Trips & Träume

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

»Das ist William«, antwortete er.

»Du sagst es so, als müsste ich wissen, um wen es sich handelt.«

»William, der Sohn von Karen.«

»Du machst Witze.«

»Komm mit.«

Moses zog mich weiter. Vorbei an Sonny, Skip, Gero und Paul. Sie blickten überrascht auf, als sie mich sahen, ich nickte ihnen kurz zu. Dann standen Moses und ich auch schon vor dem Altar.

Mark hatte sich vom Klavier erhoben und wollte gehen. William stellte sich ihm in den Weg. Die Haare hingen ihm wirr in die Stirn. Karens Sohn.

»Dieses Lied ...«, sagte William.

Mark unterbrach ihn. »Das kann ich erklären.«

William ließ sich nicht beirren. »Sie haben es gestohlen!«

Mark schien etwas erwidern zu wollen. Doch er entschied sich anders. Langsam drückte er sich an William vorbei. Als Mark seinen Stuhl erreicht hatte, beugte er sich zu Don. Mit einer Kopfbewegung machte er seinen Freund auf meine Anwesenheit aufmerksam. In diesem Moment trat ein Mann vor den Altar.

»Meine Damen und Herren, bitte beruhigen Sie sich. Nehmen Sie Ihre Plätze wieder ein. Ich bitte Sie von ganzem Herzen, setzen Sie sich!«

Er sprach mit gefasster Stimme. Er schien mein Jahrgang zu sein, vielleicht ein wenig älter. Er holte ein Taschentuch heraus und wischte sich die Stirn. Kräftige Statur, breite Schultern. Der Anzug, den er trug, verbarg nicht, dass ihm körperliche Arbeit nicht fremd war. Seine Hände, die er nun verschränkt vor dem Bauch hielt wie ein Mönch auf dem Weg zur Messe, zitterten.

»Verehrte Damen und Herren, ich bitte Sie, die Störung zu entschuldigen. Alle, die heute hier sind, haben Karen gekannt. Ich bin sicher, sie hätte sich sehr gefreut, wenn sie wüsste, dass Sie alle wegen ihr gekommen sind. Herr Pfarrer, bitte fahren Sie mit der Zeremonie fort.«

Die Leute nahmen wieder ihre Plätze ein. Mark setzte sich auf seinen Stuhl neben Don. Hilflos blickte ich mich um.

Wo war Moses abgeblieben? Auch Sonny, Skip, Gero und Paul konnte ich nirgends mehr entdecken. Hördi war anscheinend auch schon weg. Durch den Mittelgang ging ich zurück zu meinem Platz an der Tür.

Mark hatte Williams Frage nicht beantwortet. Was waren seine Worte gewesen? Dass Mark den Song gestohlen hatte? Ja, das hatte William behauptet. Vor mehr als dreißig Jahren hatte ich Mark schon einmal damit konfrontiert.

Mit großen Schritten eilte William an mir vorbei. Als er die Klinke der Kapellentür herunterdrückte, sprach ich ihn an. »Ich muss mit Ihnen reden.«

*

Zum zweiten Mal an diesem Morgen rauchte ich eine Zigarette. William gab zuerst mir, dann sich selbst Feuer. Er steckte die Hände in die Taschen seines Anzugs. Kein Mantel, kein Schal, nur ein einfaches Jackett.

»Ist Ihnen nicht kalt?«

»Geht so.«

»Wer war der Mann, der die Leute beruhigt hat?«

»Das war Daniel, mein Vater«, sagte William mit weicher Stimme. Sein Groll schien verflogen.

Ich erkannte nun die Augen und die Gesichtszüge seiner Mutter. Eine Ähnlichkeit mit Daniel konnte ich jedoch nicht entdecken. Aber was wusste ich schon über ihn? Ich hatte einst den Kontakt zu seiner Mutter abgebrochen, hatte nie wieder etwas von mir hören lassen, damals, als Karen nach Christiania ging.

»Sie haben ganz schön für Aufregung gesorgt da drinnen«, sagte ich.

»Ich habe eine Stinkwut auf diesen Typen«, platzte es aus ihm heraus.

»Wir sollten uns duzen. Ich bin Satti, so nannte man mich hier früher.«

Er schüttelte ohne zu zögern die Hand, die ich ihm hinhielt. »Karen hat oft von dir gesprochen. Ich freue mich, dich kennenzulernen.«

Nichts Falsches oder Verstelltes lag in der Art, wie er es sagte.

