DERMALEINST, ANDERSWO UND ÜBERHAUPT

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Unverhofft kommt oft
Vor zweihundertfünfzig Jahren wurde Johann Peter Hebel geboren

Man kann sich durchaus Gedanken darüber machen, was es bringt, sich an die großen Künstler der Vergangenheit vorwiegend dann zu erinnern, wenn runde Geburts- oder Todestage anstehen. Doch daran sind wir seit Langem gewöhnt. Immerhin – wir werden aufmerksam, und sollte es ein Dichter sein, lesen wir vielleicht (mal wieder?) in seinen Werken. Dass diese rasch greifbar sind, sei es auch nur in »Best of«-Büchlein, dafür sorgen die Verlage. Ausgewählte Geschichten aus dem Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes (1811), die bekanntesten Prosatexte des vor zweihundertfünfzig Jahren in Basel geborenen Johann Peter Hebel also, sind unlängst unter anderem bei Diogenes und Reclam erschienen. Sämtliche dieser Geschichten versammelt ein schöner dtv-Band. Zudem hat Bernhard Viel eine äußerst kenntnisreiche, gut lesbare Biografie veröffentlicht, die aus hier nicht darzulegenden Gründen der ebenfalls gerade erschienenen Lebensbeschreibung von Heide Helwig vorzuziehen ist. Er schreibt unter anderem, dass Hebels Blick auf den Menschen als duldende Kreatur »ein von der christlichen Ethik der Agape, dem einfühlenden Mitempfinden, gelenkter Blick« sei. Das führt ganz unmittelbar zu Kannitverstan, Der schlaue Husar, Der Barbierjunge von Segringen oder zu der scheinbar schlichten, in Wahrheit jedoch höchst komplexen Erzählung Unverhofftes Wiedersehen, zu allen weiteren Hebelschen Kalendergeschichten, auch zu den Alemannischen Gedichten und nicht zuletzt ins Zentrum der Persönlichkeit ihres Verfassers.

Man hat die oft anmutig-leicht anhebenden Hebelschen Erzählungen als hausväterlich und bieder, als brav und rechtschaffen, als dezidiert unpolitisch und sogar als ein wenig possierlich abgetan. Alles falsch! Nicht einmal dem Hebel-Bewunderer Walter Benjamin, der ihn als Dichter des Uneigentlichen und Unergründlichen sah, möchte man schlankweg zustimmen. Nein, man wird Hebels Geschichten heute eher als – im Sinne Montaignes – außerordentlich lebenskluge Texte lesen, als poetische Veranschaulichungen von Alltagsweisheit, die das mühevolle Erdendasein so angenehm wie nur eben möglich gestalten soll. »Man klagt häufig darüber, wie schwer und unmöglich es sei, mit manchen Menschen auszukommen«, lautet der erste Satz der Geschichte Das Mittagessen im Hof, in der ein Bedienter seinem oft »verdrießlichen« Herrn eine »gute Lehre« erteilt. »Das mag denn freilich auch wahr sein. Indessen sind viele von solchen Menschen nicht schlimm, sondern nur wunderlich …« Dieses »indessen« markiert die Richtung, die die Geschichte nehmen wird – wie immer bei Hebel hin zu Ausgleich, Versöhnung und besserer Einsicht. Oft scheint sich die Wendung zum Guten ganz einfach, ja quasi selbstverständlich zu entwickeln – auch wenn sie der Dichter erzähltechnisch noch so geschickt herbeizuführen weiß. Ein andermal beschließt eine didaktisch gemeinte Sentenz den Text, und wenn man dabei das »Merke!« mithört, so ist das ganz im Sinne des Verfassers. Geradezu berühmt ist das Ende von Kannitverstan: ». und wenn es ihm wieder einmal schwerfallen wollte, dass so viele Leute in der Welt so reich seien und er so arm, so dachte er nur an den Herrn Kannitverstan in Amsterdam, an sein großes Haus, an sein reiches Schiff und an sein enges Grab.«

