Rotz am Backen, Scheiß am Been - ach wie ist das Läähm scheen

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Vielleicht fünf Häuser weiter von unserer Wohnung entfernt betrieben Bekannte meiner Eltern, ich nannte sie Tante Olga und Onkel Kurt, einen Kolonialwarenladen. Da ich nun schon fast drei Jahre alt war, bekam ich auch mal Süßes zum Lutschen, einfach wunderbar. Der Kolonialwarenladen war für mich ein Paradies – Bonbons (meine Eltern nannten sie Moler, dies war in Dresden gebräuchlich), Mehl, Zucker, Brot, Kameruner (Erdnüsse, Erinnerung an die Kolonialzeit), Brausepulver (herrlich – einfach in die schmutzige Hand schütten und lecken, der Speichel bildet mit diesen Pulver einen herrlichen Sud, traumhaft) und vieles mehr. Besonders berückte mich ein Glasbehälter, welcher auf einem Schränkchen, gleich neben der Eingangstür links, stand. In ihm wurden – eine Welt für mich – nur Nuckel aufbewahrt, kleine, große, mit großem Gummianschlag, mit kleinem, mit rundem, mit eckigem; blau, gelb, grün; in vielen wunderbaren Farben. Für mich war das alles ein Wunder und dementsprechend staunte ich immer ganz besonders dieses „Nuckel-Paradies“ an. Schließlich war das ja meine Welt – Nuckel im Kinderwagen, Nuckel in meinem Bettchen zu Hause, Nuckel auf der Milchflasche – ach wie schön kann alles sein.

Einmal war Mama mit mir beim Arzt und der erzählte etwas von Nuckelflaschenkaries und wie schädlich das alles für die Zähne sei und für den Gaumen ohnehin. „Also, Frau Eulenberger, der Nuckel, noch dazu, wo sie ab und zu Zucker darauf geben, muss schnellstens weg, auf der Stelle.“


Wieder zu Hause, erzählte meine Mutter dies sofort brühwarm ihrer Hausfreundin Frau Goldmann. Sofort redete diese Person auch auf mich ein, einfach widerlich. Am nächsten Tag, als ich keinen Nuckel bekam, sagte ich zu Mama: „Ich Tante Olscha gehen – auf dem Schrank dort viele, viele Nuckel.“ Ich hatte gerade meinen Sonntagsausgehstaat an, da wir spazieren gehen wollten. Also marschierte ich schnurstracks los, ohne auf die Rufe von Mama und Frau Goldmann zu hören – es ging schließlich um viel.

Auf dem Weg dorthin überholte mich Frau Goldmann, Mutti schnaufte hinter mir. Ich ging so schnell, wie ich konnte, in den Laden, aber was sah ich, als ich gleich nach der Eingangstür auf den Platz oberhalb des kleinen Schränkchen schaute – der Glasbehälter stand nicht mehr an seinem Platz. „Keine Nuckel da“, entrang es sich meinem enttäuschten Gemüt mit einer unwahrscheinlich sanften, erstaunten Stimme, meine verwunderten Kinderaugen waren vor Überraschung weit aufgerissen.

„Wo sind denn all die Nuckel, Tante Olscha?“

„Die hat der Weihnachtsmann geholt.“

„Das stimmt nicht – er war nicht da – kommt erst zu Weihnachten“, protestierte ich kindlich zart.

So wird man betrogen und belogen und so ging meine herrliche Nuckel- und Nunazeit traurig zu Ende.

Hochinteressant und spannend wurde es allerdings, wenn Mutti, Tante Friedel und mein Vater zusammen waren und über alte Zeiten erzählten. Wenn dies geschah, dann lief das mit unheimlich viel Lachen, aber auch mit enormen Gegensätzen in den Ansichten und Darstellungen ab. Am Kämpferischsten gab sich immer Friedel, die, nach meiner Meinung, alles am Realistischsten darstellte, aber auch viel Freude daran hatte, alles kräftig und überhöht darzustellen. Ihr helles Lachen und Feixen in dieser Runde war so markant, dass alle, auch ich, von dieser Fröhlichkeit angesteckt wurden. In dieser kriegerischen und streitigen Runde wurde gejubelt, gewiehert, sich totgelacht, triumphiert, frohlockt, gekichert, gequiekt, gekreischt, gejammert und sich auch geärgert.