Ich schaute ihn freundlich an. »Ich würde mir gern ein wenig die Beine vertreten. Lust auf einen kleinen Spaziergang?«

Er zuckte mit den Schultern. Ein paar Schritte folgten wir schweigend dem Weg entlang der Friedhofsallee.

»Satti? Was ist das für ein Name?«, fragte er.

»Ich hatte mal eine Phase, in der ich alles satt fand. Satter Sound, satte Platte und so weiter. So wie andere toll, super oder dufte sagen, war bei mir irgendwie alles satt. Aber das ist lange her. Nur meine Frau und alte Freunde nennen mich noch so«, antwortete ich.

»Alte Freunde wie Mark?«

»Ja, das waren wir, damals ... Ich habe ihn heute das erste Mal seit mehr als dreißig Jahren wiedergesehen.«

William blickte mich direkt an. Ich konnte deutlich ein nervöses Zucken in seinem Gesicht erkennen. »Einmal ist er bei uns in Hamburg aufgekreuzt.«

»Was wollte er?«

»Er hat sich mit Karen unterhalten. Unter vier Augen. Irgendetwas Geschäftliches, mehr weiß ich nicht. Das war etwa ein dreiviertel Jahr vor ihrem Tod. Sympathisch war er mir schon damals nicht. Er hat irgendwie so was Arrogantes. Ich weiß auch nicht.«

»Verstehe.«

»Er war mal Mutters Freund. Aber seine Freunde beklaut man nicht.«

»Wie meinst du das?«

»Er hat dieses Lied als sein eigenes ausgegeben. Es läuft ständig im Radio und ist in die Charts eingestiegen.«

»Die Lieder sind wirklich identisch?«

»Für mich gibt es keinen Zweifel. Ich habe die Noten gesehen, sie waren in ihrem Nachlass, den ich vor ein paar Tagen einsehen durfte.«

Karen, das hübsche Hippie-Mädchen, dachte ich.

Ich fragte ihn: »Hat sie sehr gelitten?«

»Sie musste schmerzstillende Medikamente nehmen. In immer höheren Dosen. Am Ende ist sie friedlich eingeschlafen.«

»Sie hat bestimmt davon erzählt, was wir damals so alles angestellt haben. Es war eine verrückte Zeit. Kiffen, lange Haare, und ständig ging es um Musik«, sagte ich.

»Wie in Christiania. Obwohl ich noch zu klein war, um das zu verstehen. Ich weiß noch, bei uns lief dauernd diese psychedelische Musik. Das meiste war grauenhaft, aber schräge Töne fand ich schon als Kind toll. Vielleicht habe ich daher meine Liebe für Jazz und solche Sachen.«

»Wie lange habt ihr in Christiania gelebt?«

»Vier oder fünf Jahre, dann sind wir nach Hamburg gezogen.«

»Und dann? Bitte entschuldige, dass ich dich regelrecht ausquetsche, aber ich weiß im Grunde nichts über das spätere Leben von Karen.«

»Meine Eltern bauten sich ein Geschäft auf. Karen entwarf eine eigene Modelinie. Es hat mit einem kleinen Laden angefangen. Heute sind es drei. Daniel, mein Vater, ist Schreiner, er hat die Inneneinrichtung übernommen und sich dann um die Buchhaltung gekümmert, Karen um das Kreative. Das hat gut funktioniert. Der Anzug, den ich trage, ist übrigens von ihr.«

»Und irgendwann wirst du das Geschäft übernehmen?«

»Nein, meine Schwester. Alice, so heißt sie. Sie ist sechs Jahre jünger als ich. Alice hat das Talent von Karen geerbt, sie schneidert auch selbst. Sie wird das Geschäft übernehmen.«

»Jetzt weiß ich aber immer noch nicht, was du machst«, sagte ich.

»Ich habe Musik studiert, Fachrichtung Komposition. Ich spiele Klavier seit meinem sechsten Lebensjahr; kurz nachdem wir von Christiania nach Hamburg gegangen sind, schickte Karen mich zum Unterricht. Heute habe ich eine eigene Band, es läuft ganz gut. Wir sind gerade dabei, unsere erste Platte aufzunehmen, in Eigenproduktion, mit Stücken von mir. Wir machen experimentelle Sachen. Damit ist es allerdings schwer, Geld im Musikgeschäft zu verdienen. Ich habe auch Theatermusiken geschrieben. Nichts Großes bislang, aber es macht sehr viel Spaß. Am liebsten würde ich nur das machen, komponieren.«

Darauf war ich nicht vorbereitet. Bilder, die in den Tiefen meines Unterbewusstseins lange verborgen schienen, zuckten jetzt wie Blitzlichter vor meinem inneren Auge auf. Erst einzelne Fetzen, dann überfluteten ganze Sequenzen meine lückenhafte Erinnerung.

