Trips & Träume

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»Verbieten, ins Rats zu gehen? Deswegen musst du nicht gleich abhauen. Verbote sind dazu da, umgangen zu werden«, sagte ich, um den Faden wiederaufzunehmen.

»Du weißt, wie gern ich schneidere. Ich will auch Schmuck entwerfen. Ich habe da schon ein paar Ideen. Ich will das mit anderen zusammen machen, wie in einer großen Familie. Der eine kann tischlern, der andere den Abfluss reparieren. So stelle ich mir eine Kommune vor, wie eine Gemeinschaft, in die jeder das einbringt, was er am besten kann. Ich will mir etwas Eigenes aufbauen, nicht das, was meine Eltern sich für mich ausgedacht haben.«

»Ich dachte immer, in Kommunen geht es nur um Kiffen und Ficken.«

»Plapper du bitte nicht auch den Scheiß von Sonny und Moses nach. Ich bin kein dummes Hippie-Girl. Auch wenn du versuchst, mich so hinzustellen.« Karen strich sich demonstrativ die Haare aus dem Gesicht, eine Geste, die ihren Worten den nötigen Nachdruck verleihen sollte.

»Derzeit entstehen ganz viele dieser Projekte. Hast du schon mal was von Summerhill gehört?«, fragte sie.

»Sagt mir nichts.«

Kannte ich wirklich nicht. Klang wie Ferienlager.

»Das ist eine Schule in England. Nur dass die Kinder dort selbst bestimmen dürfen, was sie lernen wollen. Und wenn sie mal keine Lust haben auf Unterricht, dann wird halt nichts gemacht. Antiautoritäre Erziehung nennt man das.«

»Was soll denn das sein?«

»Du und dein Sartre, ihr seid doch Verfechter eines nicht entfremdeten Lebens, oder wie das heißt. Um dich herum passiert so viel. Sieh dir nur das Musikfieber an, das bei uns grassiert. Das ist auch ein Versuch, der Monotonie und dem Stumpfsinn zu entkommen.«

Das war absolut richtig. Um eine andere, bessere Gesellschaft zu schaffen, musste man irgendwann damit anfangen. Am besten jetzt. Ja, das Musikfieber konnte sich zu einem Aufstand gegen die Spießer entwickeln.

Ich zündete mir eine Selbstgedrehte an. Ich drehte mir immer fünf, sechs Kippen vor und packte sie in den Beutel.

Der Geruch der Kippe brachte sie auf einen anderen Gedanken.

»Ich könnte jetzt einen Joint vertragen«, sagte sie.

»Also doch Hippie-Girl.«

Karen lachte. »Und du, du bist ein Möchtegern-Existenzialist.«

Wenn Andi das gesagt hätte, hätte ich angefangen zu diskutieren. Doch ihr verzieh ich. Sie war wieder gut gelaunt. Der Ärger verraucht.

»Okay, viel Glück mit deiner Kommune. Aber was ist mit Andi?«

»Was soll mit dem sein?«

»Meinst du, ich bin blind? Wie du mit ihm abhängst, könnte man meinen, da läuft was.«

»Da ist nichts. Wir sind Freunde, das ist alles.«

»Dann also Mark mit seinen Schlagzeugermuckis?«

»Hör auf damit, ich will weder über den einen noch den anderen reden, okay?«, sagte sie. »Obwohl ...«

»Du lässt dir wirklich alles aus der Nase ziehen.«

»Mein Traum wäre perfekt, wenn wir alle gemeinsam in einer Kommune leben könnten. Du, Mark, Andi und ich, vielleicht auch noch Don. Das wäre toll«, sagte Karen nachdenklich.

»Das wird nicht funktionieren, weil zwei von denen, die du genannt hast, gern was mit dir hätten. Ich sag doch, es geht nur um Sex in so einer Kommune«, feixte ich.

Karen schaute zum Rats hinüber. Mein Blick folgte ihrem. In der Wohnung darüber war das Licht angegangen. Die beiden Fenster hatten keine Gardinen, doch es war niemand zu sehen.

Karen stupste mich an. »Andi ist zu Hause.«

Seit drei Monaten wohnte er in dieser Einzimmerwohnung. Woher er die Kohle hatte, war mir schleierhaft. Er hatte ja keinen Job. Von dem bisschen Auflegen im Rats mal abgesehen.