„Ach, Gretel, kannst du dich noch besinnen, was wir für hübsche Mädels waren und wie wir in Dresden die Männerwelt beeindruckt haben?“

„Natürlich, Friedel. Wenn ich daran denke, wie wir an der Elbe beim ‚Narrenhäusel‘ spazieren gingen. Ich hatte das chamoisfarbene Kleid an, den großen breiten Ledergürtel um und den Frühlingshut in lindgrün mit Blumen auf. Du sahst aber genauso schick aus in deinem weißen Kleid mit dem herrlichen himmelblauen Design aus Kornblumen und dann noch dein Hut, wo du immer eine Delle zu deiner Nase hin eindrücktest, mit den herrlichen Mohnblumen.“

„Ich glaube, davon haben wir noch einen herrliches Erinnerungsfoto. Genauso haben wir ein Foto, wo du mit deinem Schulze zu sehen bist. Herbert lief neben dir, schob sein Rennrad mit dem gebogenen Lenker. Er hatte eine Schiebermütze auf – das war günstig für ihn, denn so wurde seine Glatze verdeckt, er verfügte ja nur noch über einen bescheidenen Haarkranz – und hatte, wie immer, den dünnen, braunen Pullover an. Ich bilde mir fast ein, der hatte nur diesen einen, sowie seine üblichen braunen Knickerbockers an. Für mich wart ihr ein Traumpaar – der kleine mickrige Schulze und meine hoch elegante Schwester. Wenn man euch hätte bewerten sollen, wäre sicherlich herausgekommen: die Elegante und der Verschrobene“, ergänzte meine Mutti.

„Jetzt ist aber Schluss, Gretel, denk doch mal an deinen Affen, diesen feinen, pingeligen Fotografen, den ich nur herrlich gestylt mit Nadelstreifenanzug – ein Streifen, kein Streifen – inklusive Schlips, aber dämlichem Gesicht kennengelernt habe. Außerdem hatte der wirklich ein Gesicht wie ein Orang Utan, da geht kein Weg dran vorbei, meine Liebe“, konterte Friedel aggressiv.

„Na, ja, Friedel, es hat sich ja dann Gott sei Dank alles in Wohlgefallen aufgelöst und meine Gretel wurde vernünftig“, warf Vater ein. Friedel erregte sich erneut: „Das war ein ganzes Stück Arbeit, um meine Schwester wieder zur Vernunft zu bringen. Der Affe lud sie auch ständig zu irgendwelchen langweiligen Veranstaltungen ein oder zum Tee trinken. Wie konntest du denn nur Gefallen an dem Kerl finden? Äußere dich einmal dazu, mein liebes Schwesterherz.“

„Es war einfach so, dass mich seine vornehme Art stark beeindruckte – ich fühlte mich geehrt, sogar sehr. Wir gingen immer sehr vornehm aus, er war der vollendete Gentlemen.“

„Da kann ich kleener Kaufmann wohl nicht mithalten – du eingebildete Gretel?“, reagierte Vater beleidigt. Mama tat so, als wenn sie es nicht gehört hätte.

„Immer öffnete er vornehm die Tür, ging zuerst in das Restaurant, um die Blicke auf sich zu ziehen, rückte mir den Stuhl zurecht, gab mir einen Handkuss und war eben immer liebevoll um mich bemüht.“

„Liebevoll – da muss ich ja wirklich lachen. Hättest ihn auch gleich heiraten können, da wäre dann gleich Ruhe gewesen“, speckerte Vater, zutiefst gekränkt.

„Was mich mal interessiert, ihr zwei, wieso ist es denn überhaupt dazu gekommen?“, bohrte Friedchen. „Ich dachte immer, zwischen euch sei es die ganz große Liebe.“

„Du weißt doch, dass mir Herbert äußerst gut gefällt und ich ihn auch sehr gern habe, aber der Herbert war mir eben immer zu klein. Wenn ich meine hochhackigen dreizehn Zentimeter-Pumps anziehe, verschwindet ja das kleine Herbertl neben mir.“

„Das ich nicht lache“, erboste sich Vater.

