Einführung in die Psychomotorik

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Grundlagenkommission

Nach der Gründung des Aktionskreises entsteht das Problem, das von Kiphard und seinen Mitstreitern geschaffene Gedanken- und Übungsgut lehrbar zu machen und weiter theoretisch zu fundieren. Zu diesem Zwecke wird eine Grundlagenkommission einberufen, die in den Jahren 1977 bis 1979 die theoretischen Grundlagen der deutschen Psychomotorik entwickelt. In der Folge werden diese zum Fundament für

■ die erste Motopädenausbildung (ab 1977 in Dortmund). Heute existieren in Deutschland mehr als ein Dutzend Fachschulausbildungen von ein- bis dreijähriger Dauer mit pädagogischen und therapeutischen Schwerpunktsetzungen (Borgmeier 2002);

■ den ersten post-gradualen Studiengang Motologie (seit 1983 an der Universität Marburg mit einer wissenschaftlichen und berufspraktischen Doppelqualifikation in den Bereichen Motopädagogik und Mototherapie sowie zahlreiche Neukonzeptionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wer sich in der Aus-, Fort- und Weiterbildungslandschaft (auch akademisch ausgebildeter)Psychomotoriker/Psychomotorikerin nennen darf stellt Späker (2012) überblicksartig zusammen. Es ist das Verdienst von Friedhelm Schilling (Abb. 2), mit seiner wissenschaftlichen Grundlegung des Fachgebietes Motologie (1976) sowie einigen wissenschaftlichen Projekten an der Universität Marburg die Voraussetzungen für die universitäre Etablierung und Entwicklung des Wissenschaftsgebietes Motologie geschaffen zu haben.

Das Fachgebiet der Motologie beschäftigt sich mit der „Lehre von der Motorik als Grundlage der Handlungs- und Kommunikationsfähigkeit des Menschen, ihrer Entwicklung, ihrer Störungen und deren Behandlung“ (Schilling 1981, 187). Es gliedert sich in die Teilgebiete der Motogenese, der Motodiagnostik und der Motopathologie sowie in der Anwendung von Fördermaßnahmen in Motopädagogik und Mototherapie. Abbildung 3 gibt einen Überblick über den Aufbau der Motologie im Entwurf der 1980er-Jahre (erste Fachsystematik).

Abb. 2: F. Schilling, der Initiator des 1. Studiengangs Motologie bei seiner Festrede aus Anlass des 15-jährigen Jubiläums des Studiengangs im November 1998

Motopädagogik und Mototherapie gestalten die angewandte Motologie und beinhalten die abgeleiteten Ziele und Methoden der Grunddisziplin zur Persönlichkeitsbildung und -therapie über das Medium der Bewegung. Basis für motopädagogisches Handeln sind die Erkenntnisse über die Entwicklung des Menschen (Motogenese) mittels diagnostischer Maßnahmen und Ableitungen aus Theorien (Motodiagnostik). Dabei steht das Prinzip einer ganzheitlichen Sichtweise der Motorik im Mittelpunkt des Fachinteresses. Schilling versteht Motopädagogik als Konzepterweiterung der psychomotorischen Erziehung und definiert sie als „ganzheitlich orientiertes Konzept der Erziehung durch Wahrnehmung, Erleben und Bewegung“. Mototherapie wird dagegen als

Abb. 3: Aufbau des Fachgebietes Motologie (1. Fachsystematik) (Schilling 1981, 187)

„bewegungsorientierte Methode zur Behandlung von Auffälligkeiten, Retardierungen und Störungen im psychomotorischen Verhaltens- und Leistungsbereich“ verstanden (Schilling 1986a, 728).

Motopädagogik ist präventiv bedeutsam, so in der Frühförderung oder als bewegungserzieherisches Konzept der Vorschulpädagogik; Mototherapie wirkt eher rehabilitativ und ist u.a. dem klinischen Bereich der Kinder- und Erwachsenenpsychiatrie zuzuordnen. Auch für das mototherapeutische Handeln bilden die Grundlagen der Motogenese, der Motodiagnostik und Motopathologie die Voraussetzung.