»Lass uns rübergehen, Musik hören und quatschen. Vielleicht kriegst du da auch ein Pflaster für deinen Arm. Andi ist nicht so, wie du denkst, man kann sich toll mit ihm unterhalten.«

Das war die Gelegenheit. Ich war neugierig, nun konnte ich selbst sehen, ob Andi wirklich ein Klavier in seiner Bude stehen hatte, wie man sich erzählte. Mal einen Blick riskieren, wie er hauste. Was aber, wenn der Sack wieder arrogant tat? Egal, wenn Karen dabei war, würde er nicht so auf die Kacke hauen. Und auf den Mund gefallen war ich schließlich auch nicht.

*

Irgendwie hatte ich erwartet, ein Siffloch vorzufinden.

Warum? Weil Freaks es nun mal nicht so mit der Ordnung haben. Die Jungs vom Hausboot kümmerten sich nicht um Abwasch und solche Dinge. Wenn es hoch kam, machten sie einmal im Monat sauber.

Karen hatte mir davon erzählt, da sie öfter bei Hucky, Jule und Werner abhing. Man stolpere, so wusste sie zu berichten, bei ihnen ständig über Socken, Schuhe, Hosen und Plattencover.

Ich war auch nicht viel besser. Auguste ermahnte mich manchmal. Dann sauste ich mit dem Staubsauger kurz durchs Zimmer. Das musste reichen.

Andi dagegen hatte Geschmack und Stil.

Nach dem dritten Klingeln summte der Öffner. Als Karen und ich im ersten Stock ankamen, stand die Wohnungstür einen Spalt offen.

Karen ging voraus, als sei sie hier zu Hause.

In der kleinen Küche blinkten Herd, Spüle und Hängeschrank wie in der Werbung. Von schmutzigen Tassen und Tellern keine Spur. Am Fenster stand ein Bistrotisch mit zwei Klappstühlen davor. In einer Vase steckten Blumen. Durch einen schmalen Flur, in dem Porträts von Rosa Luxemburg und Samuel Beckett die Wand säumten (sogar richtig eingerahmt), ging es am Badezimmer vorbei geradewegs ins große Zimmer, das Andi als Schlaf-, Wohn- und Arbeitsstätte diente.

In der Mitte des rechteckigen Raumes thronte das Klavier. Andi saß auf dem Schemel davor und hielt einen Stapel Noten in der Hand.

Es war kein Steinway. Ganz deutlich war der Schriftzug Schimmel zu erkennen. Siehst du, kein Steinway, dachte ich, man darf der Gerüchteküche nicht trauen. Aber immerhin. Selbst dieses Teil bekam man gebraucht nicht für unter fünf Riesen.

Das musste ich ihm lassen. Er war der Einzige der Szene, der eine eigene Wohnung, ein Auto und ein tolles Instrument besaß.

Andi musste einen Mäzen haben.

Er konnte Gedanken lesen. »Ich habe nach dem Tod meines Vaters geerbt«, sagte er zur Begrüßung. Ich fühlte mich ertappt und sagte nichts, schaute mich nur weiter im Zimmer um.

Das Bett bestand aus einer Matratze, durch einen Vorhang vom Rest des Zimmers abgeschirmt. Daneben ein kleines Bücherregal, in das ich einen Blick wagte. Adorno, Marcuse, Horkheimer, Mandel und Lukács. Frankfurter Schule und ihre verwandten Geister. Dann Ionesco, absurdes Theater oder wie man das nannte, und viel Musiktheorie. Den Prozeß von Kafka entdeckte ich. Und ein paar Filmbücher. Über Truffaut und Hitchcock. Ich war beeindruckt, Andi war in viele Richtungen interessiert.

Es gab kein Sofa, keinen Sessel. Dafür lagen zwei größere Sitzkissen bereit, die total angesagt waren, aus Nappaleder und mit Styroporstückchen gefüllt. Ich schnappte mir eines der federleichten Teile und ließ mich in der Nähe des Klaviers nieder. In einer Ecke des Zimmers wuchs eine Palme bis unter die Decke. Einen Fernseher konnte ich nicht entdecken. Die Einrichtung war schlicht und hatte Atmosphäre.

Mit der Selbstverständlichkeit, die nur jemand haben konnte, der sich in diesem Raum auskannte, nahm Karen sich ebenfalls ein Kissen und pflanzte sich neben mich. Ich stellte mir vor, wie sie mit Andi auf dem Bett lag – und was Mark dazu sagen würde.

Der Plattenspieler, ein Dual, stand auf einer kleinen Kommode, darüber ein Foto von Adorno, dem Minima-Moralia-Philosophen.