Plötzlich sah ich deutlich Andi vor mir, wie er in seiner Einzimmerwohnung über dem Hot Rats am Piano sitzt und diesen Song spielt. Jenes Lied, das Mark in der Kapelle anstimmte. Und nun ein Hit ist.

In meinem Kopf begann es zu hämmern, ich fasste mir an die Schläfe.

»Was ist los? Du bist auf einmal kreidebleich!«

»Schon gut, es geht gleich wieder.«

Es entstand eine Pause.

Ich fasste mir ein Herz. »Der Song da drinnen, der, den Mark spielte. Das Stück, das überall im Radio läuft und weit oben in der Hitparade steht. Es ist Ton für Ton ...?«

»... exakt das Lied, dessen Noten ich aus dem Nachlass von Karen erhalten habe. Ja, so ist es«, antwortete er.

Das Musikfieber, das Festival und jener schicksalhafte Segeltörn rauschten an mir vorbei wie ein Film im Schnelldurchlauf.

»Dann weißt du auch, wer das Lied in Wirklichkeit komponiert hat?«

»Andi, mein leiblicher Vater.«

Er sagte es, als sei es das Normalste der Welt. Mich traf es wie ein Blitz.

»Dann ...« Weiter kam ich nicht.

»Karen und Daniel haben es mir gesagt, da war ich fünfzehn oder sechzehn Jahre alt«, sagte William.

»Das war vernünftig«, antwortete ich.

»Daniel wird für mich immer mein Vater bleiben. Von Andi weiß ich so gut wie überhaupt nichts. Wir haben noch nicht mal ein Foto von ihm.«

»Ich auch nicht. Aber sein Gesicht habe ich nicht vergessen. Wenn ich dich anschaue ... Du hast einiges von ihm«, sagte ich.

»Wie war er?«

»Hat Karen dir nichts von ihm erzählt?«

»Sie hat Tagebuch geführt«, antwortete er, »aber nur in Christiania. Darin steht, dass Andi den Song für sie komponierte und ihr die Noten schenkte. Um ein Tonband ging es auch.«

»Ja, das Tonband. Ich habe damals schon vermutet, dass Mark es an sich genommen hat. Aber ich konnte es nicht beweisen.«

 

»Dieser Typ scheint die Leute nur zu benutzen«, sagte William, »er stiehlt das geistige Eigentum eines anderen und gibt es als das seine aus. Früher Freak und heute ehrenwertes Mitglied der Gesellschaft.«

»Er war nicht immer so«, sagte ich.

»Dann erzähl mir mehr über ihn und eure Freundschaft. Wie war das in euren ach so tollen Zeiten von Krautrock und Kiff? Damit ich verstehe, was das, was damals passiert ist, mit dem Durcheinander von heute zu tun hat.«

Ja, wie war das damals?

Das Pochen in meiner Schläfe nahm an Intensität zu.

»An das meiste kann ich mich gar nicht mehr erinnern«, wehrte ich ab. Ich hatte Angst vor dem, was die alten Geschichten bei mir auslösen würden.

William schaute mich an. Er wartete, schien es ernst zu meinen.

»Ich will auch alles über Andi erfahren«, sagte er schließlich.

Womit beginnen? Wann und wie hatte alles angefangen?

Während ich noch überlegte, begann ich auch schon zu erzählen. Wie tonnenschweres Gestein löste sich der Druck, der allzu lange auf meinem Herzen gelastet hatte.

Selbst Mila wusste kaum etwas davon. Und während ich zu erzählen begann, fühlte ich mich mehr und mehr erleichtert. Mir wurde bewusst, dass ich froh war, diese Last endlich loszuwerden. Das alles zu verdrängen hatte ich lange Zeit allzu gut beherrscht und geradezu perfektioniert.

Ja, wie hatte alles angefangen? Dieser Irrsinn, der bis heute nachwirkt?

zwei Sweet Smoke

Es war heiß und trocken an jenem Samstag im Juni 1971. Die Sonne brannte erbarmungslos. Das Kaff lag wie ausgestorben da.

Die Geschäfte in der einzigen Einkaufsstraße hatten bereits geschlossen, die Bürgersteige waren gekehrt und hochgeklappt.

Mark und ich standen vor dem Eckfritz, der schlimmsten Spießerkneipe der Stadt. »Ich will das Spiel sehen«, sagte Mark.