1.4 Ziele und Inhalte

Erfahrungen in Handlungssituationen

Motopädagogik will den Menschen anregen, sich handelnd seine Umwelt zu erschließen, um seinen Bedürfnissen entsprechend auf sie einwirken zu können. Sie versucht dies zu erreichen, indem sie vielfältige Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrungen in Handlungssituationen vermittelt. Motopädagogik ist auf die Ganzheit der menschlichen Persönlichkeit gerichtet, weil sie nicht die Verbesserung bestimmter motorischer Fertigkeiten in das Zentrum ihrer Bemühungen stellt, sondern weil sie Bewegungshandeln als Verwirklichungsmöglichkeit der kindlichen Persönlichkeit und als wesentliches Mittel der Förderung betrachtet (Irmischer 1987, 13; im Überblick s. Zimmer 2012, 19–25; Krus 2015a; Schneider 2015). Als Richtziel ihres Förderungsbemühens formuliert die Motopädagogik die Kompetenzerweiterung des Kindes, sich sinnvoll mit sich selbst, mit seiner materialen und personalen Umwelt auseinander zu setzen und entsprechend handeln zu können. Daraus lassen sich folgende, nur analytisch trennbare Kompetenzbereiche ableiten:

■ sich und seinen Körper wahrzunehmen, zu erleben, zu verstehen, mit seinem Körper umzugehen und mit sich selbst zufrieden zu sein (Ich-Kompetenz);

■ die materiale Umwelt wahrzunehmen (= sie zu erleben und zu verstehen) und in und mit ihr umzugehen (Sach-Kompetenz);

■ Sozial-Kompetenz zu erwerben, d.h. zu erfahren und zu erkennen, dass sich alle Lernprozesse im Spannungsfeld zwischen den eigenen und den Bedürfnissen anderer vollziehen.

Körpererfahrung

Daraus ergeben sich die drei inhaltlichen Lernfelder der Körpererfahrung, der materialen Erfahrung und der Sozialerfahrung. Die Körperlichkeit des Kindes ist das Zentrum seiner Persönlichkeit, der Dreh- und Angelpunkt seiner Existenz. Handeln schließt immer die körperliche Bewegung mit ein. Im Bewegungshandeln lernt das Kind seinen Körper kennen, mit ihm umzugehen, ihn einzusetzen und auf die Umwelt einzuwirken. Die Orientierung am eigenen Körper ist die Basis jeder Orientierung im Raum. Zugleich ist der Körper der Spiegel psychischen Erlebens; über seinen Körper erlebt das Kind seine Befindlichkeit und bringt seine Gefühle und Bedürfnisse zum Ausdruck. Das Lernfeld Körpererfahrung in der Motopädagogik will Körper- und Bewegungserfahrungen vielfältigster Art ermöglichen und gestaltet seine Angebote adäquat dem Entwicklungsalter der Zielgruppen entsprechend.

Materiale Erfahrung

Der Lernbereich der materialen Erfahrung strukturiert schwerpunktmäßig die kognitiv-emotionalen Entwicklungsimplikationen der räumlich-gegenständlichen Umwelt. Der Umgang mit Materialien wird zum Medium der Erkenntnisgewinnung. Im Spiel mit unterschiedlichsten Objekten gewinnt das Kind Informationen über Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten der dinglichen Umwelt: Es erweitert seine Sach- und Handlungskompetenz. Entscheidend für die Förderung kindlicher Handlungskompetenz sind Materialien, die die Selbstständigkeit und das kreative Spiel des Kindes provozieren. Bevorzugt werden Alltagsmaterialien in die Angebote einbezogen, um sinnvolle Bezüge zur Alltagsrealität herzustellen. Materialgestaltete Spielsituationen im Kindesalter wären etwa die Benennung, Kategorisierung, Unterscheidung von Gegenständen, der sach- und zielgerichtete Einsatz von Material, die Kombination unterschiedlicher Spielobjekte, das Transportieren, Bewegen und Verändern von Material. Auch die Natur (Wald, Wiese, Wasser, Schnee etc.) bietet aus motopädagogischer Perspektive ein reichhaltiges Feld materialer Erfahrungen.

