DERMALEINST, ANDERSWO UND ÜBERHAUPT

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Ihm war auf Erden nicht zu helfen
Heinrich von Kleist – ein fremder Zeitgenosse

Ob Der zerbrochene Krug, Penthesilea, Das Käthchen von Heilbronn oder Prinz Friedrich von Homburg – Heinrich von Kleists Dramen werden gespielt, und zwar nicht nur im deutschsprachigen Raum. Seine Erzählungen gelten als Meisterwerke deutscher Prosa, und sie werden auch gelesen, Michael Kohlhaas vor allem, Die Marquise von O … und Das Erdbeben in Chili. Die Figur des 1777 in Frankfurt an der Oder geborenen und 1811 am Berliner Wannsee zusammen mit Henriette Vogel aus dem Leben geschiedenen Dichters ist, auch durch Film und Populärkultur, zur Ikone romantischer Zerrissenheit und Rastlosigkeit geworden. Reden wir nicht vom Literaturunterricht an Schulen und Universitäten – Kleist ist so präsent wie Goethe, Schiller oder Hölderlin, und womöglich wird sein Werk freiwilliger, öfter und intensiver rezipiert als das der Weimarer Klassiker oder das des genialen Außenseiters aus Württemberg.

In der Germanistik spielt die Kleist-Forschung seit Jahrzehnten eine wichtige Rolle, und wie es sich für Germanisten gehört, waren sich die Forscher keineswegs immer grün. Dass es durchaus unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten gibt, führt ein vornehmlich für Experten belangvoller Sammelband vor Augen, der gerade wegen seiner meist brillant formulierten Heterogenität hochinteressant ist – und uns hier nicht weiter beschäftigen darf. Was auch für Klaus Müller-Salgets Buch gilt. Seine konzise und solide Einführung in die Materie fasst das heutige Wissen um Kleists Biografie und die Erkenntnisse zu seinen Werken sehr gekonnt zusammen und gewinnt nicht zuletzt durch die Bibliografie an Format. Trotz dieser beiden gelungenen Publikationen muss man aber die lang erwartete Biografie in den Vordergrund stellen, in der Rudolf Loch, zu DDR-Zeiten ein unermüdlicher Initiator der Kleist-Gedenk- und Forschungsstätte in Frankfurt an der Oder und bis 1994 deren Direktor, sein lebenslanges Bemühen um den Dichter auf spannende Art und Weise ausgebreitet hat.

Loch schreibt ein elegantes, angenehmes und eingängiges Deutsch, das dem erfolgreichen Genre der wissenschaftlich fundierten und doch mühelos zu lesenden Künstlerbiografie optimal entspricht. Im Gegensatz zu Müller-Salget trennt er die Darstellung des Lebens nicht von der Charakterisierung und Deutung der Werke, ohne die Sphären des Biografischen und des Poetischen zu vermischen. Der Biograf lässt dem Dichter wie auch den Werken ihr Geheimnis – er zeigt auf, wägt ab, fragt, vermutet, stellt infrage. Der Gestus des Behauptens ist diesem Buch fremd, übrigens auch das modische Sicheinbringen nach dem Motto »Ich und Er«, wie man es von Peter Härtling, Dieter Kühn und anderen Literaten kennt. Loch erzählt, getragen von beneidenswert stupender Sachkenntnis, angenehm unaufgeregt und gerade deshalb überzeugend. Und er weiß, wie weit er gehen darf. Beispiel: Kleists durch Albrecht von Haller und Jean-Jacques Rousseau entflammte, damals durchaus nicht ungewöhnliche Schweiz-Begeisterung. Loch erzählt von den rastlosen Reisen durch das Land, von den Schweizer Freunden, von den hier erfahrenen und weitreichenden Impulsen für sein dichterisches Schaffen, von Kleists Versuch einer Existenz als Landwirt und Dichter auf der nachmals berühmten Insel im Thuner See, und er macht ganz deutlich, dass wir darüber nur manches und nicht alles wissen. Punkt. Loch betont, dass Kleist ein sensibler, kluger, zupackender und zugleich zögerlicher Preuße und Europäer in einer widerspruchsvollen Epoche war, nicht nur ihr unglückliches Opfer. Der Dichter, dem »auf Erden nicht zu helfen« war, gilt erst seit hundert Jahren als Zeitgenosse der Moderne – zu Recht, wie Rudolf Lochs uneingeschränkt lesenswerte Biografie beeindruckend verdeutlicht.

