Ergebnis war schlimmer als bereits geschildert – ich weinte nicht nur, es war ein Weinkrampf. Die beiden stritten sich noch mehr und es ging in wahnsinnig schlechter Stimmung nach Hause.

Wenn ich daran denke, was die Leute, die uns begegneten, wohl für einen Eindruck von unserer Fuhre gewinnen mussten – auweia – sich stark streitende Eltern (diese Lautstärke, wie peinlich), welche einen Korbwagen fuhren, worin ein liebes, aber unverstandenes, stark schreiendes Baby lag, welches das Anschreien seiner Person verdauen musste. Ich schämte mich für meine streitenden und lärmenden Eltern.

Ich verstand die Welt nicht mehr – ich wollte doch auch nur etwas tun und zwar etwas, was Laune macht. Aber irgendwann war der Urlaub des Soldaten vorbei und es herrschten wieder normale, stimmungsvolle Verhältnisse.

Dies, wie auch das folgende, erzählten meine Eltern viel später.

Mama fütterte mich gut und reichlich mit der ach so gesunden Muttermilch. Sie mühte sich mit Erfolg, dies, so lange wie möglich durchzuhalten, was ihr auch gelang. So zulpte ich also erst an der Brust, später an der Flasche mit dem herrlichen Grießbrei. Durch dieses Verhätscheln war ich schon damals nuckel-, saug-, lutsch- und zulpabhängig und fast so hörig wie Menschen heutzutage gegenüber Ecstasy.