Sozialerfahrung

Nur im Kontakt mit den Mitmenschen lernt der Mensch sich zu verständigen und auszudrücken. In geeigneten Situationen lernen Kinder mit Partnern zu kooperieren, Rücksicht zu nehmen, Verantwortung zu tragen, Einfühlungsvermögen zu zeigen, aber auch sich durchsetzen zu können. So sind z.B. Wagnis und Abenteuerlust psychisch erlebbare Zustände, die pädagogisch viel zu selten im Sinne der Stärkung von Selbst- und Sozialerfahrungen genutzt werden. Dabei ist es durchaus legitim und pädagogisch sinnvoll, etwa durch das Arrangement eines Geräteparcours in der Turnhalle oder die Aufgabenstellung der Überwindung eines Hindernisses in der Natur (Erklimmen eines Hanges oder Überqueren eines Baches), bei Kindern Prozesse in Gang zu setzen, die das Selbstwertgefühl des Einzelnen stärken und die Anerkennung in der Gruppe sichern. Die Erfahrungen gemeinsam durchlebter Abenteuersituationen und der kooperativen Bewältigung komplexer Aufgabenstellungen erweisen sich für die besondere Klientel beeinträchtigter Kinder als persönlichkeitsstärkende Lebenshilfe.

Abgrenzung von Mototherapie und -pädagogik

In der Anfangszeit der Verwissenschaftlichung der Meisterlehre sind die Übergänge zwischen Motopädagogik und Mototherapie fließend und lassen sich nur unscharf voneinander abgrenzen. So spielen in der Mototherapie pädagogische Grundlagen eine wichtige Rolle, während in der Motopädagogik auch therapeutische Elemente zum Tragen kommen. Dieses ändert sich in den 1980er-Jahren mit der Notwendigkeit, eine klare Definition und Indikationsstellung zu formulieren, will die Mototherapie die Verordnungsfähigkeit durch das medizinische System erreichen. Die wissenschaftliche Fundierung dient dazu, die damalige Psychomotorik zu legitimieren. Es zeigt sich, dass motorische Schwierigkeiten des Kindes immer in Verbindung mit anderen emotionalen und sozialen Persönlichkeitsbereichen stehen. Erstere werden als „zentrales Problem der Persönlichkeitsentwicklung“ interpretiert. Dies führt zu dem theoretischen Grundaxiom der „Sekundärstörungen“ (Schilling 1984, 102), wonach psychische Auffälligkeiten als sekundäre Kompensationsphänomene zu verstehen sind. Die weiteren Überlegungen führen zu einer dynamischen Betrachtungsweise von Störungen, da sich die behinderten Kinder trotz gleicher Ursachen ihrer Behinderungen im Verhaltens-und Leistungsbereich erheblich voneinander unterscheiden.

 

Wissenschaftliche Grundlagen

Da die Motologie zu diesem Zeitpunkt über keine eigene Entwicklungs- und Persönlichkeitstheorie verfügt, die individuelle Entwicklungsförderung jedoch zentrales Anliegen von Motopädagogik und -therapie ist, wird in der Theoriebildung auf allgemeine Theorien zurückgegriffen. Für den wissenschaftlichen Hintergrund der Motologie der 1970er-und 1980er-Jahre sind insbesondere die Gestaltkreistheorie von v. Weizsäcker (1947), die materialistische Handlungstheorie von Leontjew (1973) und die kognitive Entwicklungstheorie Piagets (1975)bedeutsam, wobei Theoriebezüge üblicherweise zu Grundlagen hergestellt werden, die von Piaget und seinen Mitarbeitern in der Zeit von 1936 bis 1948 erarbeitet wurden (Fischer 1996a, 19) (zur Vertiefung s. Kapitel 3 und 4). Für die motologische Theoriekonstruktion steht die Handlungs-und Kommunikationsfähigkeit des Menschen im Vordergrund. Entwicklung vollzieht sich danach „in der tätigen, wechselseitigen Interaktion mit der Umwelt in Abhängigkeit von biologischen Bedingungen“. Dem Bewegungsfachmann – auch dem Forscher – kommt dabei die Aufgabe zu, „Differenzierungsprozesse zwischen Reifen, Wachsen und Lernen als umfassende adaptive biologische Aneignungsprozesse zu verstehen“ (Schilling 1986b, 59; 1993, 55).


Die klassische Theorielegung der Motologie ist ein Beitrag zur Verwissenschaftlichung der Psychomotorik, dennoch ein Kind ihrer Zeit und gerät aus diesem Grund mit dem sich wandelnden Wissenschaftsverständnis der 1990er-Jahre in die Kritik. Diese bezieht sich im Wesentlichen auf die ursprünglich linear-kausale Modellvorstellung der Psychomotorik (Motologie) und den nur schleppenden Übergang zu einem ressourcenorientiert-kontextuellen Wissenschaftsverständnis des Ansatzes.