Rudolf Loch: Kleist. Eine Biographie. Göttingen 2003: Wallstein Verlag. 540 S.

Klaus Müller-Salget: Heinrich von Kleist. Stuttgart 2002: Reclam Verlag. 359 S.

Anton Philipp Knittel / Inka Kording (Hrsg.): Heinrich von Kleist. Neue Wege der Forschung. Darmstadt 2003: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 299 S.

Nette Idee das
Heinrich von Kleist in der Schweiz

»Kleist hat Kost und Logis in einem Landhaus auf einer Aareinsel in der Umgebung von Thun gefunden«, beginnt die erstmals im Juni 1907 veröffentlichte Erzählung Kleist in Thun. Was der vor zweihundert Jahren am Berliner Wannsee aus dem Leben geschiedene Preuße im Jahr 1802 dort trieb, ist ihrem Autor Robert Walser ziemlich klar: »Er dichtet natürlich … Er hat Bauer werden wollen, als er in die Schweiz gekommen ist. Nette Idee das.« In der Tat kann man betrübt lächeln über diesen von intensiver Lektüre der Schriften Rousseaus beflügelten und doch von vornherein zum Scheitern verurteilten Selbsterfüllungsversuch eines ruhelosen Vierundzwanzigjährigen, der seit Kurzem ohne Vormund über sein ererbtes Vermögen verfügen durfte. Gerhard Schulz, Verfasser der trotz aller Neuerscheinungen im sogenannten Kleist-Jahr 2011 noch immer besten Biografie, sieht die Sache wohl ähnlich wie Robert Walser. Aber er bietet auch an, Kleists Absicht, ein Schweizer Bauer zu werden, ernst zu nehmen und sie als »erlösendes Engagement für praktisches Handeln« zu betrachten. Viel wichtiger aber als Kleists letztlich ja nur aus verstreuten Briefstellen erschlossene Intentionen ist natürlich: »Hier wurde Heinrich von Kleist wirklich zum Dichter, hier entstand sein erstes Drama, und angesichts dessen sind alle guten Gründe für sein Agrarprojekt wie alle Zweifel daran zweitrangig.« Oder, wie es Günter Blamberger in seiner Biografie formuliert: »Die Schweiz ist für den Nomaden Kleist zweierlei: Ort der Melancholie wie der Utopie. Letzteres heißt ja Nicht-Ort und meint einen Ort, wo er zugrunde gehen und zugleich auf den Grund seines Daseins gehen und sich neu entwerfen kann. In und durch die Literatur.«