„Ich hab dich doch ganz lieb, Herbert, das weißt du doch …“

„Dein Wort in Gottes Gehör, liebe Gretel, ich merke nur nicht viel von deiner ach so großen Liebe.“

„Es ist wirklich das Einzige, was mir an dir nicht ganz so gut gefällt. Überlege doch mal – wir sind beide, in etwa, gleich groß, nämlich ein Meter vierundsechzig. Wenn ich nun meine kleinen Hochhackigen mit nur acht Zentimetern anziehe, überrage ich dich um eben diesen Wert – von meinem Frühlingshut ganz zu schweigen. Mein guter Herbert, wenn du über einen Kopf größer wärest, das würde mir sehr gefallen.“

Herbert war distinguiert und dachte bei sich: „Mein Gott, Moritz und Frida, meine Eltern, ihr hättet mich auch etwas größer gestalten können. Nun habe ich den Salat, aber immer dein Gesaufe, Moritz, da blieben die Wachstumsgene im Alkohol kleben. Frida, und du bist ein kleiner, dicker Floh.“ Dann beruhigte er sich ein wenig. „Naja, eigentlich kannst du ja auch nichts dafür.“ Seiner angebeteten Gretel antwortete er: „Wenn ich einen Kopf größer wäre, und nichts in der Rübe, das würde dir auch nicht gefallen. Ich bin so wie ich bin – da musst du nun damit klarkommen. Und außerdem, sag nicht immer Herbertl zu mir, das klingt schon wie ‚mein zu klein geratener‘ Herbert. Ich weiß schon, was du wolltest. Ich sollte so sein, wie es der große, stattliche und blauäugige Führer forderte und wie es euch beim Bund Deutscher Mädchen eingehämmert wurde.“

„Streitet euch doch nicht, das bringt doch gar nichts. Ihr habt euch lieb und dabei soll es bleiben. Außerdem habe ich jetzt einmal ein Foto gesehen und zwar von euch beiden in den Elbwiesen, wo das Gelände etwas anstieg. Da stand Herbert etwas höher als du, Gretel, und da war das gegeben, was von dir gewünscht wird, lieber Herbert, so einfach ist das.“

Aus diesen geschilderten Querelen heraus, die meinen Vater sehr bedrückten, da seine Größe eben nicht dem Wunschbild seiner über alles geliebten Gretel entsprach, ließ sich mein Papa etwas einfallen. Wenn es nur irgend möglich war, hatte er einen zwölf bis fünfzehn Zentimeter hohen Hut auf seinem Kopf. So war gesichert, das die Oberkante der geliebten Gretel und seine Oberkante Hut zumindest eine Waagerechte bildeten.

„Wenn ich nicht gewesen wäre und etwas unternommen hätte, ich glaube, dann wäre es wirklich endgültig schief zwischen euch gegangen. Wie ist das denn überhaupt weitergegangen mit deinem ‚Affen‘, Gretel?“, blieb Tante Friedel bei diesem Thema.

„Das weißt du doch selbst. Wir zwei sind doch abends im Kurhaus tanzen gewesen und da war es doch wieder unheimlich spät geworden. Oma wollte uns verprügeln vor lauter Empörung. Am nächsten Tag hatte ich mich mit meinem Fotografen verabredet, wir wollten zusammen in den Zoo gehen. Er sah mich prüfend an: ‚Du siehst heute so abgespannt aus, auch etwas blass, was war denn?‘ Ihr wisst doch, ich kann doch nicht schwindeln, also sagte ich ihm die Wahrheit und ich merkte sofort, dass er ab diesem Zeitpunkt anders war. Er sagte noch zu mir: ‚Verstehen kann ich das Ganze nicht – wenn du einmal weggehen willst, brauchst mir doch nur etwas zu sagen. Ich bin immer für dich da.‘ Am nächsten Tag hielt ich einen, in wahnsinnig netten und geschliffenen Worten geschriebenen Abschiedsbrief von ihm in der Hand.“

 

„Na, endlich war es nun vorbei, oder?“

„Friedel, obwohl es nicht gerade mein Traummann war, es tat schon weh.“

„Könnt Ihr euch noch besinnen, wie fein ich dann das Treffen zwischen euch in Weixdorf organisiert habe? Zunächst bin ich zu Herbert in die Wohnung gegangen, habe gefragt, wie es ihm geht und mich beiläufig erkundigt, wann er wieder mit seinen Kumpels in Weixdorf ist. Dann war es ja ein Einfaches, Gretel zu überzeugen, dass sie mit mir wieder einmal nach Weixdorf schwimmen geht.“

Jetzt wurde auch Herbert wieder wohlgelaunt: „Ja, herrlich war’s, wir haben Fußball gespielt und euch beide mit integriert. Naja, im Fußball seid ihr nicht gerade so bewandert, aber es war wunderschön mit euch Mädels und vor allem hatte ich meine Gretel wieder. Das hast du wunderbar gemacht, liebste Schwägerin, manchmal bist du schon ein Schatz.“

„Was heißt hier manchmal – immer!“

„War da nicht einmal so eine Sache mit unserer Mutter, wo sie dich beinah lächerlich gemacht hat?“