Meine Neugier war noch nicht gestillt.

In einer Kiste neben der Kommode waren Andis Platten verstaut. Ich ging hin und wühlte darin. Die Sammlung kam daher wie das Nonplusultra des Jazz. Thelonious Monk, Herbie Hancock, Eric Dolphy, Charles Mingus, Miles Davis, Pharoah Sanders, Archie Shepp, aber auch avantgardistische Sachen von Anthony Braxton, Sun Ra und Ornette Coleman.

Aus der englischen Szene hatte er Platten von Ian Carrs Nucleus und Chris McGregors Brotherhood of Breath. Die Klassikabteilung war mit Karajan-Einspielungen von Mahler, Brahms und Tschaikowsky vertreten. Außerdem gab es Boulez, Schönberg, Cage, Kagel und Stockhausen. Und dann dieses elektrische Jazz-Zeug: Weather Report, John McLaughlin, Larry Coryell und Tony Williams Lifetime. Das Neueste vom Neuesten. Andi war das, was man, das hatte ich bei Jack Kerouac gelesen, einen Hipster nannte.

Aus den Boxen, die diagonal im Raum platziert waren, kam ein Sound, der wie ein Auffahrunfall auf der New Yorker Fifth Avenue klang. Die Bläsersätze gingen drunter und drüber, eine schräge und freie Improvisation von der allerfeinsten Sorte. Eine Frau sang: Take away everything that we own / We can even live without a home / Have all the money, if that is your goal / But you’ll never touch our soul.

»Abgefahren, was ist das?«, fragte ich.

»Centipede, ein Projekt um den britischen Pianisten Keith Tippett. Die Stimme, die du hörst, ist die von Julie Driscoll.«

»Du meinst die Driscoll, die bei The Trinity, der Band von Brian Auger, gesungen hat?«

»Nur dass sie jetzt nicht mehr Driscoll heißt, sie hat Keith Tippett geheiratet.«

Auf dem betont schlichten weißen Klappcover stand lediglich der Titel Septober Energy. Im Innenteil ein Foto der Band. Fast fünfzig Musiker. Ich las die Namen. Sagenhaft, da war die Crème der englischen Jazz-, Rock- und Avantgarde-Szene vertreten: Robert Wyatt, Evan Parker, Louis Moholo und wie sie alle hießen. »Produziert von Robert Fripp«, las ich laut vor.

»Was der bei King Crimson macht, gefällt mir überhaupt nicht.« Andis Ton klang missbilligend. Außer Jazz war ihm nichts gut genug.

Karen schaute auf. »Könnt ihr mal mit eurer Fachsimpelei aufhören, das langweilt. Andi, komponierst du derzeit was?«

 

Er drehte sich auf dem Schemel in ihre Richtung und lächelte. »Ich habe da eine kleine Melodie, nichts Besonderes, ich arbeite noch dran. Ich hoffe, ich kriege es bis zum Festival hin.«

Mit einem Mal war ich gespannt. »Komm, lass mal hören.«

Er klemmte sich die Haare hinters Ohr. »Es ist noch nicht so, wie ich es mir vorstelle. Es ist noch nicht ... perfekt.«

Ich guckte Andi ratlos an. »Was ist schon perfekt? Das gibt es doch gar nicht, die perfekte Musik, das perfekte Kunstwerk.«

Er schloss die Augen. »Hör dir A Love Supreme an. John Coltrane ist perfekt. Als Instrumentalist und als Komponist. Dahin möchte ich kommen, einmal so etwas zu schreiben.«

Karen bettelte. »Warum spielst du nicht diese kleine Melodie?«

»Der Song ist noch nicht ausgereift«, antwortete er bestimmt.

»Bitte, dann halt nur das, was du bist jetzt hast«, sagte Karen.

Das wirkte.

Andi klappte den Deckel des Klaviers auf. »Ihr müsst mir versprechen, niemandem davon zu erzählen. Zumindest bis zum Festival.«

Karen und ich erhoben uns von unseren Plätzen und stellten uns links und rechts neben dem Piano auf. Wenn er wirklich eine eigene Komposition hatte, dann wollte ich nie mehr ein schlechtes Wort über ihn verlieren.

Andi setzte an und kam nur drei Noten weit.

Ein schriller Dauerton kreischte durch die Wohnung. Entweder hatte die Klingel einen Defekt, oder jemand klebte mit dem Daumen dran.

Das musste ein Verrückter sein, der so um Einlass verlangte.

Karen und ich schauten uns erschrocken an.