Der junge Mann, der seiner Mit- und Nachwelt so viele Rätsel aufgegeben und sich mit unvergleichlich sprachmächtigen Schauspielen und Erzählungen tief und nachhaltig in die deutsche Literaturgeschichte eingeschrieben hat, kam Ende 1801 von Paris her in die Schweiz. Es waren politisch unruhige Zeiten in der Helvetischen Republik von Napoleons Gnaden, und in einem Brief an seine Schwester Ulrike heißt es einmal, es ekele ihn bereits vor dem bloßen Gedanken, irgendwann einmal ein Franzose werden zu müssen. Zwar unternahm Kleist einige Anläufe, ein Landgut zu erwerben, doch seinen Siedlertraum gab er schon bald auf. Lieber Dichten als Säen: Von April bis Juni 1802 schrieb er an seinem Drama Die Familie Schroffenstein, vielleicht auch schon am Robert Guiskard, und gelegentlich fuhr er nach Bern und las daraus vor. Der Schriftsteller Heinrich Zschokke, der Verleger Heinrich Gessner und Ludwig, der Sohn des großen Dichters Christoph Martin Wieland, wurden ihm Freunde. Beste Voraussetzungen für eine Literatenkarriere, sollte man meinen. Kleists erstes Drama, mit der Jahresangabe 1803 schon im Herbst 1802 ohne Nennung des Verfassernamens in Gessners Verlag erschienen, war schließlich auch keine »elende Scharteke«, wie er selbst einmal geäußert hat, sondern, folgt man seinem Biografen Schulz, »im Spiel der Motive eher schon so etwas wie die Ouvertüre zu seinem späteren Werk«. Auch manche Anregung für seine Justizkomödie Der zerbrochne Krug, die er dann freilich in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts ansiedelt, dürfte Kleist in seinen Schweizer Monaten erhalten haben. »Die Schweizer Verhältnisse und die Persönlichkeit Zschokkes haben vermutlich mehr in Kleist, in seiner Entwicklung und in seiner Dichtung, ausgelöst, als bislang erkannt worden ist«, schreibt Rudolf Loch, ein weiterer Kleist-Experte. Briefe verfasste der junge Dichter auch, darunter einen, mit dem er sein prekäres Verlöbnis mit Wilhelmine von Zenge de facto auflöste. Das war am 20. Mai, und schon Ende Juni ist es vorbei mit dem Leben auf der Insel, dessen profanen Alltag ihm das Mädeli eines Nachbarn recht angenehm gestaltet hat. Der Rest: Launen, Stimmungswechsel, Malaisen. Am 17. Oktober 1802 zog ihn seine Schwester Ulrike in die Kutsche. Das war's mit der Schweiz. Wer es genauer wissen möchte, muss bis Mai 2011 warten: Ein Büchlein mit dem schönen Zitattitel »Ich will im eigentlichsten Verstande ein Bauer werden« verspricht weitere Details. Wichtig aber waren die Schweizer Monate allemal. Und Thun hat eine Sehenswürdigkeit mehr: das Haus auf der Insel. Zu Recht, sagt Günter Blamberger: »Thun ist Kleists zweiter Geburtsort, der Ort seiner Neugeburt als Dichter.«

Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biographie. Frankfurt am Main 2011: S. Fischer Verlag.

Philipp Burkard / Anett Lütteken (Hrsg.): »Ich will im eigentlichsten Verstande ein Bauer werden«. Heinrich von Kleist in der Schweiz. Göttingen 2011: Wallstein Verlag.

Rudolf Loch: Kleist. Eine Biographie. Göttingen 2003: Wallstein Verlag.

Gerhard Schulz: Kleist. Eine Biographie. München 2007: C. H. Beck Verlag.

Robert Walser: Kleist in Thun (1907). In: Das Gesamtwerk in 12 Bänden. Hrsg. von Jochen Greve. Band I, S. 174–185. Zürich / Frankfurt am Main 1978: Suhrkamp Verlag.

