DERMALEINST, ANDERSWO UND ÜBERHAUPT

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Diesen Anblick, meine Kinder!
Die Schweiz-Reisen der Sophie von La Roche

Sophie von La Roche, die Großmutter von Clemens Brentano und dessen Geschwistern, starb am 18. Februar 1807. Die 1730 in Kaufbeuren geborene Schriftstellerin, seit ihrer Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) eine Größe der deutschsprachigen Literatur, darf man getrost als eine zwar adelige, in ihrem Habitus aber doch recht bürgerliche Schwäbin des 18. Jahrhunderts bezeichnen. Wer Armin Strohmeyrs Biografie der Jugendfreundin des im nahen Biberach geborenen Christoph Martin Wieland liest, der begegnet zuallererst einer grundsoliden, ehrenwerten und tüchtigen Frau – und bald auch einer herzensguten Mutter. Sophie von La Roche war aber zudem eine ehrgeizige, fleißige und mehr als nur talentierte Verfasserin von Prosaliteratur fast aller Art. Sie gab, durchaus außergewöhnlich für ihre Zeit, die Zeitschrift Pomona für Teutschlands Töchter heraus, und sie war eine Briefstellerin von Format. Dennoch sind sie und ihre Schriften so gut wie vergessen in einer Gegenwart, die oft schon mit dem Namen Wieland nichts mehr zu verbinden weiß. Dass sich das mit dem zweihundertsten Todestag plötzlich ändert, ist trotz aller verlegerischen Bemühungen nicht sehr wahrscheinlich. Liest man aber in ihren anschaulichen, anekdotenreichen und elegant formulierten Reisetagebüchern, wird man zugeben müssen: Diese Schriftstellerin hat mehr verdient als einen Gnadenplatz in den Kellern der Literaturgeschichte.

Das Reisen war zu ihrer Zeit beschwerlicher und anstrengender als heute. Und kostete schon damals viel Geld. Man reiste nicht zur Erholung, sondern um seine Persönlichkeit zu bilden, um Land und Leute kennenzulernen, um in der Fremde lebende Freunde oder manche im europäischen Geistesleben bekannte Figur aufzusuchen. Die Autorin musste vierundfünfzig Jahre alt werden, ehe sie am 25. Juni 1784 mit ihrem sechzehnjährigen Sohn Franz aus Speyer abreisen und wenige Tage danach bei Schaffhausen Schweizer Boden betreten konnte. Gleich hinab zum Rheinfall! Überwältigt schreibt die empfindsame Rousseau- und Haller-Leserin in ihr an die daheimgebliebenen Sprösslinge gerichtetes Tagebuch: »Diesen Anblick, meine Kinder! kan man nicht beschreiben; aber ein vorher nie bekanntes Gefühl von der Macht und Schönheit der Natur durchdringt hier die Seele.« Zürich schätzt sie aus einem anderen Grund – dort leben »Männer, welche alle Sprachen und Wissenschaften besitzen, und Patrioten, welche für ihr Vaterland alles thun«. Sie hat freundschaftlichen Umgang mit den Familien der Gessner, Usteri, Hirzel oder Füssli. »Wir betrachteten auch das vom Hause Escher erbaute Wasserrad.« Luzern und sein See erwecken ihre Ehrfurcht, und in Sursée nimmt die Reisende sogar an einem »Patriotenfest« teil.

»Nun sind wir an dem Ort unserer Bestimung«, beginnt der Eintrag vom 17. Juli, in dem Lausanne ebenso prägnant beschrieben wird wie bald darauf Genf. Der Besuch in Fernay gibt Gelegenheit, ihren durchaus ambivalenten Eindruck von Voltaire näher darzulegen. Auf nach Savoyen! Schlafen wird sie in »Chaumoni« nur wenige Stunden – starke Männer tragen Sophie hinauf zum Gletscher des Montblanc: »Man lernt an Allmacht glauben, wenn man hier steht, und die Felsen sieht. Wie klein, wie niedrig scheint aller Stolz der Welt, alles, wovon wir eine grose Idee hatten.« Dramatisch verstärkt wird das beinahe zu einer Art mystischer Gotteserfahrung ausartende Naturerlebnis durch ein kräftiges Gewitter, bei dem der mutigen Reisenden dann doch »ein wenig schauerte«. Doch bald ist man wieder in der »herrlichen Landschaft« rund um den Genfer See, und über Bern gelangt Sophie nach Basel, wo Jacob Sarazin sie beherbergt. »Alle Vormittage besuchten wir Merkwürdigkeiten der Stadt, und des Nachmittags führten die freundlich edlen Sarazins uns in der schönen Nachbarschaft umher, nach Wendek zu Merians und zu Herrn Battier auf dem Schlosse Mönchenstern.« Danach aber wird Sohn Franz der »Lehre und Sorge« von Gottlieb Konrad Pfeffel und seiner Militärschule in Colmar überlassen.