Ich schaute ihn zweifelnd an. »Da drin?«

Er ließ nicht locker. »Es ist der einzige Laden, der eine Glotze hat. Jetzt sogar in Farbe.«

Fußball war nicht unbedingt eine Herzensangelegenheit von mir. Aber ein Pokalfinale war etwas Besonderes, da stimmte ich Mark insgeheim zu. Bayern München gegen den 1. FC Köln. Live aus dem Neckarstadion in Stuttgart.

In meinem Dachzimmer abhängen, ein bisschen Amon Düül II oder Kraftwerk hören, das hätte mir mehr Spaß gemacht. Doch dafür konnte ich Mark nicht begeistern. Für ihn war Fußball die angemessene Beschäftigung, um die Zeit bis zu dem Ereignis totzuschlagen, auf das wir seit Wochen hinfieberten und das heute Abend endlich anstand.

Er war fest entschlossen. »Ich geh da jetzt rein.«

»Wir werden gelyncht und anschließend noch geteert und gefedert«, warnte ich.

Mark schüttelte den Kopf. »Du übertreibst wie immer.«

Das Eckfritz war beliebt wegen seiner regionalen Küche und den volksnahen Preisen. Der Besitzer hieß, wie sollte es anders sein, Fritz und hatte sie alle um sich geschart, die Gartenzaunnazis und reaktionären Parolenschwinger. Bei ihm tranken sie ihr Bier, spielten Skat und verputzten »Russisch Ei«, Kartoffelsalat mit hart gekochten Eiern und Mayonnaise, ein in unserer Gegend beliebtes Schnellgericht.

Fritz war Anfang sechzig und trotz der Trommel, die er vor sich hertrug, noch gut in Form. Es hieß, er kraule jeden Morgen seine fünfzig Bahnen. Er stand einer freien Wählerliste vor, die er gegründet hatte und die es bei der nächsten Kommunalwahl in den Stadtrat schaffen wollte, um dann die Einsetzung einer Bürgerwehr durchzudrücken. Angeblich sei die Polizei notorisch unterbesetzt und könne deshalb nicht energisch genug gegen Verbrecher und ähnliches Gesindel vorgehen. So hatte er sich zumindest in einem Interview mit dem Lokalblatt geäußert.

Auf die Frage, wen er mit »Gesindel« meine, hatte er geantwortet: »All die, die die FDGO, die freiheitlich-demokratische Grundordnung, gefährden.« Mir schwante, an wen er dabei dachte, nämlich all jene, die nicht in seinen beschränkten Kleinstadthorizont passten: Langhaarige, Kiffer und Freaks, die ins Lager oder nach drüben gehörten.

»Komm endlich«, drängelte Mark.

Ich folgte ihm, wenn auch widerwillig.

Ich hätte auf mein Bauchgefühl hören sollen.

Als wir eintraten, empfing uns ein Geräuschpegel wie im Stadion. Der Fernseher dröhnte. Der Laden war proppenvoll, alle verfügbaren Stühle besetzt. Selbst im Gang zwischen Theke und Schankraum standen die Leute. Die Luft stank nach Männerschweiß, Zigaretten und Bier.

Niemand nahm Notiz von uns.

Die Glotze hing hoch über den Köpfen an der Decke in einem extra dafür konstruierten Gestell. Der 1. FC führte mit 1:0. Jetzt zeigten sie Franz Beckenbauer in Nahaufnahme. Der zog ab, und der Ball kullerte ins Netz.

»1:1! Die Bayern holen auf. Zu sehr haben die Kölner das Spiel schleifen lassen«, kommentierte der Sprecher, dessen Stimme sich fast überschlug.

Jubel im Neckarstadion. Entsetzen im Eckfritz.

Einige riefen wild durcheinander und fluchten. Andere waren von den Sitzen aufgesprungen. Am Tresen fiel ein Barhocker zu Boden. In der Stammtischecke, an der sie dicht gedrängt saßen, klirrte es verdächtig.

Ich sah mich um. Männer von vierzig an aufwärts, auch etliche Rentner, die fast immer hier hockten, als ob sie kein Zuhause mehr hätten. Eine ältere Bedienung wuselte mit einem Handbesen zwischen den Tischen, räumte Scherben weg und nahm nebenbei Bestellungen auf.

An der Theke, direkt vor uns, stand ein Trupp mürrisch dreinblickender Kerle im Blaumann.