Hebels Protagonisten leben in einer nur scheinbar idyllischen Welt, oft im Lande Baden, dessen Beziehungen zu Basel übrigens seinerzeit weit enger waren als heute, und sie müssen meist allerlei erdulden in diesem irdischen Jammertal. Das tun sie, und oft sind sie sogar fröhlich dabei. Wer nun – zu Unrecht – bei Hebel wenig mehr als selbstgenügsame Beschaulichkeit vermutet, der schlage die Gaunerepisoden auf oder gleich die wahrhaft »gräuliche Geschichte«, die durch »einen gemeinen Metzgerhund« ans Tageslicht gebracht worden ist. Das ist ein Text, der die Urfassung des Grimmschen Märchens von Hänsel und Gretel an Brutalität weit übertrifft. »Etwas so Atemloses, Irrwitziges, Grausames findet man nicht in den Schreckenskabinetten E. T. A. Hoffmanns, nicht in Heinrich von Kleists Zaubergärten der zügellosen Leidenschaften«, schreibt Hebels Biograf. »Bei Hebel findet man es, und umgekehrt findet man in dieser Geschichte so ziemlich den ganzen Hebel: den Aufklärer und gläubigen Moralisten im Dienst der Volksbildung.« Nicht umsonst wurde dieser Dichter von Ernst Bloch, Oskar Maria Graf oder Bertolt Brecht geradezu verehrt. In den neuen Auswahlbänden, am besten in dem wunderschönen, von Winfried Stephan zusammengestellten Diogenes-Taschenbuch, dessen Textgestalt der dreibändigen Werkausgabe von Otto Kleiber (1959) folgt, lernt man einen klugen, facettenreichen Dichter kennen, einen raffinierten und hintergründigen Poeten, der das Attribut des »Klassikers« noch nie gebraucht hat und auch im 21. Jahrhundert mühelos seine Leser finden wird.

Johann Peter Hebel: Unverhofftes Wiedersehen und andere Geschichten aus dem Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Ausgewählt von Winfried Stephan. Zürich 2009: Diogenes

Johann Peter Hebel: Schatzkästlein. Ausgewählt von Richard Müller-Schmitt. Stuttgart 2010: Reclam Verlag.

Johann Peter Hebel: Die Kalendergeschichten. Sämtliche Erzählungen aus dem Rheinländischen Hausfreund. Herausgegeben von Hannelore Schlaffer und Harald Zils. Mit einem Nachwort von Hannelore Schlaffer. München 2010: Deutscher Taschenbuch Verlag.

Bernhard Viel: Johann Peter Hebel oder Das Glück der Vergänglichkeit. Eine Biographie. München 2010: C. H. Beck Verlag.

Heide Helwig: Johann Peter Hebel. Biographie. München 2010: Hanser Verlag.

Humorvoll und lebensklug
Johann Peter Hebel erzählt uns die Bibel

Oh Gott, die Bibel! Wer kann von sich behaupten, das Alte Testament gründlich zu kennen? Das Neue? Und überhaupt – muss das sein? Biblische Geschichten, und das auch noch in einer Sprache, die, wie es im Nachwort heißt, »meilenweit« entfernt ist vom heutigen Umgangsdeutsch? Könnte ja richtig anstrengend werden! – Keine Sorge. An die luzide Sprache von Johann Peter Hebel (1760–1826) gewöhnt man sich rasch, und dass er seine Leser nicht oberlehrerhaft auf Biblisch-Christliches verpflichten will, sondern sie ausdrücklich zum kritischen Blick auf die alten Geschichten anhält, macht die Lektüre angenehm. Auch dass Gott hier niemals als unanzweifelbare Autorität auf einer Wolke thront, sondern »in, mit und unter den täglichen Dingen und Erfahrungen« (Thomas Weiß) sein Wirken entfaltet, nimmt für Hebels Geschichten ein. Die Bibel – oder vielmehr eine einleuchtende Auswahl ihrer Erzählungen – sei niemals zuvor so »flüssig, unterhaltsam, fast witzig« zu lesen gewesen, hat Hebels Biograf Bernhard Viel festgestellt. Es sind Best-of-Bible-Kurzgeschichten, die hier präsentiert werden – als Religionspädagoge, der er auch war, kannte der Dichter die Ungeduld und Fahrigkeit seiner Leser. Die müssen eigentlich nur neugierig sein und dazu bereit, sich überraschen und – warum nicht? – auch mal belehren zu lassen. Altmodisch ist hier nichts.