Die Schriftstellerin hat die Schweiz noch zweimal besucht. Über ihre Reise im Jahr 1789 hat sie kein Tagebuch geführt, wohl aber über ihre dritte, vom Tod ihres Franz überschattete Reise, auf der die Einundsechzigjährige massiv mit den Folgen der Revolution in Frankreich konfrontiert wird und darüber intensiv nachdenkt. Längere Zeit ist sie Gast bei Carl von Bonstetten und Charlotte von Wattenwyl: »Wie viel ist Lausanne und Nyon für mich geworden, indem ich meine Menschenkenntnis und Geistesruhe vermehrte und befestigte!« Die Erinnerungen aus meiner dritten Schweizerreise (1793) bieten mehr philosophische Betrachtungen als konkrete Schilderungen von Land und Leuten – und sie illustrieren das Ende ihrer Aufklärungs-Zuversicht. Wie Sophie von La Roche dann über Neuenburg, Aarau und Zürich eilig zurückreist und bald wieder am Rheinfall sitzt, nun aber einsam, nachdenklich und melancholisch, liest man nicht ohne Rührung. Alt war sie geworden – die Zeit nach 1789 wurde die ihre nicht mehr.

Sophie von La Roche: Reisetagebücher. Aufzeichnungen zur Schweiz, zu Frankreich, Holland, England und Deutschland. Ausgewählt und mit Einführungen versehen von Klaus Pott und Charlotte Nerl-Steckelberg (Bibliotheca Suevica 21). Eggingen 2006: Edition Isele. 443 S.

Sophie von La Roche: Lesebuch. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Helga Meise unter Mitarbeit von Claudia Bamberg und Andreas Jacob. Königstein im Taunus 2005: Ulrike Helmer Verlag. 311 S.

Armin Strohmeyr: Sophie von La Roche. Eine Biografie. Leipzig 2006: Reclam Leipzig. 303 S.

Goethes allzu braver Schweizer Freund
Eine solide Biografie bringt uns Johann Heinrich Meyer näher

Das erste umfassende biografische Porträt von Goethes fast lebenslangem Freund, dem Maler und Kunstkenner Johann Heinrich Meyer, ist eine erfreulich solide Sache, ganz im Gegensatz übrigens zu einer neuen Merck-Biografie aus dem gleichen Verlag. Sein Autor, der Germanist und Historiker Jochen Klauss, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Goethe-Nationalmuseum in Weimar und ein durch zahlreiche Goethe- und Weimar-Studien ausgewiesener Kenner der Materie, und er kann so lesbar, ja teilweise spannend schreiben, dass Übersetzungen aus dem Germanistischen ins Deutsche an keiner Stelle notwendig sind. Und flüssig, ja spannend zu schreiben ist kein geringes Kunststück bei einem so verdienten wie bedächtigen Mann wie dem »Kunschtmeyer«. Spannend ist auf jeden Fall die Epoche, die hier, manchmal ein wenig zu heimatkundlich auf Weimar fixiert, souverän vor Augen geführt wird. Klauss zitiert dabei ungewöhnlich viel, ohne dass dies den Fluss seiner biografischen Prosa groß störte, und was wirklich zu viel gewesen wäre, hat er in den umfangreichen, zur wissenschaftlichen Brauchbarkeit seines Buches ganz wesentlich beitragenden Anhang verbannt. Die Wissenschaftler dürften an dieser akkuraten Darstellung wenig auszusetzen haben und wohl hauptsächlich gerade das kritisieren, was das Buch für ein breiteres Publikum interessant macht – die beherzten Urteile des Biografen, die Farbe und Schwung in sein Werk bringen. Was dem »Kunschtmeyer« gewiss nicht schaden kann. Denn weshalb soll man sich ausgerechnet mit diesem am 16. März 1760 in Stäfa am Zürichsee geborenen und am 14. Oktober 1832 in Jena gestorbenen Künstler näher beschäftigen? Immerhin hat der Mann nicht den allerbesten Ruf, was Jochen Klauss gleich auf den ersten Seiten unter der Überschrift »Der Langweiler« aufgreift, ja aufgreifen muss, um uns dennoch für seinen Gegenstand einzunehmen. Er sieht in den teilweise gehässigen Vorurteilen gegen den »wichtigsten und verlässlichsten Freund und Berater« Goethes die Ursache dafür, dass es bislang keine umfassende Meyer-Biografie gibt, sondern nur ein paar Spezialstudien über den Maler und Kunsttheoretiker. Klauss hingegen verspricht, sich dem »Menschen« Meyer zuzuwenden, seine Rolle innerhalb der Weimarer Szene und vor allem seinen Anteil am Leben Goethes zu beleuchten und darüber hinaus den Wohltäter der Stadt Weimar sowie den Schweizer Kulturbotschafter gebührend zu würdigen. Dabei sollen, so verspricht der Autor weiter, Leben und Leistungen Meyers sachlich geschildert und individuell gewürdigt werden, damit dieser wackere Mann in Zukunft auch ohne den ständigen Seitenblick auf Goethe als bedeutende Persönlichkeit seiner Zeit gelten möge. Ein hoher Anspruch, den Klauss da in seiner Einleitung aufbaut. Ein zu hoher?