»Vier Bier, aber dalli«, bellte der größte von ihnen. Kurzes Hemd, muskulöse, dichtbehaarte Unterarme. Seine Kumpels konnten sich kaum noch gerade halten. Das waren wohl die städtischen Arbeiter, die am Morgen vor der Tür den Bürgersteig aufgerissen, ein Loch gebuddelt und Rohre verlegt hatten. An einem Samstag zu arbeiten, war ärgerlich genug, nun geriet auch noch ihr geliebter 1. FC in Bedrängnis. Das musste runtergespült werden.

Der Blaumann mit den Muckis drehte sich in unsere Richtung und rief, dass es die gesamte Kneipe hören konnte: »Was wollen denn diese Gammler hier?« Marks Stirn legte sich in Falten. Blaumann registrierte es genau.

»Ja, dich und deinen Freund habe ich gemeint. Arbeitsscheues Pack«, sagte er, setzte das Bier an die Lippen und grinste fies.

Das Grummeln in meinem Bauch wurde stärker. Mark schaute mich an. Ich deutete mit dem Kopf zur Tür.

Besser, wir hauen sofort ab, dachte ich. Obwohl wir keine fünf Minuten in dem Laden waren und noch nicht einmal etwas zu trinken bestellt hatten.

Okay, der Kerl war besoffen, das war offensichtlich. Da wäre eigentlich Nachsicht angebracht, aber Mark konnte seine Klappe nicht halten.

»Nach der Revolution wird man Typen wie dich als Wachsfigur zur Schau stellen. Und zwar als Negativbeispiel. Schulklassen werden vorbeikommen und sagen: Guckt mal, so sahen früher Reaktionäre aus.«

Blaumann wich die Farbe aus dem Gesicht. Sein Mund verzog sich, die Zunge fuhr nervös in der Unterlippe hin und her. Er stellte sein Bier auf dem Tresen ab und baute sich bedrohlich vor uns auf.

Seine Kumpels, auf einmal wieder hellwach, lugten ihm über die Schulter, gespannt, was passieren würde.

»Mit Fremdwörtern angeben und dem Steuerzahler auf der Tasche liegen, das ist alles, was ihr könnt. Ans Fließband mit euch Haschbrüdern. Da treiben sie euch die Flausen schon aus«, keifte er.

Mark war nicht beeindruckt. »Du bist wirklich ein hervorragendes Exemplar deiner Spezies«, sagte er.

Der Muskelmann lief rot an wie das HB-Männchen. Gleich würde er an die Decke gehen. In seinen Oberarmen zuckte es gefährlich. Er holte aus.

Eine Hand schoss aus dem Nichts hervor und hielt ihn fest. »In meinem Lokal wird sich nicht geprügelt«, sagte Mr. Eckfritz.

Er klopfte Blaumann beruhigend auf die Schulter. »Nicht provozieren lassen. Trink noch ein Bier, das geht aufs Haus.«

Dann wandte er sich uns zu. »Verschwindet. Ihr habt hier nichts verloren.«

Mark bewegte sich nicht vom Fleck. »Das ist ein freies Land. Wir können Fußball gucken, wo wir wollen.«

Fritz ignorierte den Spruch und musterte mich. »Bist du nicht der Sohn von dieser SPD-Tante?«

Ich nahm meinen ganzen Mumm zusammen. »Das, was Sie im Lokalblatt von sich gegeben haben, war echt krank.«

Mit einem Ruck fuhr der Arm von Eckfritz hoch. Ob es eine Geste in Richtung Ausgang war, um uns die Tür zu weisen, oder ob er wirklich zuschlagen wollte, das war nicht eindeutig auszumachen. Sein Ellenbogen aber sauste wenige Millimeter an Marks Nase vorbei.

Der wich erschrocken zurück. »Hey, aufpassen, Dicker.«

Plötzlich war Blaumann wieder da. Mit der einen Hand packte er Mark an den Haaren, mit der anderen öffnete er die Tür. Fritz fing an, mich zu schubsen. Ich stolperte durch die offene Tür. Schließlich ließ Blaumann Mark los, und ehe wir uns versahen, standen wir wieder auf der Straße.

Ungläubig schauten wir uns an.

»Was für eine Aktion, Scheiße aber auch«, sagte ich.

»Das kotzt mich schon lange an. Ich will nicht so enden wie die Spießer da drin, die sich am Wochenende volllaufen lassen und ansonsten funktionieren wie Maschinen«, antwortete Mark.

»Du bist ja fast ein Philosoph«, frotzelte ich.

Er ging nicht darauf ein. »Ich fühle mich, wie soll ich sagen, irgendwie beschmutzt. Ich gehe jetzt nach Hause und nehme eine Dusche.«

»Die Zukunft ist die Heimat der Jugend«, erklärte ich.