„Oh, oh – ja, das ging mir vielleicht ans Gemüt.“

„Erzähl mal!“

„Als ich einmal Gretel von zu Hause abholte, kam eure Mutti an die Tür und öffnete mir. Äußerst neugierig fragte sie mich, wie es mir denn so mit Gretel gefalle und was wir immer so tun würden. Mir gefiel die Ausfragerei zwar nicht, ich erzählte ihr aber, dass wir häufig zum Handball gingen, in den Zoo und vor allem erzählte ich ihr von Weixdorf. Letzteres interessierte sie besonders und ich musste darlegen, wie die Anlage so sei und was wir alles dort so tun. Natürlich schwärmte ich sehr von dem schönen Bad, den schönen Wiesen, den Übernachtungsmöglichkeiten, dass man dort wunderbar speisen könne und dass wir immer Fußball spielen. Da sagte sie: ‚Herbert, da nehmt ihr mich doch bitte mal mit, das interessiert mich sehr.‘ Also fuhren wir an einem Wochenende zusammen hin – sie blieb sogar über Nacht und schlief bei uns in einem Bungalow.

Am nächsten Tag, früh am Morgen, ging sie in das Toilettenhaus, zu welchem man ein ziemliches Stück in den hinteren Teil des Geländes laufen musste. Wir machten gerade etwas Frühsport, als plötzlich mein Freund Walter aufgeregt auf mich zu rannte: ‚Herbert, ein großes Malheur, komm sofort und ganz schnell! Ich war mich gerade waschen. Da saß deine angehende Schwiegermutter – sie hatte den Schlüpfer über den Rock gezogen. Pass auf, Herbert, am Ende bist du blamiert bis auf die Knochen. Wenn das rauskommt und das unsere Freunde erfahren, die immer fürchterlich gern lästern, dann ist das in Kürze in ganz F-Pieschen rum.‘ Ich erschrak fürchterlich und setzte mich sofort in Trab. Da kam mir die Schwiegermutter schon entgegen. Sie hatte scheinbar eine Superlaune und summte: „Mümi, Mama, Momo, Mumu..“ Die Vögel zwitscherten – für sie war die Welt einfach schön und in Ordnung. Ich schaute sie mir näher an – auweia. Sie hatte ihre dunkelgrauen Baumwollschlüpfer über ihren schwarzen Rock gezogen. Vorn ging das ja noch leidlich, aber auf der anderen Seite hatte sie das komplette Hinterviertel mit ihrer superdicken Unterhose (Frauen sagen augenscheinlich Schlüpfer dazu) verhüllt. Es sah einfach fürchterlich aus und war peinlich hoch drei. Wenn das meine Freunde mitbekommen hätten, ich wäre der Lächerlichkeit preisgegeben gewesen. Wie gut, dass Walter so vertrauenswürdig und verschwiegen war. Ich bin schnell zu eurer Mutter hin gestürmt, habe mich vor lauter Aufregung verbeugt und dann gestottert: ‚Fffrauuu Straaaaaßbububurger, iiiiihre Kleieieideroooordnung iiist durcheinander.‘ Da hat sie mich blessiert, ich würde sogar sagen, arrogant und überheblich angeschaut und von sich gegeben: ‚Was soll denn das, Herbert?‘ Ich hatte jetzt meine Sicherheit wieder: ‚Greifen Sie mal nach hinten, Frau Straßburger, da spüren Sie den Skandal!‘ So langsam gelang es mir, ihre souveräne Überlegenheit, die sie demonstrierte, zu erschüttern. Sie schaute jetzt (endlich nahm sie mich ein wenig ernst) an sich herunter und lächelte in der Art: ‚Sind Sie oder du, Herbert, wohl gar nicht gewöhnt, eine so schicke Frau zu betrachten?‘ Nun wurde ich ein wenig ärgerlich: ‚Frau Straßburger, nehmen Sie mich doch endlich einmal ernst! Ich meine – hinten bei Ihnen, bei ihrem dicken …‘ Endlich griff sie auf ihren Allerwertesten und nun passierte etwas, was ich bis jetzt noch nicht deuten kann. Sie schrie mich regelrecht an und dabei ging sie wieder zum Sie über: ‚Verschwinden Sie sofort! Oder wollen Sie mich so, wie ich jetzt angezogen bin, der Nachwelt präsentieren?‘“

„Ach ja, unsere Mutter war schon manchmal recht unüberlegt in ihren Handlungen“, sinnierten Gretel und Friedel.