1.5 Paradigmenwechsel in der Fachdiskussion

Der Mensch als Subjekt

Der Wandel zu einer eher ganzheitlichen Sichtweise in der Wissenschaft beginnt vor mehr als einem halben Jahrhundert und ist noch nicht abgeschlossen. Der Mediziner und Philosoph Viktor von Weizsäcker kann als geistiger Initiator des Paradigmenwechsels in der wissenschaftlichen Diskussion betrachtet werden, da er in den fünfziger Jahren die Aufhebung des Dualismus fordert und der Frage nachgeht, wie sich Subjekt und Objekt, d.h. Mensch und Welt, begegnen (Philippi-Eisenburger 1991a, 10). Er sieht den Menschen als einen aktiven, sich selbst gestaltenden und ganzheitlichen Organismus an, den das informationstheoretische Verarbeitungsmodell nicht hinreichend darstellen kann, da Phänomene von Wahrnehmung und Bewegung nicht berücksichtigt werden.Von Weizsäcker legt damit die theoretische Grundlage für neuere konzeptionelle Entwicklungen in der Psychomotorik (Motologie). In der gegenwärtigen postmodernen Sichtweise wird der Mensch als Subjekt,als ein „sich bewegendes, wahrnehmendes, fühlendes, denkendes und sinngebendes“ (Philippi-Eisenburger 1991a, 10; Eisenburger 2003a)Wesen, damit als Person gesehen und innerhalb eines Netzwerkes von Entwicklungsfaktoren verortet. Über verschiedene Zwischenschritte des Fachdiskurses hat sich das Wissenschaftsverständnis der Psychomotorik und Motologie kontinuierlich weiterentwickelt und ein modernes Menschen- und Weltbild etabliert (Hammer 2004a; Mattner 2004).

Darüber hinaus trifft die Fachdebatte auf einen internationalen und interdisziplinären Fachdiskurs, der Bewegung und Körperlichkeit (Embodiment) zur tragenden Thematik in den Kognitions- und Entwicklungswissenschaften erhebt und ein (radikal) ganzheitliches Wissenschaftsverständnis formuliert (Shepherd 2017)(siehe Kap. 3.2).

In der Begriffswahl hat sich seit einiger Zeit der Terminus Psychomotorik gegenüber dem der Motologie durchgesetzt (Fischer 2001a, 2015a, b; Krus/Jasmund 2015; Reichenbach 2011; Zimmer 2012). Zum einen weil Motologie enger das von Schilling (1976a) konzipierte und von Seewald (2007) modifizierte Fachgebiet und den Studiengang in Marburg repräsentiert, zum anderen weil der Begriff Psychomotorik sich als Leitbegriff des von Kiphard begründeten Fachdiskurses über die Einheit von Bewegen, Wahrnehmen, Erleben, Erfahren und Handeln als Basis von Bildung, Förderung und Therapie versteht. Zudem ist Psychomotorik der international gebräuchliche Fachterminus (s. Kap. 1.6).

Vier Perspektiven

In der Konzeption der Psychomotorik der letzten Jahre gibt es verschiedene Diskussionslinien oder Perspektiven, die prinzipiell gemeinsame Leitmotive erkennen lassen (etwa die Orientierung am Kind bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Prinzipien der Ganzheitlichkeit und der Nähe zur Lebenswelt); dennoch gibt es unterschiedliche begriffliche und inhaltliche Akzentsetzungen. Vier Perspektiven seien an dieser Stelle überblicksartig angesprochen (vgl. Fischer 2015a; Fischer/Krus 2013; Krus 2015a; Kuhlenkamp 2017); einzelne Konzepte werden in Kapitel 4 ausführlicher dargestellt.