Mit den Augen des Fremden
Adelbert von Chamisso ist neu zu entdecken

Nichts gegen das von Hans Magnus Enzensberger mit großem Aufwand ins Werk gesetzte »Humboldt-Projekt«, das dem heutigen gebildeten Lesepublikum die wichtigsten Schriften Alexander von Humboldts nahe bringen möchte. Auch nichts dagegen, dass aus Anlass des kürzlich begangenen zweihundertfünfzigsten Geburtstags von Georg Forster ganz zu Recht dessen Voyage Round the World gewürdigt wurde. Noch einem aber aus jenen fernen Tagen, als die Weltkarten noch jede Menge weißer Flecken hatten, gebührt die ehrwürdige Charakterisierung »Dichter, Naturwissenschaftler, Weltreisender«, die sich im Untertitel eines neuen Ausstellungskatalogs findet: dem 1781 auf einem Schloss in der Champagne geborenen, mit den Eltern vor der Revolution nach Preußen geflüchteten und sich dort zu einem der meistgeschätzten und populärsten deutschen Poeten entwickelnden Charles Louis Adelaide Chamisso de Boncourt. Nicht wenige seiner Balladen lernten deutsche Gymnasiasten bis vor Kurzem noch auswendig, und die Kenntnis seiner Geschichte vom Mann, der seinen Schatten verkaufte, gehört nach wie vor zum literarischen Grundwissen. Man dürfe Chamissos »unsterbliche Geschichte von Peter Schlemihl« als eine »Parabel der Fremdheit« lesen, meint Harald Weinrich, der vor zwanzig Jahren maßgeblich für die Einrichtung des Adelbert-von-Chamisso-Preises gesorgt hat – eines renommierten Literaturpreises für deutsch schreibende Schriftsteller nicht-deutscher Herkunft und Muttersprache, über den man am Ende des Katalogs auch einiges lesen kann. Es stimmt: Der Lyriker und Erzähler Adelbert von Chamisso ist immer noch relativ bekannt. Der Naturwissenschaftler und Weltreisende allerdings erfährt erst jetzt größere Aufmerksamkeit, und das liegt vor allem an der im Berliner Bezirk Kreuzberg präsentierten, von viel Liebe zum Detail getragenen Ausstellung Mit den Augen des Fremden. Und an dem opulent aufgemachten, lehrreichen und unterhaltsamen Katalog, der uns den nicht weit vom Ausstellungsort beerdigten Dichter endlich einmal so vorstellt, wie es einschlägige Literaturgeschichten bisher nicht konnten. Mit anhaltendem Staunen nimmt man zur Kenntnis, dass dieser Chamisso noch weit mehr war als ein großer deutscher Dichter aus Frankreich.

 

Ulrike Treziak nimmt Harald Weinrichs Anregungen auf, wenn sie in der Einleitung schreibt: »Chamisso war jemand, der in verschiedenen Kulturen, mit verschiedenen Sprachen, in unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten gelebt und mit Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit verkehrt hat. Gerade das hat ihn zu einem Wissbegierigen gemacht und zu einem offenen Geist … Diese Offenheit für das Fremde war die Grundvoraussetzung für seinen tiefen Respekt vor anderen Kulturen.« Genau das zeichnet Chamisso aus. Am Morgen des 9. August 1815 meldet sich der Vierunddreißigjährige auf der Reede zu Kopenhagen beim Sohn eines in der Goethezeit viel gespielten Bühnendichters. Otto von Kotzebue ist der Kapitän des Forschungsschiffs »Rurik«, das drei Jahre lang »in die Südsee und um die Welt« segeln wird, mit Chamisso als Naturforscher und Korrespondenten. Brasilien und Chile samt Osterinseln, die Halbinsel Kamtschatka, die Aleuten und Alaska, später Kalifornien, Hawaii, Guam und Manila, und über Kapstadt schließlich zurück nach Europa – der Leser reist, kundig geführt von Ulrike Treziak und sinnlich angeregt durch die vorzüglich reproduzierten Lithografien von Ludwig Choris, mit Chamisso durch die Beringsee und den gesamten pazifischen Raum. Ein Abenteuer! Und das schon im ersten von insgesamt siebzehn Katalogbeiträgen! Die übrigens alle leicht lesbar sind und doch auf dem neuesten Stand der Forschung, ob es nun um die Biografie des dichtenden Botanikers geht, um die genauere Analyse seines erst 1836 erschienenen letzten Buches Reise um die Welt, um Mitreisende wie den Arzt Johann Friedrich Eschscholtz oder den »Reisemaler« Ludwig Choris, um »Stabkarten, Sandkarten und Seekarten« oder um Chamissos wertvolle Hinterlassenschaften in den Botanischen Museen von Berlin und St. Petersburg. Allein zwei Katalogseiten füllt die Liste der ihm gewidmeten Namen von Pflanzen, Tieren und geografischen Orten, von »Aconitum delphinifolium ssp. Chamissonianum« (Eisenhut-Art) bis »Xylaria chamissonis« (brasilianische Kernpilz-Art)!