Andi erhob sich und schlurfte zur Tür.

Zwei Minuten später stand Don im Zimmer. Er kam immer dann, wenn es keiner erwartete.

Er atmete hektisch, als sei er gerannt.

»Euch habe ich überall gesucht«, stieß er hervor. Als er wieder Luft bekam, hörte es sich an wie ein asthmatisches Pfeifen.

»Komm wieder runter. Was gibt es denn?«, fragte ich.

»Wo ist mein Mofa?«

»Sorry, ich habe ich mich hier festgequatscht«, antwortete ich.

»Okay.«

»Nun sag schon«, drängte Karen.

»Habt ihr es nicht in der Tagesschau gesehen?«, fragte er.

Andi schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Glotze.«

»Jim Morrison ist tot.«

Don sagte es, als sei der Sänger der Doors ein enger Verwandter.

Für die nächsten Sekunden passierte nichts.

Aber es gab jemanden in dieser stilvoll abgehangenen Musikantenbude, den diese Nachricht wirklich umhauen würde.

Jim Morrison, der Rock-Superstar, der Traum heißer Mädchenphantasien, Coverboy beim Rolling Stone, der Kritikerliebling, der zurzeit in Paris eine Pause vom Musikgeschäft einlegte und Gedichte schrieb, war tot.

Die Hippies hatten ihren letzten Helden verloren.

Karen hatte das Fenster geöffnet und starrte hinaus.

Dann hallte ihr Schrei durch die Nacht.

vier Atom Heart Mother

In jeder Band sollte es jemanden geben, der das Sagen hat, der alles in die Hand nimmt und die Richtung vorgibt. Jede Band braucht einen Chef.

Bei Dreamlight war das Mark. Leider konnte Mark manchmal ein rechter Kotzbrocken sein.

»So werdet ihr nie Rockstars. Ihr müsst euch mehr anstrengen«, schimpfte er. »Gebt alles, was ihr draufhabt!«

Mit verächtlicher Miene warf er die Trommelstöcke in die Ecke. Sie probten seit zwei Stunden, und bislang war nur Mist herausgekommen.

Er legte ein Arbeitstempo vor, bei dem die anderen nicht mithalten konnten. Natürlich hatte er seine Hausaufgaben gemacht. Er kloppte den Beat in die Felle, dass es eine Freude war. Hi-Hat, Standtom, Bassdrum, Hängetom und Becken wurden vom Meister virtuos bearbeitet.

Skip war noch nicht so weit. Zum x-ten Mal verpatzte er seinen Einsatz. Paul hinkte ebenfalls hinterher, er schaffte es nicht, sein Gitarrenriff fehlerfrei über die Runden zu bringen. Gero orgelte entnervt vor sich hin.

Warum sie sich auch an einem Monstertrack wie »Atom Heart Mother« von Pink Floyd ausprobieren mussten, war mir ein Rätsel. Das Stück war mehrere Nummern zu groß für sie, es überstieg ihre Möglichkeiten. Bei ihnen klang es verschrobener als jede Art von Space-Rock, die ich kannte. Selbst Ash Ra Tempel hätten gekotzt.

Mark hatte recht, sie mussten alles geben, regelrecht über sich hinauswachsen, sonst würde der Auftritt auf dem Festival ein Desaster werden. Aber dass er seinem Frust freien Lauf ließ, war auch keine Lösung.

Es brachte nur schlechte Schwingungen ins Spiel. Wie nicht anders zu erwarten, war die Stimmung am Boden. Skip stierte stumm in eine Ecke, Paul kämpfte mit seiner Wut. Und Gero verdrehte entnervt die Augen.

Ein Motivationsschub musste her. »Dafür, dass es eure erste Probe ist, klang es gar nicht so schlecht«, sagte ich.

Mark winkte ab. »Du hast doch keine Ahnung.«

Ich verstand genau, wie er das meinte. Es ist meine Band. Und du hältst dich da gefälligst raus, sollte das heißen.

»Wir müssen uns nicht ans Original halten. Wir spielen unsere eigene Version. Das nennt man künstlerische Freiheit«, versuchte Skip abzuwiegeln.

Paul schickte böse Blicke in Richtung seines Drummers. »Ich habe dein Gemecker satt. Verdammt, nie passt dir etwas, an allem hast du was auszusetzen. Kannst ja mal bei Bill Bruford anfragen, vielleicht lässt er dich die Becken putzen.« Der Yes-Schlagzeuger war Marks Lieblingstrommler.