Die funktionale Perspektive

Die klassische Perspektive ist eher funktional ausgerichtet; sie umfasst den ursprünglichen Ansatz der Psychomotorischen Übungsbehandlung von Kiphard, das Konzept der Klinischen Psychomotorischen Therapie (Jarosch et al. 1993) sowie, aus der engen Zusammenarbeit mit Inge Flehmig am Institut für Kindesentwicklung in Hamburg, die Sensorische Integrationstherapie von Ayres (1984, 1998) in der Weiterentwicklung von Brand et al. (1985) sowie Kesper und Hottinger (1992, 2015), die Bewegung als Funktionsgeschehen betrachten. Hauptkriterien der funktionalen Perspektive sind: Gewandtheit, Wohlkoordiniertheit,Rhythmus, Sicherheit, Tempo, Kraft, Ausdauer, Tonusregulation. Der Ansatz orientiert sich traditionell stärker an der medizinisch-defizitorientierten Sichtweise, in der die vier Stationen Ursachendiagnostik, Therapieindikation, Durchführung der Therapie und Erfolgskontrolle programmatisch durchgeführt werden. In der Psychomotorischen Übungsbehandlung ist die Gruppentherapie mit ihrer sozialen Wechselwirkung von Anfang an wesentlich für den Erfolg. Sie zielt nicht nur auf die Verbesserung bestimmter Teilfunktionen. Das Kind soll durch die gezielte Sinnes- und Bewegungsschulung in seiner gesamten Persönlichkeit gefördert werden. Neuere Konzeptentwicklungen nehmen Bezug zur Systemtheorie (etwa Brüggebors, 1992), eröffnen eine ganzheitlich-dialogische (Kiesling 1999) oder eine symbolische Perspektive in Bezug auf die französische Psychomotorik (Esser 2011;Lapierre/Aucouturier 2002).

Die erkenntnisstrukturierende Perspektive

Die erkenntnisstrukturierende/kompetenztheoretische Perspektive:Dieser stärker an (kognitiven) Kompetenzen orientierte Ansatz, den u.a. Schilling (1977a) und Zimmer (1981a) vertreten, lässt sich entwicklungstheoretisch auf Piaget (1975) zurückführen und enthält lernpsychologische Regeln. Bewegung wird als Strukturierungsleistung und als wichtiger Teil der Handlungsfähigkeit betrachtet. Um Bewegungsmuster zu generalisieren und sich dadurch der sich stetig verändernden Umwelt anzupassen, muss die Wahrnehmung des Kindes in einem Lernprozess umstrukturiert werden. Nach diesem Ansatz ist die Differenzierung von Wahrnehmungs- und Bewegungsmustern die wichtigste Grundlage der Handlungsfähigkeit. Dementsprechend findet der Ansatz eine starke Anwendung in der frühen Förderung, vor allem in vorschul-, grundschul- und heilpädagogischen Kontexten. Die Frage nach den Kompetenzen wird in den letzten Jahren stärker auf Aspekte des subjektiven Bewegungserlebens und die dahinterstehenden sozial-emotionalen Lebensthemen ausgeweitet. Die Konzepte der kindzentrierten psychomotorischen Entwicklungsförderung nach Zimmer (2012) und der psychomotorischen Entwicklungstherapie nach Krus (2004a) integrieren Erkenntnisse der nichtdirektiven Spieltherapie sowie der Selbstkonzepttheorien. Inhaltlich geht es in dieser Perspektive um die Stärkung eines positiven Selbstkonzeptes durch Selbstwirksamkeitserfahrungen in Problemlösesituationen durch Handeln. Insofern habe ich diesen Zugang in früheren Klassifikationen als identitätsbildende Perspektive bezeichnet (Fischer 2001a, b).

Der Verstehende Ansatz

Eine Besonderheit ist der Verstehende Ansatz von Seewald (2007). Er favorisiert eine phänomenologische Grundlegung und integriert tiefenpsychologische Aspekte. Gegenstand der Methode sind Bewegungs- und Spielsituationen, in denen Lebensthemen bespielt werden können. Es geht um das Ausleben von Erlebnissen, Gefühlen und Bedürfnissen der Kinder. Es werden Geschichten und Spielsituationen inszeniert, um ein dialogisches Verstehen der dahinterstehenden Lebensthemen zu ermöglichen.

Die ökologischsystemische Perspektive

Die ökologisch-systemische Perspektive: Dieser Ansatz zielt auf eine Perspektivenerweiterung, da das Kind nicht länger individuumszentriert, sondern im Zusammenhang mit seiner Umwelt betrachtet wird. Zur Entwicklung braucht das Kind Sozialpartner, vor allem die Eltern, Geschwister und Gleichaltrigen sowie die Zeit und den Raum für gemeinsame Aktivität. Somit wird Bewegung zum sozialen und sozialräumlichen Phänomen, weil ein Verstehen der kindlichen Verhaltensweisen nur im Kontext sinnvoll ist (Fischer 1996b, d). Das neue Interesse des Pädagogen oder Therapeuten richtet sich auf den partnerschaftlichen Dialog in der Fördersituation, um die dominierenden Lebensthemen des Kindes zu verstehen (Seewald 1993) und entwicklungsfördernde Angebote zu machen. Das Interesse richtet sich aber auch auf die Frage, unter welchen Bedingungen (z.B. bei Überforderungen) Probleme sichtbar werden und wie Lebensräume (z. B. Spielräume) und Beziehungen gestaltet sein müssen, um eine Vermittlung zwischen individuellen, sozialen und kulturellen Anforderungen zu ermöglichen (Balgo 1998a, 2004, 2009).

