DERMALEINST, ANDERSWO UND ÜBERHAUPT

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Was vielleicht bleibt
Noch einmal zu Friedrich Rückert

Das »Rückert-Jahr« 2016 ist vorbei. Die große, in Schweinfurt, Erlangen und Coburg gezeigte »Weltpoet«-Ausstellung war gut besucht, die Wissenschaft hat sich intensiv mit dem fränkischen Dichter, Übersetzer und Orientalisten befasst – Friedrich Rückert ist hunderteinundfünfzig Jahre nach seinem Tod bekannter, als er es vor zwei Jahren war. Ob er auch gelesen wird? Bleiben wird auf jeden Fall der opulente Ausstellungskatalog, den man bis auf Weiteres als das definitive Standardwerk über diesen Poeten bezeichnen darf. Die Festrede zur Eröffnung der Ausstellung, gehalten am 7. April 2016 in Schweinfurt, hatte der 1967 geborene Kölner Islamwissenschaftler und Übersetzer Stefan Weidner übernommen. In der Reihe Göttinger Sudelblätter liegt sie nun gedruckt vor.

Weidner, für den der Dichter – neben vielem anderen – ein »poetisierender Blogger vor der Zeit« war, geht den »untergründigen Korrespondenzen zwischen Poesie und Flucht« nach. Lektüre für Spezialisten? Gewiss! Denn der Autor interpretiert Gedichte und Nachdichtungen Rückerts und stellt dessen Art und Weise des Übersetzens vor – alles in bester Germanistenmanier. Aber nicht nur. Denn Weidner sieht Rückert und seine Zeitgenossen zwischen einem durch die Französische Revolution befreiten politischen Bewusstsein und einem wohl erst 1871 endendem unfreien politischen Sein dazu verurteilt, »mit einer tiefen Zerrissenheit zu leben – einer Zerrissenheit, die heute auf ähnliche Weise in der arabisch-islamischen Welt erlebt wird«. Interessant! Während sich viele Intellektuelle und Künstler nach 1800 der Religion zuwenden, öffnet sich Rückert für die Kultur des Orients – eines Orients allerdings, »der sich aus wenig anderem als aus alten Texten zusammensetzt, nicht aus realen politischen Verhältnissen, geschweige denn lebenden Menschen«. Rückerts Orientvision sei vor allem eine »Chiffre für Andersheit« und damit etwas, was das heute als »Westen« bezeichnete Abendland im 21. Jahrhundert für viele Menschen aus islamisch geprägten Ländern darstellt – »ein offenes Feld für Projektionen«. Spannend! Sicher, niemand glaubt heute mehr an Rückerts Vorstellung von »Weltpoesie als Weltversöhnung«. Die Dichtung aber bleibt, und sie entfaltet weiterhin ihre »subversive Kraft« – zeigt sie doch immer wieder, dass es »andere Formen des Ausdrucks und der Weltwahrnehmung« gibt als die in den Medien präsenten Halbwahrheiten: »Poesie als Fluchthelferin, Schlepperin, Schleuserin in alternative geistige Gefilde.« Wenn uns, wie der Festredner schließt, die Poesie auch heute dabei helfen kann, »die aufdringliche Präsenz einer sich als absolut gerierenden Gegenwart zu konterkarieren«, dann ist das doch schon mal was, oder?

Stefan Weidner: Fluchthelferin Poesie. Friedrich Rückert und der Orient. Göttingen 2017: Wallstein Verlag. 62 S.