Kenntnisreich schildert Klauss die Kindheit und Jugend Meyers in Stäfa und Zürich – und das bei dürftigster Quellenlage. 1776 jedenfalls gibt seine Mutter Dorothea Billeter den zeichenbegabten Knaben bei dem Formenschneider und Maler Johannes Koella aus Stäfa in die Lehre, 1778 wechselt er zu Johann Caspar Füssli in die Kunst- und Gelehrtenmetropole Zürich, wo der junge Mann seine entscheidende geistige Prägung erfährt. Die Abschnitte über Zürich im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, über die Lehr- und Gesellenzeit Meyers und über sein bildungshungriges Hineinwachsen in die griechische Kunstwelt Johann Joachim Winckelmanns gehören zu den besten und instruktivsten Teilen dieser Biografie. Ihr Fazit lautet: »Meyer war ein Kind seiner Zeit; seine charakterliche Entwicklung war abgeschlossen, bevor Goethe ihm begegnete.« Bald geht es zum ersten Mal nach Italien: »Die deutsche Künstlerkolonie in Rom hatte, als Meyer und Koella 1784 zu ihr stießen, schon feste Regeln und Traditionen entwickelt, in die sich die Neuankömmlinge glücklich einfügten.« Meyer widmet sich mit unerschütterlichem Ernst seinen Kunststudien und gilt den leichtsinnig-lebenslustigen Kollegen bald als ungeselliger Eigenbrötler. Dass er jedoch als disziplinierter Autodidakt konsequent seinen künstlerischen Zielen zustrebt, »immer fest, immer sachlich« – genau das bringt ihm die Bewunderung des 1786 nach Rom gelangten Goethe ein. Klauss bezeichnet dieses Zusammentreffen, dessen in der Italienischen Reise geschilderte Umstände nebenher ein wenig korrigierend, ohne Umschweife als »Glücksfall« und »Lebenswende«, und er hat damit vollkommen recht. Denn: »Das 1787 hier beginnende innige Verhältnis – seltener Fall in Goethes Leben – sollte über vierzig Jahre lang harmonisch und ungetrübt bleiben«. Zunächst freilich hofft Meyer auf Goethes gute Beziehungen, und er hofft nicht vergebens. Der Dreißigjährige erhält ein zwar bescheidenes, aber sicheres herzoglich-weimarisches Stipendium, das ihm den weiteren Italienaufenthalt und seine Kunststudien ermöglicht und eine solide Zukunft in Thüringen eröffnet.