„Ach Friedel, aber auch vor der Zeit, als ich mein Herbertl kennengelernt habe, hatten wir viel Spaß – ich möchte die Zeit nicht missen.“

„Mir geht es genauso, Gretel, vor allem hast du nie hervorgehoben, dass du fast zwei Jahre älter und die Große bist.“

„Ja, sicher du kleene Schwester, das bereue ich noch heute, dass ich nicht gegen dein Ego vorgegangen bin.“

„Was, wieso? Wir haben uns doch immer gut verstanden, oder?“

„Zuerst dachtest du immer an dich und erst sehr, sehr spät an deine große Schwester. Wir hatten ausgemacht, uns immer alles zu sagen und vor allem alles zu teilen. Es gab doch diese wunderbaren rosafarbenen Pfefferminzmoler in den spitzen, grauen Papiertüten – die kosteten doch nur drei Pfennige. Wenn ich welche hatte und kostete, gab ich dir immer davon ab. Hattest du welche, sah ich häufig, wie du heimlich gefuttert hast. Das beleidigte mich ganz einfach.“

„Gretel, ich kann mich nicht besinnen.“

„Keiner wird jünger, meine Kleene. Am schlimmsten ist mir noch folgende Situation in Erinnerung. Wir lagen im Bett, hatten uns schon Gute Nacht gewünscht und ich war schon fast in den ersten Träumen. Da raschelte es in deiner Ecke – Papier, Zeitungspapier? Nein, es war eher so etwas wie Pergament. ‚Frieda, was tust du da? Isst du heimlich?‘ ‚Schlaf nur, Gretel, ich höre gleich auf.‘ Es knisterte weiter und nicht nur das – das Geräusch nahm noch zu. Es klang zusätzlich wie deutliches Schmatzen. Aufgeregt sprang ich aus meinem Traum heraus, aus dem Bett und stürzte zu deiner Koje. Nun frage ich dich – was sah ich da? Ich beantworte es gleich selbst – du warst vollkommen verschreckt, als ich vor deinem Bett stand, wurdest puterrot und versuchtest krampfhaft, etwas schnell zu verstecken. Das war aber schwierig, denn es waren saure Heringe, in Papier eingewickelt und vor Aufregung hattest du einen Fettfleck auf dem Kopfkissen verursacht.“

Jetzt schaltete sich sogar Herbert aufgeregt ein: „Das kann nicht wahr sein, Friedel, aber wenn ich es mir recht überlege, unheimlich verfressen warst du schon immer.“

„Aber ansonsten, Gretel, haben wir doch immer zusammengehalten. Kannst du dich noch erinnern, wie schwierig es immer mit unserer Mutter war, wenn wir mal ausgehen wollten?“

„Lebhaft, ganz nachdrücklich ist mir das alles noch im Gedächtnis, das waren doch für uns ganz schwierige Unternehmungen. Zunächst mussten wir exakt berichten, wohin und mit wem wir gehen, was dort veranstaltet wird, wie lange es dauert und was wir gedenken anzuziehen. Das schlimmste war die Kontrolle unserer Unterwäsche. Wir trugen ja immer Schlüpfer aus Seide mit einem schönen Design – ich hatte zum Beispiel lilafarbene Röschen darauf.“

„Aber genau“, hakte Friedel ein, „das große Problem für uns war ja – Herbert, ich sehe an deinem skeptischen Gesicht, dass du das überhaupt nicht nachvollziehen kannst. Ihr Männer habt scheinbar nicht solche Probleme, trotzdem musst du nicht so hintergründig feixen. Stell dir nur mal vor, deine über alles geliebte Gretel tanzt mit dir in dem wunderschönen Ballsaal Watzke und du bekommst mit, dass sie solche Baumwollunterhosen anhat, wie unsere Mutter in Weixdorf. Was würdest du da sagen, ich meine, wenn diese Baumwolldinger unter unseren kurzen Röckchen hervorvorlugen? Jaja, da vergeht dir das Feixen und deine erotische Stimmung wäre im Eimer. Aber dafür habt ihr Männer einfach kein Verständnis.“

Auch ich musste schmunzeln, was Friedel sofort zu der bissigen Reaktion brachte: „Ja, ja, Klausel, du bist ja nun auch schon ein Mann, wenn auch ein junger. Die Frauen machen sich für euch immer äußerst schön und ihr scheint das gar nicht richtig zu schätzen. Es ist eben nun einmal so, dass im Geschlechtervergleich die Frauen die Attraktiveren sind.“