Kurzum: Es gibt nichts Besseres und vor allem nichts Schöneres über den dichtenden Naturforscher als diesen empfehlenswerten Katalog, der am Ende auch noch dessen Spuren im Berliner »Chamisso-Kiez« nachgeht und dazu einlädt, es nicht bei einem Besuch der Ausstellung zu belassen. Sondern sich auch ein wenig in der Nachbarschaft umzusehen. Vielleicht besorgt man sich dann gleich Chamissos Reise um die Welt.

Mit den Augen des Fremden. Adelbert von Chamisso – Dichter, Naturwissenschaftler, Weltreisender. Berlin 2004: Kreuzberg Museum. 240 S.

Adelbert von Chamisso – Vermittler zwischen Sprachen und Kulturen

Dass Adelbert von Chamisso nicht nur wegen seiner interkulturellen Biografie, sondern vor allem durch seine Übersetzertätigkeit einer der großen Vermittler zwischen dem deutschen und dem französischen Kulturraum im 19. Jahrhundert war, hat Werner Feudel 1986 in einem kleinen Aufsatz herausgearbeitet. Dass er zugleich der humanistisch-literarischen Sphäre und der zeitgenössischen Welt der Naturwissenschaften angehörte und deshalb auch als produktiver Vermittler zwischen unterschiedlichen akademischen Kulturen betrachtet werden kann, ist mehrfach nachgewiesen worden. Und dass die ethnologischen und sprachwissenschaftlichen Studien in der Folge von Chamissos naturforschender Weltreise fast durchgängig eine Kulturen vergleichende Dimension aufweisen und somit auch auf Vermittlung zielen, ist evident. Aus Berlin schreibt Chamisso 1814 an de la Foye: »Kein anderes Vaterland habe ich doch, kann ich doch haben, als die gelehrte Republik, wo ich bescheiden und still mich einzubürgern gedenke, und da meine kleine Freiheit harmlos zu genießen.« Harald Weinrich beginnt seinen Essay Chamissos Gedächtnis damit, den wissenschaftlichen Nachruhm des Biologen, Botanikers und Geografen Chamisso herauszustellen, ehe er vom Literaten und insbesondere von dessen Schlemihl spricht. Weinrichs luzider Essay, der ursprünglich ein Vortrag war, beschwört am Ende »das lebendige Fortwirken dieses Autors im Denken, Fühlen und Schreiben derjenigen Autoren, die ich vor Jahren einmal ›Chamissos Enkel‹ genannt habe, weil sie wie Adelbert von Chamisso aus einer anderen Sprache und Kultur kommen und mit ihrem Schreiben der deutschen Literatur neue Impulse gegeben und sie ein gutes Stück hellsichtiger und weltoffener gemacht haben«. Um das in diesem Essay auch angesprochene weite Feld, von Chamissos allmählicher Kanonisierung in der deutschen Literaturgeschichte und seinem Nachruhm als deutscher Dichter bis hin zu den von Weinrich erwähnten Literaten, die man heute mindestens »Chamissos Ur-Urenkel« nennen müsste, soll es hier gehen – wobei ich, aus Kompetenzgründen, den Naturwissenschaftler weitgehend außer Acht lasse und mich auf den Dichter Adelbert von Chamisso konzentriere, ohne allerdings literaturwissenschaftliche Textanalysen zu liefern. Es geht mir um die bis heute anhaltende Bedeutung eines Mannes, der als Nicht-Muttersprachler mit dem Schlemihl zu Weltruhm gelangte, der insgesamt ein relativ erfolgreiches und nachhaltig weiterwirkendes literarisches Werk in deutscher Sprache geschaffen hat und der durch die unter anderem von Edward Mornin näher untersuchte »europäische Dimension seiner Einstellung und seiner Dichtung« hervorsticht. Deutsche Literatur, und was für eine, von einem Autor französischer Muttersprache – das ist schon für Chamissos Zeitgenossen äußerst bemerkenswert gewesen, und eine recht lange Zeit hindurch, bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts hinein, ist es auch mehr oder weniger einmalig geblieben. Chamissos Ur-Urenkel sind ein im deutschen Kulturraum relativ neues Phänomen. Ausnahmen jedoch hat es immer gegeben.