 

Im November 1791 trifft Johann Heinrich Meyer in Weimar ein. Er wird sogleich in die Goethesche Familie aufgenommen und damit in die bessere Gesellschaft des Städtchens. Er erwirbt sich beim Umgestalten des Hauses am Frauenplan große Verdienste und ist auch später als kompetenter Bauleiter tätig. »Keine der bedeutenden klassizistischen Baumaßnahmen in Weimar wurde ohne ihn, ohne seine aktive Mitarbeit durchgeführt.« Der Hausfreund fungiert als beständiger und verlässlicher Beschützer Christianes und des kleinen August, wenn das Familienoberhaupt auf Reisen ist – und er zeichnet und malt, unter anderem das bekannte Aquarell Christiane und August. Er malt Goethe derart objektiv und naturgetreu, dass der Freund zusammenzuckt – so dick ist er und so grämlich schaut er drein? Außerdem betätigt sich Meyer als Kunstschriftsteller und wird Lehrer an der »Freien Zeichen-Akademie«, später gar ihr Direktor. Goethe schreibt am 14. September 1795 an Schiller: »Es ist ein herrlicher Mensch.« Ende 1795 geht es ein weiteres Mal nach Italien – ohne Meyer hätte Goethe seine Lebensbeschreibung Benvenuto Cellinis nicht verfertigen können. Aber Meyer wird schwer krank in Florenz und rettet sich im Sommer 1797 nach Stäfa, wo bald auch Goethe eintrifft. Was die beiden im Zürcher Gasthof »Zum Schwert«, auf Johannes Eschers Landgut bei Herrliberg, in der »Krone« zu Stäfa, am Gotthard und anderswo treiben, ist gut belegt, und Klauss erzählt es sehr anschaulich. Ende 1797 sind die beiden wieder in Weimar, und bald machen sie sich an die Vorbereitung der Kunstzeitschrift Propyläen, in der sie das umfangreiche Material ihrer italienischen Kunststudien publizistisch ausschlachten wollen – und sich dabei bald in jahrelange Querelen mit den Romantikern verstricken, deren heftigste anti-klassizistische Zornesausbrüche sich gegen Meyer richten werden. Doch Meyer bleibt, auch in den späteren Essays und Polemiken in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung oder, nach 1816, in Ueber Kunst und Alterthum, fest bei seinen Grundüberzeugungen. Herzog Carl August betraut ihn mit der Aufsicht über die künstlerische Ausgestaltung des Residenzschlosses, und Meyer hat, wie Klauss hervorhebt, einen wesentlichen und meist unterschätzten Anteil am Zustandekommen dieser architektonischen Perle. 1803 heiratet er eine Adelige, Amalie Caroline Friederike von Koppenfels. Ihre zweiundzwanzig Ehejahre müssen sehr glücklich gewesen sein, auch ohne Kinder, und wenn es Meyer weniger gut geht, hilft stets die Heimatluft Stäfas. Er ist bis zu seinem Tod ein anerkanntes Mitglied der so ehrbaren wie klatsch- und intrigenreichen Weimarer Gesellschaft, die er mit lakonischen Äußerungen, trockenen Kommentaren und treffenden Aperçus zu unterhalten und bisweilen durch Kostproben seines Heimatdialekts zu entzücken weiß – Johanna Schopenhauer und andere Zeugen berichten oft Köstliches über den drolligen Humor des »Kunschtmeyer«, den Klauss auch als Vertrauten der jungen russischen Großfürstin Maria Pawlowna porträtiert, der Enkelin der Zarin Katharina II., die seit 1804 in Weimar residiert und sich mit Meyers Hilfe den humanistischen Geist des klassischen Weimar anzueignen sucht. Für ihre drei Mädchen entsteht unter Meyers Leitung der »Prinzessinnengarten« in Jena, und auch in Weimar tut Meyer viel Gutes, in künstlerischer wie auch in sozialer Hinsicht. Nach dem Tod der geliebten Frau gönnt er sich noch eine Reise in die Heimat und eine nach Karlsbad – nach dem Hinschied Goethes aber mag er nicht mehr so recht auf dieser Welt sein, und im Prinzessinnenschlösschen zu Jena tut er, dreiundsiebzigjährig, kurz danach seinen letzten Atemzug.