„Bei aller Wertschätzung, Friedchen, schau dich mal im Tierreich um. Wer ist dort am Anziehendsten und Hübschesten – die Männer. Sieh mal einen schönen Hahn, zum Beispiel Rasse Italiener oder gar einen Pfau, alles Männer und genauso ist es bei den Menschen.“

„Mein lieber junger Mann, hier liegst du absolut falsch, umgekehrt wird ein Schuh daraus.“

„Sieh dir doch einmal meinen properen Vater an. Stelle ihn dir einmal vor, wenn er frisch geschniegelt mit seiner lieben Gretel ausgeht. Ich fange einmal unten an – auf Hochglanz polierte Rindlederschuhe hoher Qualität, dunkler Anzug aus feinstem Nadelstreifen, fein rasiert, Haare gestylt mit Klettenwurzelhaaröl, was man aber leider nicht sehen kann, da er einen fünfzehn Zentimeter hohen Hut auf hat, um Gretel die gewünschte Höhe zu präsentieren. In der Hand trägt Herbert leger zwei dünne Lederhandschuhe. Man muss ja nicht gerade an den Herbert Schulze in seinen braunen Knickebockerhosen denken.“

„Klausel, du bist mir ein ganz Lieber, aber jetzt übertreibst du und machst noch meinen Schulze schlecht.“

„Klaus, du junger Spund, hänge dich hier nicht rein und höre aufmerksam zu, damit etwas lernst – jetzt bist du etwas zu weit gegangen gegenüber deiner Tante. Halte jetzt die Pappen! Friedchen, erzähl mal lieber weiter, wie ihr nun mit euren Unterhosen mit eurer Mutter klargekommen seid.“

„Herbert, auch du hast keine Ahnung – Frauen tragen Schlüpfer und keine Unterhosen. Also, wir mussten unsere seidenen Schlüpfer in der Wohnung ausziehen, da Mutter das kontrollierte. Uns ist es einmal passiert, dass wir ohne die baumwollenen, innen angerauten und mit Beinen versehenen Liebestöter das Haus verlassen wollten, aber Mutter zog die Röcke hoch und kontrollierte.“

„Was passierte da?“, fragte Herbert neugierig. „Nicht wahr, Gretel, das war furchtbar – wir durften erst eine Stunde später ausrücken und du hattest dich mit deinem Tanzstundenpartner Edgar verabredet.“

„Ja, Friedel, das war mir unwahrscheinlich peinlich. Er war auch prompt beleidigt, sprach von seiner Freundin Claudia und dass er nicht auf mich angewiesen sei. Es renkte sich dann aber wieder ein. Du schaust wieder einmal fragend, Herbertl, und der Klaus ist auch voller Neugier. Wir machten es in Zukunft einfach so, dass wir die Liebestöter anzogen, aus der Wohnung gingen, einer von uns klingelte dann noch einmal, ging noch einmal zurück, holte die Seidenschlüpfer und stopfte zuvor die Baumwollschlüpfer hinter das große Rohr auf unserem Plumpsklo. Das waren aufwändige und nervenzerfetzende Aktionen und dies jedes Mal.“

„Da habt ihr euch wohl draußen im Hausflur umgezogen?“, wunderte sich Herbert mit offenem Mund.

„Na klar, wie denn sonst? Wir zogen unsere Hochhackigen aus, stellten unsere feinen Ledertäschchen auf die Treppe, hielten uns mit einer Hand am Treppengeländer fest, zogen aus und zogen an. Dabei mussten wir ständig lauschen, dass wir nicht von irgendwelchen Besuchern überrascht wurden. Geschah dies, mussten wir so tun, als wenn wir ein hochinteressantes Gespräch hätten.“

„Ich dachte, ihr musstet erst noch die Seidenschlüpfer holen, bevor ihr mit der Aktion beginnen konntet?“, war Herbert am Detail interessiert.

„Das hatten wir dann natürlich auch mitbekommen, dass es sinnvoll ist, die Schlüpfer aus Seide gleich mitzunehmen, wenn wir aus der Wohnung gingen.“

Jetzt hatte ich aber Interesse an der Trickserei bekommen und fragte scheinheilig: „Und, was hat es euch nun genützt? War dieser große Aufwand wirklich sinnvoll und von Nöten? Wer sah es denn, dass ihr untenherum so fein mit rosa Röschen eingekleidet wart? War es Herbert? Waren es andere oder hatte gar jemand Zugriff zu diesen edlen Stellen von euch?“

Mit diesen Frechheiten hatte ich aber in ein Wespennest gestochen. Gretel und Friedel geiferten: „Klaus, sofort hörst du auf mit diesen Spitzfindigkeiten. Schließlich wollten wir jung und hübsch aussehen und wahrscheinlich kannst du dir gar nicht vorstellen, was es für eine Schande ist, wenn die grauen innen Angerauten unter unserem Minirock hervorlugen.“ Herbert verhielt sich vor Schreck neutral, schmunzelt aber äußerst vergnügt in sich hinein.