»Was redest du da?« »Das ist von Jean-Paul Sartre.«

Mark war schon im Weggehen. »Drauf geschissen, Alter. In diesem Kaff gibt es keine Zukunft. Nicht für mich.«

*

Drei Stunden später saßen Mark und ich im Bus der Linie 5.

Der Vorfall im Eckfritz war vergessen. Und dass Bayern München in der Verlängerung mit 2:1 gewonnen hatte, interessierte uns auch nicht mehr. In uns brannte ein ganz anderes Feuer – Musik war das Einzige, was wirklich zählte. Darin waren Mark und ich uns einig. Die Buslinie 5 sollte uns zu Guru Guru bringen.

Das erste Konzert unseres Lebens.

Ich hatte meine besten Klamotten rausgeholt – dunkelblaue Jeans, weißes T-Shirt, braune Cordjacke. Mit einem Tropfen Patschuli hinterm Ohr fühlte ich mich großartig.

Mark hatte seine braunen, schulterlangen Haare zum Pferdeschwanz gebunden; die verwaschene Flickenjeans, ein helles, kurzärmeliges Hemd, Biker-Boots und der grüne US-Parka machten sein Outfit perfekt.

Guru Guru spielten in der Oberliga der Undergroundszene. Hinten, ihre zweite Scheibe, war vor wenigen Tagen erschienen. Das Cover zeigte einen nackten Hintern, auf den der Bandname gemalt war.

Dass Krauts auch rocken konnten, schien sich in der Welt endlich herumzusprechen. New Musical Express und Melody Maker, die es am Bahnhof und meist nur mit einer Woche Verspätung zu kaufen gab, hatten kürzlich einen mehrere Seiten umfassenden Bericht über Can, Kraftwerk und Amon Düül II gebracht. Alles Bands, die längst zu meinen Favoriten gehörten.

Die englische Musikpresse nannte es das »Krautrock«-Phänomen.

Neben Popol Vuh, Ash Ra Tempel, Tangerine Dream und Embryo gab es noch Xhol Caravan, Missus Beastly und Out of Focus. Junge Musiker, die einen völlig abgefahrenen Sound spielten, irgendwo zwischen Kiff und freier Improvisation, mit einem Schuss Dilettantismus und Naivität. Auch Floh de Cologne, Eulenspygel und Ihre Kinder mochte ich. Ihr Rock mit engagierten deutschen Texten ging unter die Haut. Auf meiner »Ganz okay«-Liste standen noch Nine Days Wonder und Gila. Im Beat-Club hatte ich den Jazzer Wolfgang Dauner mit seiner Band Et Cetera gesehen und für gut befunden. Selbst Volker Kriegels Spectrum-Platte gefiel mir.

Der Bus spuckte uns einen Häuserblock entfernt von dem Ereignis aus. Eine dreißigminütige Fahrt durch graue Vorstadtstraßen, die in der abendlichen Sonne noch trister wirkten.

Wir diskutierten, was wohl das beste Guru-Guru-Stück sei. Von ihrer ersten Scheibe mochte Mark »Stone In«, weil es nach Jimi Hendrix klang.

Ich gab dem »LSD-Marsch« den Vorzug, einem zwölfminütigen Psychedelic-Rockstück, das dich auf Trip schicken konnte.

In der Einfahrt zu einem dunklen Hinterhof brachten wir uns in Stimmung.

»Alter, nur noch ein Zug«, bettelte Mark.

»Vergiss es, da ist nichts mehr drin«, antwortete ich.

»Dir ist klar, Satti, dass ich den totalen Flattermann hab, ich brauch unbedingt den vollen Törn.«

Marks Finger der rechten Hand bildeten einen Kegel, in dessen Spitze der Joint steckte, mit der linken Pranke dichtete er alle Luftlöcher ab, dann setzte er den Mund an den Hohlraum zwischen Daumen und Zeigefinger und saugte mit aller Kraft.

 

Schwarzer Afghane. Die Mörderdröhnung.

Mein Kopf fühlte sich an wie auf Kissen gebettet, in den Kniekehlen hatten sich Ameisen eingenistet, das Blut in meinen Adern wurde dick und träge.

Marks Augen hatten sich zu Schlitzen verengt.

»Mann, Alter, bin ich stoned«, sagte er.

*

So viele Freaks auf einem Haufen hatte ich noch nie gesehen.