Ein erfülltes Leben, zweifellos. Und doch erinnert man sich, auch nach der Lektüre dieses verdienstvollen, eine grandiose Lebensleistung zu Recht ausführlich würdigenden Buches, an Johann Heinrich Meyer weiterhin nur in Bezug auf Goethe. »Er war die Inkarnation jener Goetheschen Idee vom Lehrer, Diener und Freund in einer Person«, meint sein Biograf, der seine in der Einleitung gemachten Versprechen fast alle einlösen kann – nur das mit dem Schweizer Kulturbotschafter wird, über das Reden im Dialekt hinaus, nicht recht deutlich. Dennoch scheint der Autor dem behaupteten Eigenwert seines Meyers nicht ganz zu trauen. Klauss endet sein detailreiches und auch sehr liebevolles Buch mit einem Satz, der seinen Protagonisten wiederum in den Schatten eines Größeren stellt, aus welchem er ihn doch eigentlich zu befreien gedachte: »Wahrscheinlich war Johann Heinrich Meyer in seiner Standhaftigkeit und Stetigkeit genau der Mensch, den der sich alle zehn Jahre wie eine Schlange häutende Dichter brauchte.«

Jochen Klauss: Der »Kunschtmeyer«. Johann Heinrich Meyer: Freund und Orakel Goethes. Weimar 2001: Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger. 358 S.

Weltliteratur?
Dieter Lamping rückt einiges zurecht

Der in Mainz lehrende Komparatist Dieter Lamping ist einer der nicht eben zahlreichen Literaturwissenschaftler, die den unübersehbaren Prozess der Internationalisierung der deutschsprachigen Literatur ernst nehmen und ihn in den Kontext der europäischen Literaturgeschichte zu stellen versuchen. Kein Wunder, dass er dabei bald auf Goethe und dessen bis heute so wirkungsmächtigen Begriff der »Weltliteratur« stieß. Denn diesem Konzept ist es im Grunde zu verdanken, dass wir die Literatur nicht für wesentlich monokulturell oder gar national halten. »Weltliteratur ist eine der großen Ideen des 19. Jahrhunderts – und eine der wenigen, die die Epoche ihrer Entstehung überlebt haben«, lautet der erste Satz des Buches. Was aber meint man heute damit, wenn man, wie es in der Literaturwissenschaft ebenso wie in der Literaturkritik allenthalben geschieht, von »Weltliteratur« spricht? Welchen Nutzen, welchen Erklärungswert hat der Rekurs auf Goethes Konzept? Und ist es überhaupt ein Rekurs, oder hat die gängige Verwendung des Begriffs nur noch wenig mit dem zu tun, was der Dichterfürst am 31. Januar 1827 im Gespräch mit Eckermann äußerte? Oft genug sind Goethes Worte zitiert worden: »National-Literatur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Welt-Literatur ist an der Zeit und jeder muss jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.« Diesen Worten, diesem Begriff und mehr noch dessen Karriere im 19., 20. und auch 21. Jahrhundert widmet sich Lampings im besten Sinne philologische, weil weit über die Philologie hinausweisende Untersuchung: »Die Idee der Weltliteratur in ihren wichtigsten, literarhistorischen wie literaturtheoretischen, aber auch ideengeschichtlichen Aspekten mit der gebotenen Knappheit darzustellen ist das Ziel dieses Buches. Dabei versucht es, nicht nur zu fragen, wie sie verstanden wurde, von ihrem Urheber und von seinen Lesern, sondern auch, wie sie noch immer sinnvoll zu verstehen sei.«

Naturgemäß geht es zuerst um Goethe, dessen Plädoyer für »Weltliteratur« den alten Dichter als einen weltoffenen, scharfsinnigen und der Zukunft zugewandten Beobachter seiner Epoche ausweist. Doch schon bei ihm bleibt der Begriff unscharf, und an keiner Stelle hat er systematisch entwickelt, was er eigentlich unter »Weltliteratur« verstanden wissen wollte. Als »formelhafte Aperçus« implizieren Goethes diesbezügliche Bemerkungen mehr als sie explizieren. In den drei der Einleitung folgenden Abschnitten seiner Studie stellt Lamping den Weimarer Altmeister in den Kontext der europäischen Literatur seiner Zeit und diskutiert die weitreichenden Implikationen der keineswegs nur angelesenen Internationalität des Divan-Dichters, der zwar nach heutigen Maßstäben kein weltkundiger Mann war, aber noch viel weniger ein »eingezogen lebender Mensch wie etwa Kant oder Lichtenberg«. In Goethes Werk und Wirken lässt sich, wie der höchst belesene, quellenkundige Verfasser detailliert nachweist, in vielerlei Hinsicht ein durchaus interkulturelles Interesse feststellen, auch wenn das bei Zeitgenossen wie Georg Forster, Adelbert von Chamisso oder Alexander von Humboldt ungleich stärker ausgeprägt gewesen sein mag. Unvermeidlicherweise geht es im ersten Teil des Buches auch um das von Herder, Schleiermacher und anderen entwickelte, von Lamping nicht als kontrastiv, sondern als komplementär zur »Weltliteratur« betrachtete Konzept einer »Nationalliteratur«. Abgesehen von diesem allerdings folgenreichen Scheinkonflikt zwischen Welt und Nation wurde die Idee der »Weltliteratur« niemals ausschließlich als poetische begriffen. »Vielen ihrer Anhänger galt und gilt sie auch, wenn nicht vor allem, als ein kosmopolitisches Programm, und gerade diese Verbindung hat viel zum Erfolg der Idee beigetragen.«