»Hör einfach auf, wie ein Neandertaler auf deiner Gitarre die Akkorde zu schrubben. Bereite dich besser vor, dann kannst du auch dein Zeugs richtig spielen«, konterte Mark, ohne Paul anzuschauen.

Dann knöpfte er sich Skip vor. »Ich sehe es an deinen Augen, du bist zugeknallt bis unter den Haaransatz. Wir hatten doch verabredet, dass wir auf der Probe ungedopt auftauchen?«

Skip hatte eine Anordnung des Chefs missachtet und begann sich um Kopf und Kragen zu reden. »Mann, das verstehst du nicht. Ich spüre dann die Musik intensiver. Ich entwickle irgendwie ein besseres Gefühl. Meine Finger flutschen wie von selbst über die Saiten.«

Seit Drogen in die Musik Einzug gehalten hatten, und das musste schon in der Steinzeit passiert sein, experimentierten Künstler damit, unter allerlei chemischen und natürlichen Rauschmitteln tolle Werke hinzubekommen. Über das Ergebnis wurde heftig gestritten, und eine abschließende Meinung gab es nicht. Für eine bestimmte Phase der künstlerischen Entwicklung konnte es gutgehen, neue Horizonte schienen sich zu eröffnen.

Charlie Parker, der frühverstorbene Bebop-Pionier, war die letzten Jahre seines Lebens auf Heroin. Ganz Schlaue meinten, da hätte er besonders gut gespielt. Aber war das nicht letztlich eine Beleidigung von Parkers Können, so etwas zu behaupten? Mit oder ohne Drogen, Parker blies das Altsax auf einem atemberaubend hohen Niveau.

Über Miles Davis, den Trompeter, hatte ich kürzlich gelesen, dass er seine Drogensucht überwunden habe. Mit oder ohne Drogen, Davis’ Werk gehörte zum Besten im Jazz.

Mal davon abgesehen, dass mein geliebter Krautrock durch und durch drogengeschwängert daherkam, gab es jede Menge Songs über Drogen: »White Rabbit« von Jefferson Airplane, »Purple Haze« von Jimi Hendrix, »Cold Turkey« von der Plastic Ono Band, »Heroin« von Velvet Underground, um nur die zu nennen, die mir spontan einfielen. Selbst die Small Faces hatten ihren Drogensong mit »Here Come the Nice«. Fats Waller, der dicke Jazz-Pianist, huldigte einst mit »The Reefer Song« dem guten alten Gras.

Mark und seine Jungs hatten ganz andere Sorgen. Sie mussten erst mal überhaupt einen Song hinbekommen.

Zum Glück hatten sie Gero. Er war jemand, der für Ausgleich sorgte.

Gero war bei Dreamlight der ruhende Pol. »Beruhigt euch. Lasst es uns einfach noch mal probieren. Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut.«

Ich klinkte mich aus, wollte ihren Streitereien nicht mehr folgen und schaute mich im Proberaum um. Die Wände des Kellers waren tatsächlich mit Eierkartons zugepappt, die nackte Glühbirne war verschwunden, dafür hing an der Decke eine Baulampe. Der Boden war mit Teppichen ausgelegt.

Irgendwie gemütlich.

Mark hatte sich mit seinem Schlagzeug an der Längsseite des Kellers, genau in der Mitte der Wand, aufgebaut. Trat man durch die schwere Eisentür, blickte man zuerst auf ihn.

An der Stirnseite stand ein Sofa vom Sperrmüll. Dort saß ich und machte mir Notizen. Jemand vom großen Regionalblatt, das auch ein Büro in unserem Kaff unterhielt, hatte meinen Artikel in Das Auge gelesen. Don stand im Impressum, also wurde er angerufen, und man erkundigte sich nach dem Autor von Rock Power gegen grauen Spießermief.

Jetzt sollte ich etwas »Seriöses« über die junge Musikszene in der Stadt schreiben. Mein erster Auftrag für eine richtige Zeitung. Zweihunderttausend verkaufte Exemplare. Dagegen konnte Das Auge mit seiner Fünfhunderter-Auflage nicht anstinken.

Ich war die Verhandlungen wie ein Profi angegangen.

Der Typ am Telefon stellte sich mit Schirmer vor und entpuppte sich als Leiter der Lokalausgabe. Klar, sagte er, Honorar würde es geben, er brauche sechzig Zeilen zu je dreiunddreißig Anschlägen, und zwar bis Montag, und weil ich mich anscheinend auskenne, würde er mir fünfzig Pfennig pro Zeile geben. Das mache dreißig Mäuse für den Artikel, mehr sei nicht drin. Für Anfänger gebe es sonst nur die Hälfte. Er käme mir da schon sehr entgegen.