Auf das entscheidende biografische Faktum, den Sprach- und Kulturwechsel nämlich, dem der junge Adelige in Preußen unterworfen wurde, ist nicht noch einmal näher einzugehen. Keine Biografie des Dichters wird es versäumen, diesen Sprach- und Kulturwechsel ausführlich und explizit zu erörtern. Stellvertretend für viele sei Klaus Günzel zitiert, der über den preußischen Offizier der Jahre nach 1806 schreibt: »Als nach wie vor unbehauster Emigrant sah er die Freunde zum antinapoleonischen Befreiungskampf rüsten, was die schon lange in ihm schwelende Identitätskrise zum offenen Ausbruch brachte: Ein Franzose war er nicht mehr, ein Deutscher noch nicht. Würde er es je werden?« Auch in Thomas Manns berühmtem Chamisso-Essay wird eingehend darauf hingewiesen. »Das Wort, das da ist«, schreibt Thomas Mann in seiner etwas blumigen Diktion von 1911, »das allen gehört und das doch ihm in einem innigeren und beglückenderen Sinn als jedem andern zu gehören scheint, es ist sein erstes Staunen, seine früheste Lust, sein kindischer Stolz, der Gegenstand seiner geheimen und unbelobten Übungen, der Quell seiner vagen und fremdartigen Überlegenheit«. Dass sich Thomas Manns Formulierung von der »fremdartigen Überlegenheit« auch darauf bezieht, dass Chamisso ein »Dichter nach Herders Sinn« gewesen ist, wie sein Biograf Peter Lahnstein meint, ist wahrscheinlich. Ich zitiere Lahnstein: »›Stimmen der Völker‹ tönen hundertfältig aus seinem Werk; neben den deutschen und französischen spanische, baskische, korsische Stimmen, polnisch-jüdische, ungarische, nordische, russische; Stimmen aus dem alten Orient, aus Amerika, aus der Südsee. In seinen Gedichten fließt es ineinander: Aufnehmen und freie Gestaltung fremder Motive, Nachdichtung und Übersetzung.« Doch die Geschichte der innerliterarischen Chamisso-Rezeption in Deutschland ist, über Heinrich Heine, Georg Herwegh, Heinrich Laube, Ludwig Bechstein, Leopold Kompert, Friedrich Hebbel und viele andere Dichter des 19. Jahrhunderts bis hin zu Richard Schaukals Novellenband Schlemile (1908) oder Thomas Mann selbst, dessen Tonio Kröger von Arthur Eloesser 1925 als »neuer Schlemihl« bezeichnet wurde, zunächst einmal die Geschichte der Schlemihl-Rezeption geblieben. Ausnahmen wie Theodor Storms Eekenhof gibt es natürlich auch. Ludwig Thoma wählt »Schlemihl« zu einem seiner Pseudonyme, nicht etwa, was ja auch denkbar gewesen wäre, »Chamisso«. Das gilt auch international. »Schlemihl, der ewige Pechvogel, eine jüdische Vokabel, durch Chamisso in die Weltliteratur eingeführt«, schreibt Lahnstein. Auch wenn 1886 die bereits 23. Auflage seiner Gedichte erschien – die rund achtzig Auflagen und mehr als hundert Übersetzungen des Schlemihl bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs sprechen eine deutliche Sprache. Die Chamisso-Ausgaben und -Übersetzungen bis 1919 sind in der Bibliotheca Schlemihliana aufgeführt.