 

Die dargestellten Perspektiven sind fachhistorisch nacheinander entstanden, setzen in der Betonung der zu erklärenden Aspekte im Theorie-Praxis-Bezug der Psychomotorik unterschiedliche Schwerpunkte. Im Praxisfeld existieren sie praktisch nebeneinander. So geht es in der „Ansatzdiskussion“ (Seewald 2009) eher um eine komplementäre Erklärungsweise und die psychomotorischen Forscher verfolgen heute eine integrative oder mehrperspektivische Vorgehensweise (Richter-Mackenstein 2014), was in eine veränderte Fachsystematik einmündet (Abb. 4).


Themenfelder• Wahrnehmung/Bewegung• Körper/Leib/Embodiment• Entwicklung• Gesundheit• Diagnostik• Gesellschaftlicher BezugParadigmen und Perspektiven/Ansätze Entwicklungsförderung• Funktionale Perspektive• Kompetenztheoretische Perspektive• Verstehender Ansatz• Ökologisch-systemische PerspektiveGesundheitsförderung Therapie Bildung/ ErziehungAngrenzende Fachdiskurse• Sportpädagogik• Heil- und Förderpädagogik; Reha-Wissenschaften• Kindheitswissenschaften• Teilgebiete der Psychologie• Teilgebiete der Medizin• Entwicklungs-/Neurowissenschaften• PM in Europa• Adapted Physical Activity• Körperpsychotherapie
Praxis Qualitätsentwicklung und Evaluation, z. B.:• Effekte- und Wirkungsforschung• spezifische und unspezifische Wirkfaktoren• Fallstudien

Abb. 4: Weiterentwicklung des Faches Psychomotorik/Motologie (Seewald 2007; Fischer 2017)

Die Etablierung der Psychomotorik als Wissenschaftsdisziplin führte schließlich zu zahlreichen Schwerpunkten in Hochschulausbildungen der Lehrerbildung und in Studiengängen für psychosoziale Berufe, Kindheitswissenschaften und der Behindertenarbeit (z. B. in Bochum, Braunschweig-Wolfenbüttel, Darmstadt, Dortmund, Emden, Koblenz, Köln). Gegenwärtig gibt es zahlreiche Bestrebungen, die Konzepte in konsekutive Bachelor-Master-Modelle zu integrieren und auch die Motopädenausbildung zu akademisieren. Auf vier der Studiengangsentwicklungen wird nachfolgend wegen der konzeptionellen Besonderheiten überblicksartig hingewiesen. Zur Vertiefung sei auf die Homepages (Adressen im Anhang) verwiesen.

■ Der Masterstudiengang Motologie (Universität Marburg) integriert seit 2006 einen Studienschwerpunkt in Körperpsychotherapie in der Arbeit mit Erwachsenen und akzentuiert die Themenbereiche der Gesundheitsförderung und der Organisationsentwicklung (Wolf 2010a, b, 2016). Für Seewald (2010) hat diese Erweiterung neben inhaltlichen auch studienstrategische und berufspolitische Gründe.

Studiengangsentwicklungen

■ Eine Verknüpfung motologischer Inhalte mit Grundlagen anderer Gesundheitsberufe im Schnittfeld von Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention bietet der Interdisziplinäre Bachelorstudiengang Physiotherapie – Motologie – Ergotherapie an der Hochschule Emden/Leer (FH). Dieser zielt darauf ab, die Kooperation der im Gesundheitswesen tätigen Professionen Physiotherapie, Motologie und Ergotherapie transdisziplinär zu vernetzen, ohne das fachspezifische Profil zu vernachlässigen. Inhaltlich stellt der Studiengang ein bio-psycho-soziales Menschenbild in den Mittelpunkt seines Konzepts.