»Fünfzig Mark«, sagte ich dem Honorarfuchs.

Ich merkte, wie Schirmer am anderen Ende der Leitung schluckte, doch dann willigte er ein. Anscheinend wollte er den Artikel wirklich. Jetzt habe ich mich an die bürgerliche Presse verkauft, dachte ich.

Ich guckte mich weiter im Proberaum um. Das Equipment von Dreamlight konnte sich wirklich sehen lassen.

Pauls Ausrüstung bestand aus zwei Boxen, die er übereinandergestellt hatte. Obendrauf thronte ein 100-Watt-Verstärker von Dynacord, dessen Mastervolumen er auf acht gedreht hatte. Sein Gitarrenturm überragte ihn um zwei Kopflängen. Er musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um an die Regler zu kommen. Die Ibanez-Gitarre war eingestöpselt in Verzerrer, Wah-Wah-Pedal und Phaser. Die Effektgeräte lagen fein säuberlich aufgereiht vor ihm auf dem Boden. Es waren batteriebetriebene Dinger von der Größe eines Schuhkartons. In Musikerkreisen wurden sie Tretminen genannt. Und zwar deshalb, weil die Herren Gitarristen auf die Teile treten mussten, um die Effekte, die sie produzierten, mit einem Klack einzuschalten.

Das Wah-Wah war nur ein Pedal. Aber eines, das es in sich hatte. Wenn man den Fuß darauf stellte, es nach unten bewegte und gleichzeitig auch noch eine Saite anschlug, entstand tatsächlich ein Klang, der sich anhörte wie eine menschliche Stimme, die »wah-wah« macht. Alle großen Gitarristen benutzten es. Hendrix hatte damit »All Along the Watchtower« eingespielt. Dann der Verzerrer. Er erlaubte es, bereits bei niedriger Lautstärke die Gitarre kontrolliert zum Röhren zu bringen. Der Phaser schließlich brachte die Töne zum Schweben. Steve Howe von Yes, Pauls großes Vorbild, arbeitete mit diesem Effekt. Dass Paul diese Tretminen besaß, hieß nicht, dass er mit ihnen umzugehen verstand. Wenn er auf die Effekte drückte, dröhnte es zwar mächtig wie ein Düsenjäger, es fiepte und jaulte, aber nicht wie bei Hendrix oder Steve Howe, sondern es klang eher wie das Grunzen und Japsen von Schweinen, die gerade abgeschlachtet wurden.

Skip verwendete einen 70-Watt-Bassking-Verstärker, ebenfalls von Dynacord. Der stand auf einer Dynacord-D-50-Box, die ihm bis zur Hüfte ging. Die Teile blitzten und blinkten wie ein Neuwagen. Selbst die verchromten Stoßecken der Box hatte er spiegelblank gewienert. Sein ganzer Stolz war der Framus-Bass. Den putzte er mit einem Staubtuch. Angeblich würde das Jack Bruce, Skips große Inspiration, auch so machen. Nur dass Skip nicht annähernd so spielen konnte wie sein Idol. Dafür hatte er ein besonderes Posing drauf. Beim Bassspielen spitzte er die Lippen, als wolle er jemanden küssen, dann neigte er sich wie ein Tänzer an der Ballettstange leicht zur Seite und ließ die Finger über die Saiten gleiten, als liebkose er den Hals einer Frau.

Gero war der nüchterne Typ. Er rückte seine Brille zurecht und kramte irgendwelche Zettel aus einer alten Kladde, die er auf die Farfisa legte. Jene Orgel, die vor wenigen Tagen noch im Wohnzimmer seiner Eltern gestanden hatte. Es war ein feines Instrument, nicht ganz so imposant wie die berühmte Hammond, auf der sein Idol Keith Emerson brillierte. Gero spielte über einen Echolette-Koffer. Das Ding war Verstärker und Box in einem.

 

Gero war für Mark, der sich wieder hinter seine Schießbude begeben hatte, unerlässlich. Gero besaß die Ruhe, die Mark fehlte. Das Goldlöckchen hatte bei »Atom Heart Mother« in nächtelanger Arbeit die Bass- und Gitarrenläufe herausgehört. Ach ja, hätte ich beinahe vergessen. Und er setzte ein Leslie ein, natürlich nicht das teure Original, sondern einen Nachbau. Das war eine Box, in der sich ein kleiner Lautsprecher drehte. Wenn er die richtige Geschwindigkeit erreicht hatte, kam dieses Wummern zustande, das die Orgel rocken und rollen ließ.