Der fünfte Abschnitt der Untersuchung weist nach, dass und inwiefern Goethes Idee sozusagen in der Luft lag. Denn: »Die drei Jahrzehnte vor und nach 1800 stellen die erste europäische Epoche der neueren deutschen Literatur dar.« Besonders manifest wird das »sowohl als Übersetzung wie als Vermittlung und als Verarbeitung, als produktive Rezeption«. Kundig führt Lamping durch die ungeheure Fülle und Dichte der Bezugnahmen auf europäische Literaturen, die die deutschsprachige Literatur um 1800 aufweist und die nicht allein Themen und Motive, sondern auch Formen und Gattungen betreffen. Spätestens in der »Goethezeit« – und nicht etwa erst mit den Anfängen einer »Literatur der Migration« seit den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts – wurde Internationalität zu einem konstitutiven Moment der deutschen Literatur. Die Rede von der »Weltliteratur« allerdings folgte seit Goethes Tod vielfach einer eigenen Logik, und den diversen Bedeutungsverschiebungen dieses wandelbaren Konzepts geht der Autor detailliert nach, bis hinein in einzelne »Dialoge« von (mindestens) zwei Texten unterschiedlicher Sprachherkunft. Selbstverständlich ist »Weltliteratur als intertextuell fassbare literarische Internationalität« kein völlig neues Konzept, doch gerade in der deutschen, über lange Zeit hindurch von nationalem Denken dominierten Literaturwissenschaft und ihren akademischen Organisationsformen spielte es nur selten eine wichtige Rolle – was, betrachtet man die Germanistik auch der jüngeren Zeit, gravierende Folgen zeitigte. »In den neueren Philologien hat der Begriff der ›Weltliteratur‹ in dem Maß an Bedeutung gewonnen, in dem sich neben den einzelsprachlichen eine vergleichende Literaturwissenschaft bildete«, meint der Verfasser und unterschlägt dabei ein wenig, dass auch die seit etwa 1980 fortschreitende Entwicklung einer »Interkulturellen Germanistik« hier entschieden bewusstseinsverändernd gewirkt hat. Immerhin nimmt er die nicht-deutsche interkulturelle Literatur- und Kulturwissenschaft der letzten Jahre (Homi K. Bhabha, David Damrosch, John Pizer) in den Blick, die der Goetheschen Idee »eine ganz neue Aktualität abgewonnen hat«. Dass der inflationäre Gebrauch des vieldeutigen Begriffs auch »Unbehagen« ausgelöst hat, verschweigt Lamping nicht. Dennoch ist er davon überzeugt, dass die komplexe Idee der »Weltliteratur« vorerst einmal weiterleben wird, und mit ihr auch das kulturwissenschaftliche Konzept. Goethes großes Verdienst sei es nun einmal, »eine suggestive Formel für Prozesse literarischer Internationalisierung« gefunden zu haben. Diese Prozesse halten an, ja sie verstärken sich sogar. Wer sie begrifflich fassen will, kommt an der »Weltliteratur« ebenso wenig vorbei wie an der fast uneingeschränkt empfehlenswerten Studie von Dieter Lamping. Fast? Na ja, ein ausreichend umfängliches Literaturverzeichnis gibt es, aber leider kein Begriffs- und Namensregister. Weitere kritische Einwände allerdings hat dieses einleuchtend strukturierte, klar und verständlich geschriebene Buch nicht verdient.

Dieter Lamping: Die Idee der Weltliteratur. Ein Konzept Goethes und seine Karriere. Stuttgart 2010: Alfred Kröner Verlag (Kröner Taschenbuch 509). 151 S.