■ Die Neuorientierung der Bildungslandschaft in der Bundesrepublik Deutschland hat ein Zusammenwachsen der vorschulischen und der Grundschulausbildung in den Fokus des Interesses gebracht. Exemplarisch genannt seien die Bildungspläne des Landes Nordrhein-Westfalen (MGFFI & MSW 2010) und Hessen (HSM & HKM 2011), die einen Bildungsplan bzw. Bildungsgrundsätze für Kinder von null bis zehn Jahren aus einem Guss formulieren. Dieses wirft Schlaglichter auf eine veränderte Ausbildung von Erziehern und Erzieherinnen einerseits und Grundschullehrern und Grundschullehrerinnen andererseits. Dabei hat die Akademisierung der Erzieher und Erzieherinnen in Deutschland inzwischen zu der stattlichen Anzahl von über 115 BA- und 25 MA-Studiengängen geführt (WIFF 2017; Bahr 2017, 49). Ein synoptischer Blick auf die Bildungs- und Erziehungspläne aller Bundesländer für den Elementarbereich (vgl. Beudels 2010) verdeutlicht ein Dilemma: Zwar findet der Bereich Bewegung in allen Plänen eine Berücksichtigung, aber kaum eine adäquate Verortung in den Ausbildungsgängen (BiK 2011; Fischer et al. 2016).

Der BA-Studiengang Kindheitspädagogik (Hochschule Niederrhein FH in Mönchengladbach) und das Masterfach Bildung und Förderung in der Frühen Kindheit sowie der neue Master-Studiengang Psychomotorik als Frühe Hilfe in Institutionen der Kindheit (Universität Köln) setzen hier Akzente.

1.6 Nationale und europäische Entwicklungen der Psychomotorik

Die Akademisierung der Psychomotorik im neuen Jahrtausend führt parallel zu neuen berufsverbandsspezifischen Orientierungen, die bald eine fachliche und wissenschaftliche Verständigung und Identitätsbildung erfordern.

WVPM e.V. und DGfPM e.V.

Erste Meilensteine der Neustrukturierung der Psychomotorik in Deutschland sind die Gründung der Wissenschaftlichen Vereinigung Psychomotorik und Motologie (WVPM e.V.) am 27./28. Januar 2006 in Marburg und die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Psychomotorik und Motologie (DGfPM e.V.) am 6.Mai 2007 in Hamm.Letztere resultiert aus der enormen Ausweitung und der damit verbundenen zunehmenden Unübersichtlichkeit der psychomotorischen Landschaft und der Intention der Bündelung der Ressourcen. Mit der Gründung der Gesellschaft gibt es in Deutschland zum ersten Mal eine fachspezifische Dachorganisation mit Sitz in Hamm. Damit erreicht in der Lippestadt ein historischer Entwicklungsprozess eine neue Qualität, der mit dem Westfälischen Institut als Wirkungsstätte Kiphards in den 1950er-Jahren seinen historischen Ausgangspunkt genommen hat.

Aufgaben und Ziele der DGfPM

Die DGfPM und ihre Mitgliedsvereinigungen verfolgen das Ziel der stärkeren Vernetzung und der Bündelung gemeinsamer Ziele: Die Aufklärung und Information von Öffentlichkeit, Politik und Verwaltung sowie die gemeinsame Verfolgung wissenschaftlicher, erzieherischer und therapeutischer Interessen von Psychomotorik, Motologie und Motopädie im Bildungs- und Gesundheitswesen. Unter dem Dach sammeln sich der Aktionskreis Psychomotorik e.V. (Sektion 1), der Deutsche Berufsverband der MotopädInnen/MototherapeutInnen e.V. (DBM) (Sektion 2), der Berufsverband der Motologen – Diplom/Master e.V.– (Sektion 3), die Wissenschaftliche Vereinigung für Psychomotorik und Motologie e.V. (WVPM) (Sektion 4), der Bundesverband der Ausbildungsstätten für staatlich anerkannte Motopädinnen und Motopäden e.V. (BAM) und die AG Klinisch Orientierte Psychomotorik (KOPM) im Zentralverband Krankengymnastik (Physiotherapie) (Sektion 5) sowie der MOVERE – Verein für Psychomotorische Entwicklungsförderung (Sektion 6) (Abb. 5).