Wimmernde Gitarrenklänge rissen mich aus meinen Gedanken. Die Probe ging weiter. Mark und die Jungs rauften sich noch einmal zusammen.

Neben mir auf dem Sofa hockte Don und bohrte mit sturem Blick Löcher in die Decke. Er hatte die ganze Zeit über noch kein Wort gesagt. Müde sah er aus, tiefe Ränder unter den Augen. Seine Haare waren zersaust, als sei er gerade aus dem Bett gefallen. Außerdem waren sie längere Zeit nicht geschnitten worden, sie reichten schon über die Ohren. Der Flaum eines Fünftagebartes machte sich auf seinem Gesicht breit.

Das passte nicht zu ihm. Ich brachte es nicht zusammen. Don war der typische Musterknabe, der seinen Eltern alle Ehre machte. Er war darauf bedacht, ein vollwertiges Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, also der Spießerwelt, zu sein. Während seiner Zeit als Schulsprecher hatte er der Jungen Union angehört. Seine Jeans hatte Bügelfalten und war farblich auf das hellblaue Hemd abgestimmt. Dazu trug er ein Kaufhof-Jackett und schicke braune Lederschuhe. Seine Eltern besaßen einen Schreibwarenladen, gingen sonntags zum Hochamt, sein Vater saß im Vorstand der örtlichen CDU.

Unter all den Freaks, Kiffern und Szenefiguren war Don der Angepasste geblieben, ein Vertreter des Establishments. Damit gab er oft genug den Buhmann ab, auf den die Freaks wunderbar ihren Hass aufs Schweinesystem abladen konnten. Seit dem Auftritt im Rats aber, als er die Flugblätter anbrachte, die ich ihm unabsichtlich aus der Hand geschlagen hatte, hatte sich die Wahrnehmung gewandelt. Er wurde in der Szene plötzlich respektiert. Und nun sah er selbst fast wie ein Freak aus.

»Du wirkst so verändert, was ist los?«, fragte ich.

Er ging hoch wie eine Rakete. »Ich bin total angepisst! Ich habe mir den Arsch aufgerissen! Und wofür das alles? Noch nicht mal ein Danke habe ich bekommen!«

Was war denn mit dem passiert?

Der Impresariojob musste ihn ja ganz schön mitnehmen.

»Manager haben immer die Arschkarte«, sagte ich.

Er lief hochrot an. »Jetzt gib mal schön acht, Knallkopf. Plakate drucken, Anzeigen schalten und Flugzettel herstellen, du glaubst doch nicht, dass das alles kostenlos vom Himmel fällt. Und dann habe ich den Heinis da, die nichts auf die Reihe kriegen, auch noch eine anständige Anlage besorgt. Das habe ich aber nicht gemacht, damit die hier so einen Schrott abliefern.«

»Bis zum Festival hat Mark sie so weit, was erwartest du? Sie spielen heute das erste Mal zusammen. Sie fangen gerade erst an, vergiss das nicht«, warf ich ein. »Scheiße, bis dahin bin ich pleite. Ich kann seit Tagen nicht mehr richtig schlafen. Ich habe eine Firma gegründet, das Geschäft muss laufen, aber im Moment habe ich nur Ausgaben, nichts als Ausgaben, die Arbeit wächst mir über den Kopf«, sagte er. Es klang verzweifelt.

Ich schaute ihn verdutzt an.

Anscheinend setzte er sich selbst mächtig unter Druck. Er wollte es allen beweisen; seinen Eltern, den Freaks, ja der ganzen Welt wollte er zeigen, dass er es draufhatte.

Er hielt meinem Blick stand. »Hast du schon mal von einem Typen gehört, den sie Pop-Fürst nennen?«

»Und ob!«, entfuhr es mir.

Pop-Fürst – die Musikpresse hatte ihn so getauft – war der Chef von zwei Plattenfirmen. Es waren nicht irgendwelche, nein, es waren die wichtigsten Labels, die es derzeit im Rock-Underground gab. Darauf hatte er einige Bands groß rausgebracht. Fürst war das, was Don gern sein wollte, ein echter Impresario. Fürst spielte in der Oberliga. Selbst im New Musical Express war sein Name in einem Bericht über Krautrock aufgetaucht.