Nicht immer braucht es Jubiläen. Man kann, wenn man genügend verlegerischen Mut besitzt, fast zweihundert Jahre alte und dennoch heute lesenswerte Texte wie die Biblischen Geschichten auch ohne rundes Geburts- oder Todesjahr neu zugänglich machen. Der schon immer mutige Verlag Klöpfer & Meyer, in dem Hermann Bausinger 2009 Hebels Kalendergeschichten herausgegeben hatte, hat das gewagt, und herausgekommen ist ein schön aufgemachtes Buch, das eine Menge aktueller Lebensweisheiten bietet und nebenbei anschaulich zeigt, dass der nicht nur von Ernst Bloch, Walter Benjamin und Bertolt Brecht verehrte alemannische Dichter ein sprachlich grandioser, lebenskluger und verschmitzt-humorvoller Aufklärer war. Die Biblischen Geschichten bestätigen Martin Walsers Diktum: »Man mag Johann Peter Hebel noch so hoch schätzen, trotzdem unterschätzt man ihn.«

Johann Peter Hebel: Biblische Geschichten (1823). Mit einer Einführung von Karl-Josef Kuschel und einem Nachwort von Thomas Weiß. Tübingen 2017: Verlag Klöpfer & Meyer. 328 S.

Stunden von entsetzlicher Tiefe
Zwölf Meistererzählungen von Friedrich Hebbel

Der Marktflecken Wesselburen, Kreis Dithmarschen, Bundesland Schleswig-Holstein, ist dem Rest der Welt höchstens dadurch bekannt, dass Friedrich Hebbel am 18. März 1813 dort geboren wurde. Im Dezember 1863 hat man den Dichter, der inzwischen als einst vielgespielter Dramatiker fast noch unbekannter ist denn als einer der großen Tagebuchschreiber der Weltliteratur, auf dem Matzleinsdorfer Friedhof in Wien zu Grabe getragen. Was in den gut fünfzig Jahren seines Lebens wichtig war, kann man der Zeittafel entnehmen, die am Ende eines von Monika Ritzer mit einem instruktiven Nachwort versehenen Taschenbuchs steht, das zwölf Meistererzählungen aus ganz unterschiedlichen Lebensphasen enthält. Eine von mehreren Neuerscheinungen zu Hebbels zweihundertstem Geburtstag. Nicht jeder Bücherfan wird unbedingt Prosa aus dem 19. Jahrhundert lesen mögen. Kann man Hebbel empfehlen?

Das Alltagsleben, in dem seine Geschichten spielen, gibt es nicht mehr. Aber Katastrophen, große und kleine, die gibt es immer noch. Hebbel, dessen Sinn für kleinste Nuancen der deutschen Sprache außerordentlich genannt werden muss, ist ein unerbittlicher Gestalter von Tragik, Verwirrung, Zorn, Gewalt, Zerstörung und Tod. Kühn und sprachmächtig erzählt uns dieser Dichter die unglaublichsten, wildesten und abgründigsten Geschichten. Acht Seiten braucht er, und die an einem hellen Sonntagmorgen lustig vor sich hin singende junge Magd Anna ist tot, elend verbrannt in einem Flammeninferno, an dem sie, so ihre letzten Worte, selbst schuld ist. Ist sie das? »Nein, Tochter, ich bin nicht krank, ich sehe bloß voraus, wie alles kommen wird«, sagt der von obsessiven Wahnvorstellungen geprägte, unberechenbare und unheimliche Zitterlein in einer der besten Erzählungen des Bandes. »Gibt es nicht Gesichter, die mich anstarren, wie Larven der Hölle, Augen, deren feindlicher, vernichtender Strahl mich tötet? Hast du nie ein Lächeln gesehen, welches dir jede Freude, jede Lebenslust zusammenschnürte, wie eine Schlange?« Horror hoch drei, dieser Barbier Zitterlein, ebenso wie Die Kuh! Direkt lustig sind sie nicht, diese Texte. Aber sehr zu empfehlen.