Das Wilhelm-Leuschner-Haus, ein schmuckloser, dreistöckiger Kasten im Fünfziger-Jahre-Nachkriegsstil, gehörte der Gewerkschaft. Ein Typ mit DGB-Sticker am Revers und Brian-Jones-Frisur knöpfte am Eingang jedem von uns einen Fünfer ab. Stempel (eine Faust, die eine Rose hielt) auf die Hand, und drin waren wir. Für den Inhalt meiner Jutetasche, in der sich das Dope befand, interessierte sich niemand. Im Großen Saal, der dem langen Arm der Arbeiterbewegung tagsüber als Versammlungsraum diente, tummelten sich gut fünfhundert Langhaarige.

Was für ein Anblick!

In Grüppchen saßen sie auf dem Boden, einige hatten Batikdecken ausgebreitet. Wer keinen Platz zum Hinhocken gefunden hatte, drückte sich den Rücken an der Wand krumm. Auf der Längsseite zur Straße hin gab es eine Fensterfront. Sie bestand aus dickem, milchigem Glas und war geschlossen, was dazu führte, dass mir die stickige Luft den Schweiß aus den Poren trieb.

Außerdem roch es nach süßem Gras. Halleluja!

Der Grund für Marks Flattermann stand am Büchertisch und schlürfte mit einem Strohhalm eine Cola. Karen war nicht allein. Neben ihr strich Andi seinen Schnurrbart glatt und redete hemmungslos auf sie ein. Bei jedem zweiten Satz klemmte er sich die fettigen Haare hinters Ohr.

Ich konnte den Typen nicht ausstehen und fragte mich erneut, was Karen an ihm fand. Es hieß, Andi besitze einen Steinway, einen gebrauchten zwar, aber immerhin eines der besten Klaviere, die es für Geld zu kaufen gab. Auf dem spielte er Jazz, erzählte man sich. Er war der Einzige, von dem ich wusste, dass er sich in Harmonielehre auskannte. Noten lesen konnte er natürlich auch. Außerdem hatte er immer die aktuellsten Platten.

Seine Belesenheit und Eloquenz kotzten mich an. Zu jedem und allem wusste er stets etwas Superschlaues zu sagen. Für mich war er einfach nur ein intellektueller Angeber.

John Coltrane, der Saxophonist, und Theodor W. Adorno, der Philosoph, hatten es ihm besonders angetan. Obwohl die gar nicht zusammenpassten. Adorno hatte Jazz gehasst.

»Dieser Blödmann ist auch hier«, grummelte Mark.

»Du bist bloß eifersüchtig«, entgegnete ich. »Lass uns mal hallo sagen.«

Karen winkte, sie hatte uns bereits entdeckt. »Hey, Mark, hey, Satti, ich bin vielleicht aufgeregt. Das wird ein tolles Konzert«, sagte sie und lachte. Karen hatte ein besonderes Lachen, leicht und zwitschernd. Man hörte es überall heraus.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste mich links und rechts auf die Wange. Sie sah umwerfend aus in den selbstgeschneiderten kirschroten Satinhosen mit dem weiten Schlag und der Bluse mit dem Paisley-Muster. Um den Hals hingen ihr drei riesige Perlenketten. Natürlich waren die nicht echt, aber an Karen sahen sie klasse aus. Um die Hüfte hatte sie sich ein Tuch aus schwarzer Seide gebunden. Ihre Füße steckten in chinesischen Stoffslippern. Die mit Henna gefärbten Haare waren sorgfältig hochgesteckt und wurden von einer Lederspange gehalten.

Das hatte irgendwie Stil. Ja, genau, den hatte es. Karen verband das Aussehen von Uschi Obermaier mit dem Klamottenfimmel von Janis Joplin. Sie war ein Hippie-Mädchen wie aus dem Bilderbuch.

Andi fingerte eine Packung filterlose Gauloises aus dem Inneren seines Jacketts. Dieses Teil, mit Lederflicken an den Ellbogen, war seine Standardjacke, dazu ein zerknittertes Karohemd, ausgebeulte Cordhosen und hohe Turnschuhe. So lief er immer herum, egal bei welcher Gelegenheit.

Ich warf erst einmal einen Blick auf den opulent bestückten Büchertisch.

In der Literaturecke gab es Grass, Böll und Borchert. Die Philosophie war vertreten mit Bloch, Horkheimer und Marcuse. In der Psychoabteilung lagen Wilhelm Reich und Ronald D. Laing aus. Die Systemkritik fehlte auch nicht, hier standen Lenin und Marx einträchtig neben Bakunin. Dann ein nicht zu übersehender Stapel des kleinen roten Buches mit den Sprüchen des großen chinesischen Vorsitzenden.