Europäische Entwicklungen

Ein herausragendes Beispiel der Ausgestaltung der psychomotorischen Idee ist der Prozess der Internationalisierung. Im Jahre 1994 treffen sich Fachleute aus Deutschland, Belgien und den Niederlanden unter dem Motto „Psychomotorik in Europa – ein länderübergreifender Erfahrungsaustausch“ auf Initiative der Europäischen Akademie des Sports e.V., Rhede, und des Aktionskreises Psychomotorik. Zur Diskussionstehen die Entwicklungstendenzen der psychomotorischen Konzepte der beteiligten Länder sowie ein Erfahrungsaustausch zu den nationalen Ausbildungsbedingungen. Hieraus entwickelt sich ein regelmäßiger Austausch in einem immer größer werdenden Teilnehmerkreis. Im Mai 1995 findet ein Symposium in Marburg statt. 55 Delegierte aus 15 europäischen Ländern (Norwegen, Schweden, Dänemark, Belgien, Niederlande,Luxemburg, Frankreich, Spanien, Portugal, Italien, Schweiz, Österreich,Slowenien, Tschechien, Deutschland) kommen zusammen, um über das Verständnis von Psychomotorik, wissenschaftliche und Ausbildungskonzepte, Verbandstätigkeiten und über Erwartungen im Europa des Jahres 1995 zu diskutieren. Bereits im Vorfeld konnten die Stellungnahmen der Partnerländer eingeholt werden und in einer zweisprachigen Dokumentation (deutsch und französisch) den teilnehmenden Delegationen zur Verfügung gestellt werden. Dieses Treffen wird zur Geburtsstunde einer europäischen Bewegung, vereinbaren die Teilnehmer doch,

Abb. 5: Struktur der Deutschen Gesellschaft für Psychomotorik und Motologie (www.dgfpm.org)

■ die wissenschaftliche Literatur zur Psychomotorik sowie zu Bewegung, Spiel und Sport für Behinderte auf europäischer Ebene zu einem stärkeren Austausch zu bringen und möglicherweise in einer gemeinsamen Datenbank zusammenzubringen;

■ ein Europäisches Forum für Psychomotorik zu gründen, dessen Ziele und Statuten von einer Kommission erarbeitet werden sollen;

■ vom 19.–21. September 1996 den 1. Europäischen Kongress für Psychomotorik unter dem Motto „Psychomotorik in der Entwicklung“an der Universität Marburg unter Beteiligung aller Partnerländer durchzuführen (Abb. 6).

Europäisches Forum für Psychomotorik

Tatsächlich wird der Marburger Kongress ein großer Erfolg, kommen doch fast 800 teilnehmende Fachleute aus 16 europäischen Ländern zusammen, die über 200 Vorträge, Workshops, Praxisdemonstrationen, Film- und Posterausstellungen einbringen. Während des Kongresses entsteht ein großer Bilderreigen, der die Vielfalt der Psychomotorik Europas in Theorie und Praxis widerspiegelt. Es wird aber auch die Notwendigkeit deutlich, diese Vielfalt zu vergleichen, zu analysieren, um die zugrunde liegenden Konzepte zu verstehen. Dazu wird das Europäische Forum für Psychomotorik gegründet. Tilo Irmischer, der 1. Präsident des Forums, verdeutlicht den inhaltlichen Konsens über den gemeinsamen Gegenstand, der nach langen Diskussionen in einer Präambel definiert wird.

Abb. 6: Einladung zum Europäischen Kongress für Psychomotorik 1996

Auf Grund eines holistischen Menschenbildes, das von einer Einheit von Körper, Seele und Geist ausgeht, beschreibt der Begriff Psychomotorik die Wechselwirkung von Kognition, Emotion und Bewegung und deren Bedeutung für die Entwicklung der Handlungskompetenz des Individuums im psychosozialen Kontext. Das übergeordnete Ziel des „Europäischen Forums für Psychomotorik“ ist die Förderung der Psychomotorik in Europa, in der pädagogischen und therapeutischen Anwendung in der Aus- und Weiterbildung, in der Professionalisierung und wissenschaftlichen Forschung. Daraus abgeleitet stellt sich das „Europäische Forum für Psychomotorik“ folgende konkrete Aufgaben:

■ Förderung der Zusammenarbeit zwischen Psychomotorikern und Psychomotorikerinnen in den Europäischen Ländern und Regionen (Austausch, Kongresse, Projekte, Forschungsvorhaben);

■ Unterstützung für Länder und Regionen, in denen die Psychomotorik noch nicht ausreichend etabliert ist: organisatorische und finanzielle Hilfen, Unterstützung in der Fort- und Weiterbildung;