 

Friedrich Hebbel: Meistererzählungen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Monika Ritzer. München 2013: Deutscher Taschenbuch Verlag. 254 S.

Der Ungelesene
Ludwig Börne im Taschenbuch

1837 starb Ludwig Börne im Pariser Exil. Heute gibt es Börne-Straßen und -Plätze, und ein angesehener Preis ist nach ihm benannt, immerhin. Aber der Schriftsteller selbst? Ja, die Briefe aus Paris, der zeitweise erbitterte Streit mit Heinrich Heine, abgelöst durch gemeinsamen Kampf gegen den damaligen Stuttgarter Literaturpapst Wolfgang Menzel – eine Geschichte der deutschen Literatur ohne Börne ist noch immer ein Unding. Und doch wurde er nach 1848 immer seltener gelesen. Der kämpferische Demokrat und meisterliche Stilist aus der Frankfurter Judengasse hat keine Gedichte, Dramen, Novellen oder Romane hinterlassen, sondern Essays, Reisebilder, Satiren, Theaterkritiken, Feuilletons – und oft wunderbare Briefe. Aber all das veraltet auch rasch. Nicht ohne Grund gibt es, anders als bei Zeitgenossen wie Mörike oder Chamisso, keine historisch-kritische Ausgabe seiner Werke. In den 1960er-Jahren haben Inge und Peter Rippmann eine fünfbändige Edition erarbeitet, und fast ein halbes Jahrhundert später hat Inge Rippmann daraus ein kleines Taschenbuch destilliert, das sich Das große Lesebuch nennen darf. Niemand könnte das besser als diese Expertin, und so kann man nun ganz bequem – Börne lesen. Soll man auch?

Dass diese frühe Edelfeder des aufgeklärten politischen Journalismus und des eleganten Feuilletons, die an vielen Fronten für Freiheit, Kosmopolitismus und Judenemanzipation kämpfte, durchaus poetisch schreiben konnte, beweisen mehrere der hier versammelten Texte, zum Beispiel die Monographie der deutschen Postschnecke oder die Denkrede auf Jean Paul. Poetische Züge wird man auch in vielen Briefen an seine Freundin und Muse Jeanette Wohl entdecken. Das meiste aber ist doch so sehr seiner Entstehungszeit verhaftet, dass es zum vollendeten Lesegenuss intimer Kenntnisse des vormärzlichen Biedermeier-Europa bedarf. Die aber kann naturgemäß weder die instruktive Einleitung noch der hilfreiche Anhang vermitteln. Schwerlich wird man behaupten dürfen, dass dieses verdienstvolle Lesebuch Lust auf den ganzen Börne macht. Er liegt einfach doch schon hundertfünfundsiebzig Jahre auf dem Friedhof Père Lachaise.

Inge Rippmann (Hrsg.): Ludwig Börne – Das große Lesebuch. Frankfurt am Main 2012: Fischer Taschenbuch Verlag. 335 S.

Der Weltpoet aus Franken
Vor hundertfünfzig Jahren starb Friedrich Rückert
Weltliteratur