Wenn der Vorsitzende des örtlichen DGB-Verbandes Wind davon bekäme, dass hier die Mao-Bibel verkauft wurde, aber keine einzige Gewerkschaftsbroschüre auslag, würde er mit Sicherheit Stress machen. Lief der bärtige Bücherfreak vielleicht deshalb so nervös auf und ab?

Wahrscheinlicher war, dass er Schiss hatte, seine Ware, die zum Umsturz des Systems aufrief, könnte geklaut werden.

Aber was war denn das? Links neben dem Tisch hockte ein Freak im Schneidersitz auf dem Boden. Er sah aus wie ein Waldschrat mit seiner zotteligen Rotschopfmähne und dem wild wuchernden Bart, der ihm bis zur Brust ging. Vor ihm ausgebreitet auf einem Tuch die tollsten Kifferutensilien. Da lagen sie, die Chillums, Kawumms und Purpfeifchen, aus Holz und Sandstein und mit allerlei Verzierungen. Beste Handarbeit. Auch Räucherstäbchen in den verschiedensten Duftnoten hatte er im Angebot sowie kleine Flaschen mit Moschusöl und Rosenwasser. Und jene Hemden, wie er selbst eines trug, ohne Kragen, die am Hals mit einer Art Bindfaden zugezogen wurden. Das war der neueste Hippie-Schick. Wie Carlos Castanedas Buch Die Lehren des Don Juan, das er ebenfalls feilbot.

Auf dem Büchertisch leuchtete mir in großen roten Lettern vor knallgelbem Hintergrund das Wort ACID entgegen. Ich nahm das Buch mit dem psychedelisch anmutenden Umschlag in die Hand.

»Das ist eine Sammlung amerikanischer Undergroundliteratur«, sagte Andi. »Die ist zwar schon zwei Jahre alt, sollte man aber gelesen haben.«

Er deutete auf meine Jutetasche. »Aber wem sage ich das, du trägst bestimmt wieder eine halbe Bibliothek mit dir herum?«

Ich hatte Jean-Paul Sartre und Albert Camus dabei. Die französischen Existenzialisten fand ich hochinteressant. Wie immer hatte ich auch ein Fremdwörterlexikon und mein fast vollgeschriebenes Notizheft eingesteckt. Das Lexikon war eine wichtige Informationsquelle. Im Notizheft hielt ich meine Gedanken fest, wo immer sich die Gelegenheit ergab. Schreiben, das machte mir Spaß, das war mein Ding.

Andi war anscheinend in der richtigen Stimmung für eine kleine intellektuelle Auseinandersetzung. Bitte, kannst du haben, dachte ich.

»Jeder ist für sein Handeln selbst verantwortlich. Das bedeutet, dass der Mensch das ist, was er tut, was er aus sich macht«, sagte ich.

»Hört, hört, der Herr Bildungsbürger zitiert Sartre. Bravo, kann ich da nur sagen. Aber die Zeit der Existenzialisten ist längst vorbei«, knurrte Andi abfällig. Mit der einen Hand zwirbelte er am Schnurrbart, mit der anderen klemmte er sich die Haare hinters Ohr.

»Existenzialismus ist keine Mode, sondern eine Lebenseinstellung. Ein Existenzialist ist einer, der für den Augenblick lebt«, gab ich lapidar zurück.

Sartre. Der Philosoph der Straße, der Cafés, Clubs und Bars. Der hatte den Mumm, von der Revolution zu schreiben und den Nobelpreis abzulehnen. Adorno dagegen war akademisches Hirnschwitzen, theoretisches Wolkenkuckucksheim. Ihn zu lesen, verursachte mir regelrechte Pein.

»Was machst du eigentlich hier, Andi?«, fragte Mark, der sich nun zu uns gesellt hatte. »Was wir heute zu hören bekommen, ist doch unter deinem Niveau.«

»Falls du es noch nicht weißt: Der Trommler von Guru Guru war mal ein Jazzer, bevor er zum Rock konvertierte.« In Andis Antwort schwang eine Überheblichkeit mit, die jemand entwickelt, der glaubt, alles zu wissen.

Mani Neumeier, der Schlagzeuger von Guru Guru, hatte mit der Schweizer Pianistin Irène Schweizer vor einigen Jahren frei improvisierte Musik gespielt. Das war Schnee von gestern und mir längst bekannt.

Karen schien die schlechten Schwingungen zu spüren. Sie war nicht nur ein attraktives, sondern dazu noch ein ungemein einfühlsames und harmoniesüchtiges Mädchen.