 

Ich flitzte schnell zu Mutti hin, gab ihr einen Kuss auf die Wange – das gleiche tat ich mit meiner Tante. Dazu streichelte ich noch beide und schaute sie mit dem liebsten Blick an, der mir gegeben war. Sie beruhigten sich und erzählten sogar weiter: „In gewisser Weise hat der Klaus ja recht. Weißt du noch Friedel, wie wir nach solchen Tanzveranstaltungen oder im Ballhaus Watzke an der Straßenbahnhaltestelle gefroren haben, bei Wind, Wetter und Schnee, es war großer Unfug. Mehrfach haben wir uns eine Blasenerkältung zugezogen und unsere Mutter wunderte sich immer, wie dies bei ihrer strengen Vorschrift und den Baumwollschlüpfern passieren konnte. Viel schlimmer war aber, wenn wir nicht pünktlich nach Haus kamen. Meist war der äußerste Zeitpunkt zweiundzwanzig Uhr, den wir unbedingt einzuhalten hatten, was wir aber kaum schafften. Dabei lag das gar nicht mal an uns, die Zeit war einfach zu kurz und häufig gab es noch Probleme mit der Bahn oder dem Bus. Du warst immer sehr unfair zu mir, Friedel.“

„Wieso denn? Wir bekamen doch die Dresche immer gemeinsam. Unsere Mutter haute in ihrer Wut schon ganz schön zu und vor allem konnte sie sich nie beruhigen und geiferte noch mindestens zehn Minuten lang, nachdem wir nach Hause gekommen waren.“

„Das stimmt schon, was du sagst, es war aber doch so, dass immer die Erste die Prügel abbekam und da du körperlich etwas stärker als ich warst, schubstest du mich immer vor, bis die Tür aufging und Mutter ihren Tobsuchtsanfall bekam.“

„Gretel, ich bekam auch meine Schläge.“

„Sicher, aber niemals, wenn wir zu spät von einer Tanzveranstaltung oder etwas anderem nach Hause kamen – da war ich immer dran und du sorgtest dafür.“

„Naja, meine liebe Schwester, es ist schon durchaus etwas dran, an dem was du sagst. Aber insgesamt mochten wir uns doch und hielten zusammen.“

„Ja, unbedingt, kannst du dich noch erinnern, als ich mit meiner Schulfreundin Klara bei Regen auf die Schirme Vorbeigehender gespuckt habe?“

„Genau, da haben sich dann etliche Leute bei Mutter und Vater beschwert, dass aus unserem Haus gespuckt worden sei. Mich haben sie auch gefragt und ich habe geantwortet: Meine Schwester spuckt nicht in der Gegend herum – niemals! Da ist sie viel zu fein erzogen.“

„Uns hat das damals unheimlich viel Spaß gemacht. Die Frage war, ob wir den Schirm treffen oder ob der Besitzer schon weitergelaufen war, da es ja einige Zeit dauert, bis unsere Spucke vom Fenster im zweiten Stock unten ankam. Das dauert einige Zeit, bis wir diese Technik heraushatten. Nachdem das einigermaßen gelungen war, hatten wir ein neues Problem, welches darin bestand, dass wir keine Spucke mehr zur Verfügung hatten. Wir halfen uns über diese Trockenperiode, indem wir ein Glas Wasser auf die Fensterbank stellten – so hatten wir Flüssigkeitsnachschub. Allerdings war zu beachten, dass die neuen Schwupse Wasser viel schwerer waren als unsere leichte Spucke und damit schneller fielen. Also spuckten wir häufig vor den Schirm, da alles viel schneller ablief, aber daran gewöhnten wir uns auch. Tatsache ist aber, dass unsere Oma die Zusammenhänge herausbekam. Warum? Weil ich eben einfach nicht schwindeln kann, ich bin dazu nicht der Lage – da bin ich eine zu ehrliche Haut. Sie hatte herausbekommen, dass Klara bei uns war, ging zu deren Mutter, fragte diese richtig aus und an meinem Gesicht konnte sie den Rest ablesen. Nun frage ich dich, Klausmann, was passierte jetzt?“