In Schweinfurt ist er 1788 geboren, Rentamtmann war sein Vater. In Würzburg und Heidelberg hat er studiert, in Jena und Hanau hat er gelehrt, und später war er Professor in Erlangen und in Berlin. Ein eminenter Dichter, ein Orientalist, vor allem aber ein Sprachgenie: »Mit jeder Sprache mehr / die du erlernst, befreist / du einen bis daher / in dir gefangenen Geist.« Mit Deutschen Gedichten, darunter auch vierundsiebzig »Geharnischte Sonette«, wurde er ab 1814 bekannt, und spätere Gedichtsammlungen wie die sechsbändige Weisheit des Brahmanen (1836/39) oder der Liebesfrühling (1844) erreichten riesige Auflagen. Ja, es gab Zeiten, da wurden seine Werke eifrig gelesen und oft zitiert, und er galt als einer der ganz großen deutschen Dichter des 19. Jahrhunderts. Auch heute darf man behaupten: Das stimmt! Friedrich Rückert ist ein bedeutender Poet, und im Zeitalter des globalen Austauschs zwischen den Sprachen und Kulturen ist er es vielleicht mehr denn je. Doch seine großen Zeiten sind spätestens seit dem Ersten Weltkrieg vorbei, und es ist kaum zu erwarten, dass die zahlreichen Aktivitäten rund um seinen hundertfünfzigsten Todestag – er starb am 31. Januar 1866 in Coburg – sehr viel daran ändern werden. Sicher, der umfassenden Ausstellung »Der Weltpoet: Friedrich Rückert (1788–1866) – Dichter, Orientalist, Zeitkritiker«, die in Schweinfurt gezeigt wird und später, in leicht veränderter Form, auch nach Erlangen und Coburg kommt, sind viele interessierte Besucher zu wünschen. Und die vom 2007 gestorbenen Schriftsteller und Übersetzer Hans Wollschläger zusammen mit Rudolf Kreutner begründete historisch-kritische Ausgabe seiner Werke ist natürlich zu empfehlen – ein äußerst verdienstvolles philologisches Mammutprojekt, keine Frage!

Oft gelobt und kaum gelesen

Doch sind nicht historisch-kritische Ausgaben immer auch tonnenschwere Grabplatten? Von Rückert, dem Viel- und vielleicht Zuvielschreiber mit einem unglaublich umfangreichen, noch immer nicht völlig erschlossenen Werk, gibt es kaum etwas, was dem heutigen Lesergeschmack entgegenkommt, keinen Roman und überhaupt kaum Prosa. Seine Formenwelt, klassisch-romantisch plus orientalisch-üppig, ist die seiner Zeit. Wer aber wird sich für den jungen Lyrikstar der Befreiungskriegsjahre interessieren? Welche von kunstsinnigen Bürgertöchtern des 19. Jahrhunderts einst auswendig hergesagten Verse kennt denn man überhaupt noch? Wird man sich mit den ergreifenden Kindertotenliedern näher befassen, bloß weil deren Vertonungen durch Gustav Mahler bis heute immer wieder aufgeführt werden – »Du bist ein Schatten am Tage / Und in der Nacht ein Licht; / Du lebst in meiner Klage / Und stirbst im Herzen nicht«? Gustav Mahler war nicht allein – auch Franz Schubert, Robert Schumann, Johannes Brahms, Franz Liszt und noch Max Reger haben manche Perle aus dem Werk des aufrechten Franken aufgespürt und musikalisch veredelt. Aber deshalb Rückerts Gedichte lesen? Sich für seine Nachdichtungen des Hafiz oder Firdusi interessieren, sich gar für seine lyrische Lieblingsform erwärmen, das Ghasel? Dafür findet sich heutzutage wohl kaum noch Publikum. Einen Orientalistik-Professor und kongenialen Kulturwissenschaftler zu studieren, der aus nicht weniger als vierundvierzig Sprachen mit siebzehn Schriftsystemen übersetzte, ist erst recht eine Beschäftigung für Spezialisten. Seufz! Aber es hilft nichts, auch sein verdienter und äußerst rühriger Schweinfurter Fanclub (www.rue⮯ckert-gesellschaft.de) wird zustimmen müssen: Friedrich Rückert im frühen 21. Jahrhundert, das ist nicht unbedingt der Hit!