Im Literaturkanon des deutschen Bürgertums und damit auch dem der Schulen und Universitäten hatte der auch durch die Vertonungen von Robert Schumann populäre Dichter mindestens bis 1918, wenn nicht bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, seinen festen Platz – und dies keineswegs ausschließlich als Autor des Schlemihl, dem Ernst Ludwig Kirchner während des Ersten Weltkriegs seinen Zyklus von Farbholzschnitten widmete. Gedichte wie Das Riesenspielzeug, Das Schloss Boncourt, Die Sonne bringt es an den Tag oder Salas y Gomez fanden Eingang in die Lesebücher von Generationen. Es gibt die schöne Geschichte des 1912 geborenen Curtius-Schülers Werner Ross, der Chamisso über ein im Haushalt vorhandenes Dichterquartett kennengelernt hatte und lapidar feststellt: »Da in den Dichterquartetten alle Dichter, groß und klein, je vier Werke verfasst haben, werden auf dem Kärtchen der ›Peter Schemihl‹, das ›Schloß Boncourt‹, ›Frauen-Liebe und -Leben‹ und ›Die alte Waschfrau‹ gestanden haben, die vier Titel, die ausnehmend beschlagenen Literaten und Liebhabern heute noch einfallen.« Mit dem Gedichtzyklus Frauenliebe und -leben habe Chamisso zum Lieblingsdichter des Biedermeier werden und zugleich als Sympathisant der Pariser Revolution von 1830 erscheinen können, schreibt der 1926 geborene Günter de Bruyn in seinem Buch Die Zeit der schweren Not, das, wie sein Untertitel verrät, »Schicksale aus dem Kulturleben Berlins 1807 bis 1815« ausbreitet und dessen Patron und Schirmherr niemand anderes ist als Adelbert von Chamisso – ein vorläufiger Schlussakkord zur offenbar bis heute nicht ganz abgerissenen Kette der literarischen Chamisso-Rezeption in Deutschland. Doch selbst wenn man den 1936 im Amsterdamer Exil und 1958 in zweiter Auflage erschienenen Chamisso-Roman Der Schlemihl von Hans Natonek nicht vergisst und zudem darauf hinweist, dass das Motiv vom verlorenen Schatten nicht nur Wilhelm Raabe oder Hugo von Hofmannsthal, sondern nach 1960 auch James Krüss, Christoph Meckel, Elisabeth Plessen und andere Autoren fasziniert hat – man darf sich doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Präsenz des Dichters im Laufe des 20. Jahrhunderts selbst bei Literaten und Germanisten gegenüber der von 1900 eklatant abgenommen hat. Damit befindet sich Chamisso bedauerlicherweise in guter Gesellschaft. Ihn wieder mehr ins öffentliche Gespräch zu bringen, haben verdienstvolle Editoren und Kommentatoren mit einigem Erfolg versucht, und dieser Erfolg ist auch der jüngst in Kunersdorf gegründeten Chamisso-Gesellschaft zu wünschen. In ihrer Satzung sind die Ziele der Gesellschaft zusammengefasst, und deren erstes heißt Interkulturalität, genauer: »Menschen und Institutionen aus allen Ländern und Sprachen zusammenzuführen, die sich im Sinne Chamissos aktiv für den übernationalen wissenschaftlichen und literarischen Austausch einsetzen.« Das ist ein Ziel, mit dem sich die Initiatoren und Organisatoren des Chamisso-Preises ohne weiteres identifizieren können. Diesen Preis und seine Geschichte möchte ich als Leuchtturm der Chamisso-Rezeption seit den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts bezeichnen. Denn die Initiative Harald Weinrichs, einen Preis für herausragende literarische Werke in deutscher Sprache, die von Autoren anderer Muttersprachen beziehungsweise Herkunftskulturen geschrieben wurden, nach Adelbert von Chamisso zu benennen, hat die Rezeption des zuvor ein wenig in Vergessenheit geratenen Dichters neu belebt und weitergeführt.