»An den müssen wir rankommen«, sagte Don.

»Jetzt bist du es, der einen Knall hat«, antwortete ich.

»Ich prophezeie dir, wenn wir den für unsere Sache gewinnen, dann erhält das Festival eine Aufmerksamkeit, die kannst du dir nicht vorstellen. Die Presse wird hier einfallen. Das ist auch eine Chance für dich, einmal was für die großen Musikblätter zu schreiben, das wäre es doch, davon träumst du doch schon lange.«

Don spinnt total, dachte ich. »Fürst interessiert sich nicht die Bohne dafür, was in unserem Kaff abgeht. Unser kleines Musikfieber lässt den völlig kalt, der arbeitet in einer ganz anderen Liga. Für den sind wir kleine Fische. Mal davon abgesehen, dass wir nicht an ihn rankommen.«

»Mit deiner Hilfe könnte das gelingen. Du kennst dich aus in der Szene, weißt über all die neuen Bands Bescheid und kannst mitreden. Das wird ihm gefallen. Wir schreiben ihm, noch besser, wir rufen ihn an. Nein, du rufst ihn an. Ich wollte dich sowieso fragen, ob du nicht mein Assistent werden willst. Ich brauche Unterstützung, ich schaff das nicht allein«, sagte Don.

Übergeschnappt. Es gab keine andere Erklärung. Oder hatte er was von dem roten Libanesen geraucht, der in der Stadt kursierte? Ich konnte mir sein Verhalten nur durch den Schlafentzug erklären, von dem er gesprochen hatte. Hausgemachter Erfolgszwang vernebelte ihm den Blick für die Realität. Pop-Fürst fürs Festival gewinnen! Und ich sollte ihm den Assistenten machen? Ich hatte davon doch keine Ahnung.

Aber halt, dachte ich plötzlich, die Idee, Fürst zu kontaktieren, war vielleicht doch nicht so abwegig. Dons Engagement hatte es verdient, sich das mal durch den Kopf gehen zu lassen.

Sein Talent zum Manager war nicht von der Hand zu weisen. So schnell, wie er Mark davon überzeugt hatte, dass nur er Dreamlight zum Erfolg verhelfen könne, und dass der Erfolg sich nur unter ihm einstellen würde. Denn er glaube an die Truppe. Er plane übers Festival hinaus, Konzerte, Plattenproduktionen. Das waren seine Worte gewesen. Ich hatte Mark interessiert zugehört, als er mir die Geschichte schilderte. Und dann hatte Don einen richtigen Vertrag aufgesetzt, den alle in der Band unterschrieben.

Er war nun offiziell für die Belange von Dreamlight zuständig. Und das musste ich ihm lassen, für die erste Probe hatte er einiges auf die Beine gestellt. Don hatte mit Köfers Willi geredet, einem Typen um die fünfzig, mit blondem, angegrautem Haar und Buddy-Holly-Brille. Köfers Willi unterhielt direkt neben dem Rats einen Laden für Elektrobedarf. Vorn gab es Lampen, Fernseher und Kühlschränke. Doch weiter hinten, außer Sichtweite seiner Hausfrauenkundschaft, hatte er eine Ecke mit Instrumenten eingerichtet.

Köfers Willi verkaufte keine Gitarren von Fender oder Gibson. Das waren die Marken, die die großen Stars spielten. Auch hatte er keine namhaften Verstärker wie die von Marshall, Vox oder Orange vorzuweisen. Aber er konnte gut erhaltene, gebrauchte Teile besorgen. Gitarren und Bässe wie die von Framus und Ibanez eben, Verstärker wie die von Dynacord und Echolette. Auch wenn es nicht das Profi-Equipment war, handelte es sich dennoch um solide Ware, und was das Wichtigste war – sie war bezahlbar.

Seit dem Ausbruch des Musikfiebers liefen Wills Geschäfte bestens. Laut Don prahlte er damit, dass er kaum mit den Lieferungen hinterherkomme, da schon ein paar andere Bands bei ihm vorstellig geworden seien.

Don und Will hatten schließlich einen Deal getroffen. Und der ging so: Will stellte Dreamlight Instrumente und Verstärker zur Verfügung – auf Kommission. Als Gegenleistung verpflichtete sich die Band, für ihren Gönner Werbung zu betreiben und bei ihren Auftritten (welche Auftritte? Die Band hatte noch nicht mal ein Programm) zwanzig Prozent der Einnahmen an Will abzudrücken, als sogenannten Schuldenabtrag.