Poesie des Interkulturellen

So ganz verständlich ist das nicht. Denn es gibt gute Gründe, diesen in zahllosen Anthologien hervorragend vertretenen Dichter nicht ins bloß Antiquarische absinken zu lassen. Sicher war er ein »Hausdichter des Biedermeier«, wie Hermann Glaser ihn in Franken – Eine deutsche Literaturlandschaft nennt. Doch ob das »Biedermeier-Etikett« auch heute noch den Zugang zu einer angemessenen Beurteilung seiner Werke verbaut, wie Richard Dove im Vorwort zu seiner verdienstvollen Ausgabe zuvor unveröffentlichter Gedichte befürchtet, scheint fraglich. Abgesehen davon – aktuelle Anlässe gäbe es auch. Was ist eigentlich momentan angesagter als eine profunde Auseinandersetzung mit »Abendland« und »Morgenland«, dem Zentralthema seines Schaffens? Oder, um noch einmal Glaser zu zitieren: »Gibt es etwas Aktuelleres als den Versuch, durch gegenseitiges Verstehen – nicht nur in politischen und sozialen Fragen – Vertrauen zu gewinnen und somit zu einem versöhnten Miteinander zu gelangen?« Diesen Versuch hat der Übersetzer und Nachdichter Rückert quasi zu seinem Lebenszweck erhoben. Wobei ihm das Kennenlernen des Anderen immer wichtiger war als die Urteile der Philologen: »Der Übersetzung Kunst, die höchste, dahin geht, / Zu übersetzen recht, was man nicht recht versteht.« Den Puristen mag das ein Graus sein – Zeitgenossen wie der in Teheran geborene Münchner Dichter SAID schätzen Rückerts Übertragungen bis heute.

Plädoyer für ein Lesebuch

Er muss einem ja nicht gleich wahnsinnig sympathisch sein. Ja, Rückert war ein biederer, manchmal verstockter, sehr eigensinniger Provinzler und Quartals-Misanthrop, und er war ein trutziger Verfechter eines kleindeutschen Reichs, ein wahrer Patriot, der zeitlebens an seinem noch ungeeinten Vaterland litt und es kurz vor seinem Tod mit Zwölf Kampfliedern für Schleswigholstein kräftig dabei unterstützte, den bösen Dänen eins aufs Haupt zu geben. Seine Liebe zur fränkischen Heimat war innig, seine Aversion gegen moderne Metropolen war es auch – noch heute könnte man überhebliche Hauptstadtbewohner ärgern, indem man Rückert zitiert: »Manchmal gefällt mir es hier nicht recht; dann denk' ich, wie wär dirs, / Wärst du jezt in Berlin? Und es gefällt mir sogleich.« Das war auf seine eher unglücklichen Professorenjahre in Berlin gemünzt und bezeugt einmal mehr, dass Friedrich Rückert zu quasi allen Lebenssituationen und Lebensereignissen Gedichte schrieb. Wie sein keineswegs langweiliges Leben verlief, kann man im ersten Teil einer zum hundertfünfzigsten Todestag neu aufgelegten Studie von Annemarie Schimmel erfahren; dass sich die verdiente Orientalistin im zweiten Teil fast ganz seinen dem Laien höchsten Respekt einflößenden Orientstudien widmet, wird man ihr nachsehen – lernen kann man dabei eine ganze Menge. Und abgesehen vom Lernen – man kann sich von Rückert auch prächtig unterhalten lassen. So wenig beachtet wie heute müssten er und sein Lebenswerk nicht bleiben. Ein aus heutigem Zeitbewusstsein heraus sorgfältig zusammengestelltes Rückert-Lesebuch könnte dazu beitragen. Wer packt es an?

Friedrich Rückert: Gedichte. Hrsg. von Walter Schmitz. Stuttgart 2005: Reclam Verlag.

Friedrich Rückert: »Jetzt am Ende der Zeiten«. Unveröffentlichte Gedichte. Hrsg. von Richard Dove. Frankfurt am Main 1988: Athenäum Verlag (vergriffen).

Friedrich Rückert: Werke. Historisch-kritische Ausgabe (Schweinfurter Edition). Begründet von Hans Wollschläger und Rudolf Kreutner. Hrsg. von Rudolf Kreutner, Claudia Wiener und Hartmut Bobzin. Göttingen 1998 ff.: Wallstein Verlag.

Annemarie Schimmel: Friedrich Rückert. Lebensbild und Einführung in sein Werk. Neuausgabe. Göttingen 2015: Wallstein Verlag.