 

Der Adelbert-von-Chamisso-Preis wird seit 1985 verliehen, anfangs gemeinsam von der Robert Bosch Stiftung, der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und dem Institut für Deutsch als Fremdsprache der Universität München, seit 2004 allein von der in Stuttgart angesiedelten Stiftung. In seinem Aufsatz Ein Rinnsal, das Fluss und Strom werden wollte rekapituliert Harald Weinrich, der Initiator des Ganzen, die Vorgeschichte des Preises und teilt auch mit, weshalb Chamisso als Namensgeber der Auszeichnung dem ebenfalls ins Spiel gebrachten Elias Canetti letztlich vorgezogen wurde. Klar war, dass er »auf den verschlungenen Wegen des Exils hierzulande ein großer Dichter, ja ein Klassiker der deutschen Literatur geworden war«. Aber: »Bei der Option Chamisso spielte auch dessen weltbekannte Novelle von Peter Schlemihl, dem Mann ohne Schatten, eine beträchtliche Rolle. Es sollte damit deutlich werden, dass die ›Chamisso-Autoren‹, wie wir später gelegentlich verkürzt sagten, auf dem Weg in die deutsche Literatur ihren Schatten nicht einbüßen sollten.« Chamisso selbst habe sich, so Weinrich, mit einem national oder eurozentrisch begrenzten Weltbild niemals abgefunden. »Und so denke ich auch, dass er an dem Preis, der seinen Namen trägt, seine helle Freude gehabt hätte.« Wie dem auch immer sei – der Preis, dessen Zustandekommen naturgemäß nicht nur Harald Weinrich und der ihn finanziell tragenden Robert Bosch Stiftung zu verdanken ist, sondern auch etlichen anderen Personen, von denen hier nur Irmgard Ackermann und Karl Esselborn zu nennen sind, dieser Preis hat sich im Laufe der Zeit zu einem der angesehensten deutschen Literaturpreise entwickelt. Das in jeglicher Hinsicht weite Spektrum der Literatur, die von den durchaus sehr unterschiedlichen Preis- und Förderpreisträgern geschrieben wird, hat sich seinen festen Platz in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gesichert. Diese Literatur wird weltweit zur Kenntnis genommen und in Forschungsarbeiten und auf entsprechenden Tagungen analysiert und bewertet.

Mit den Augen des Fremden lautete der Titel der schönen Ausstellung, die das Kreuzberg Museum in Berlin vor sieben Jahren auf die Beine stellte, und in der Einleitung zu deren ebenso schönen Katalog heißt es programmatisch: »Chamisso war jemand, der in verschiedenen Kulturen, mit verschiedenen Sprachen, in unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten gelebt und mit Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit verkehrt hat. Gerade das hat ihn zu einem Wissbegierigen gemacht und zu einem offenen Geist … Neugier, Offenheit und vor allem Respekt im Umgang mit dem Fremden können wir noch heute von Chamisso lernen. Und noch etwas zeigt er uns: der Migrant, der seine Heimat verlässt, um in einem anderen Land zu leben, bereichert die Aufnahmegesellschaft – vorausgesetzt, die neue Heimat ist bereit, ihn mit dem von ihm mitgebrachten Kulturschatz anzunehmen.« Wenn man das gelten lassen möchte, dann ergibt sich die enge Verbindung des Autors und großen interkulturellen Vermittlers Adelbert von Chamisso mit seinen schreibenden Ur-Urenkeln und speziell den Chamisso-Preisträgern fast wie von selbst. Durch diese Autoren und ihre Werke lebt der Name Chamisso im 21. Jahrhundert weiter. Nicht nur, zu einem nicht zu übersehenden Teil aber doch.