„Ich vermute mal, Mutti, dass deine Mutter wiederum einen Wutanfall bekommen hat und mit dem Rohrstock ankam.“

„Das mit dem Wutanfall stimmt natürlich – es war aber schon mehr eine Explosion ihrer Gefühle, vor allem deshalb, weil sich fremde Leute beschwert und unser Ansehen in den Schmutz gezogen hatten. Ich bekam die üblichen Schläge mit der Hand ins Gesicht, auf den Kopf und – was viel schlimmer war – ich durfte zwei Wochen nicht weggehen, also in die Schule schon, aber mehr auch nicht. Ja, Klausmann, so ging es mir damals.“

„Aber bei all diesen mehr oder weniger schönen Geschichten – übrigens, wenn uns mal unsere Mutter verhauen hat, so schlimm war das nun auch wieder nicht. Es war nur ihre übergroße Sorge um uns. Sie war schon immer für uns da. Sollte man nie vergessen – Friedel, siehst du das ähnlich?“

„Selbstverständlich, keine Frage. Toll und harmonisch war unser Familienleben mit Vater und Mutter leider nicht. Kannst du dich noch erinnern, wie Vater immer schrie, wenn etwas auf dem Tisch fehlte? Ja, das war schlimm. Ich habe nur nie verstanden, Friedel, wie du das alles so ohne Probleme wegstecken konntest. Vater Alfred schrie: „Wo sind denn nun schon wieder Salz und Pfeffer, Martha, du lernst das wohl nie! Das Schlimmste war, so empfand ich das zumindest, dass unsere Mutter mit einer superhohen Fistelstimme vor Aufregung zurück blaffte. Das schaffte einen Stress und eine innere Unruhe – denke ja nicht Gretel, dass mir das nicht auf den Geist ging. Ja, aber du hast das irgendwie verkraftet. Naja, ich bin dann einfach zum Handball gegangen. Da hatte ich meine Sportkumpel und der Sport brachte mich auf ganz andere Gedanken.“

„Verstanden habe ich aber nie“, blieb meine Mutti dran an dem Problem, „weshalb du nicht reagiert hast, zum Beispiel, wenn etwas fehlte. Mir wurde da immer ganz schlecht, heiß und kalt ging es mit den Rücken runter und mir wurde schwindlig – sofort sprang ich auf und holte Pfeffer und Salz.“

„Stimmt schon, Gretel, ich war anders als du. Ich konnte vieles wegstecken. Gedanken habe ich mir ja auch gemacht, wenn du dann immer ganz weiß und blass aussahst nach einem solchen Streit und dir das Gesicht zuckte.“

„Friedel, mir zuckte nicht nur das Gesicht, mir war immer schwindlig und wie Umfallen und ich zitterte gewaltig. Es war eine furchtbare Zeit für mich, ich konnte mich in der Schule nicht konzentrieren. Das ging so weit, dass unsere Klassenleiterin, Frau Viertel, sich bei Mutti anmeldete und mit ihr ein Gespräch führte. Ich glaube, dies hat unserer Mutter endlich die Augen geöffnet, denn sie war nur noch mit ihrem Streit mit Alfred beschäftigt und in diesem Moment interessierten wir sie wahrscheinlich kaum. Sie war aber auch wirklich ein ständiger Unruheherd, die ständig an unserem Vater herumkritisierte: ‚Alfred, hast du wieder deine Jacke vollgesabbert, die Hose ist auch dreckig, die Schuhe sehen wieder aus wie Sau und rasiert hast du dich auch nicht richtig. Hier schau, da sind noch Barthaare – du siehst aus wie ein Assi!‘ Nun wurde Vater noch verrückter und ging unsere Mutter körperlich an – er packte sie bei den Schultern und schüttelte sie – wir wissen ja, ein Fleischermeister hat viel Kraft. Unsere Mutter wurde hin und her geschüttelt wie ein Stück Papier. Sie hatte keine Chance dagegen anzukämpfen. Nun wurde sie aber richtig jähzornig, obwohl man an ihren Augen sah, dass sie auch Angst hatte, schlug Vater ins Gesicht, wobei sie durch das Schütteln selten sein Konterfei erwischte. In ihrer Wut spuckte sie ihm ins Gesicht. Nun war es ganz vorbei, Alfred hob die Hand und wollte zuschlagen. Ich zitterte am ganzen Körper und warf mich dazwischen. Da brüllte Mutter: ‚Alfred, jetzt ist Schluss, wir benehmen uns ja wie die primitivsten Menschen – arme Gretel! Alfred, sofort entschuldigst du dich bei Gretel!“