Der Schatz im Wörtersee
Vom Leben und Streben des Karl May

Mein Leben und Streben heißt Karl Mays 1910 erschienene Autobiografie, und man kann ihr genauso wenig trauen wie allen anderen Schriften des vor hundert Jahren in die ewigen Jagdgründe eingegangenen sächsischen Schwadroneurs, ohne den wir Winnetou, Old Shatterhand, Sam Hawkens, Kara Ben Nemsi, Hadschi Halef Omar, den Schut und all die anderen nicht kennengelernt hätten. Die Lebensbeschreibung von Helmut Schmiedt, der ein ausgewiesener Kenner der Materie ist und zudem stellvertretender Vorsitzender der Karl-May-Gesellschaft, bestätigt einerseits das seit Langem bekannte »Bild vom ebenso wirkungsmächtigen wie trivialen Großkomplex Karl May«, lässt aber andererseits keinen Zweifel daran, dass die Beschäftigung mit dem 1842 in Hohenstein-Ernstthal im Erzgebirge geborenen Schriftsteller auch bei Kulturwissenschaftlern inzwischen »hohe Dignität« genießt. Wobei das dem breiten Publikum weniger bekannte Spätwerk in den Vordergrund rückt.

Ein faszinierendes Thema: Aus dem in elenden Umständen aufgewachsenen, oft hungernden Knaben wird ein ziemlich störrischer Seminarist, später ein Vagabund, Betrüger und Zuchthäusler, dann ein eifriger Schreiber und geschickter Verrührer konventionellen Lesestoffs, und schließlich, ab 1880, ein bald von einem Millionenpublikum heiß geliebter »Meister der Illusionen«, der bis ins späte 20. Jahrhundert hinein seine Leser »in einem Maße begeistern wird, wie es keinem anderen deutschen Autor je gelungen ist«. Und am Ende ein wohlhabender und leidlich angesehener, nicht aber unbescholtener Untertan, ein rechthaberischer Stammtischflunkerer und treudeutscher Pantheist, der längst zum Markenartikel geworden ist und ein spannendes Nachleben haben wird – Pierre Brice und Lex Barker lassen grüßen. Eine grundsolide, manchmal ein wenig trockene und insgesamt doch äußerst anregende Dichterbiografie legt Helmut Schmiedt vor, viel Zeitgeschichte und viel Psychologie ist drin und ein wenig Germanistik obendrauf. Wer sie gelesen hat, weiß über Karl May alles, was man heute wissen kann. Die schönste May-Biografie allerdings ist und bleibt ein Roman aus dem Jahr 1980: Swallow, mein wackerer Mustang von Erich Loest.

Helmut Schmiedt: Karl May oder Die Macht der Phantasie. Eine Biographie. München 2011: C. H. Beck Verlag. 368 S.

Allzeit Trotz im Kopf!
Carl Spitteler? Heute?

1919, fünf Jahre vor seinem Tod, erhielt er als bisher einziger gebürtiger Schweizer den Nobelpreis für Literatur: Carl Spitteler, 1845 in Liestal bei Basel geboren, Schüler des berühmten Jacob Burckhardt, Dichter, Essayist und Kritiker, zu Lebzeiten bekannt im ganzen deutschsprachigen Raum. Heute ist er so gut wie vergessen, außerhalb der Schweiz sowieso, weitgehend aber auch in der Eidgenossenschaft selbst. Kaum jemand liest Spitteler, auch die Schriftsteller von heute lesen ihn nicht. Wieso eigentlich?

»Dichter, Denker, Redner« lautet der Untertitel eines schön aufgemachten Lesebuchs, dessen Cover das Spitteler-Porträt von Ferdinand Hodler ziert. »Die mythische Chiffre seines Lebens wie seines Schaffens ist der trotzige Einzelne, der sich seine Bahn bricht durch die Masse der Gleichgeschalteten, allein mit einem unbezähmbaren Willen«, schreibt Peter von Matt in seinem Vorwort. Modern ist das eher nicht, und vom »demokratischen Empfinden der Schweiz« ist es weit entfernt. Mit seiner Ende 1914 gehaltenen Rede Unser Schweizer Standpunkt – vielleicht der einzige Spitteler-Text, den man noch halbwegs kennt – habe er »einheimischen Ruhm« erworben, seine »solide Präsenz in der deutschen Literatur« jedoch verloren. An seiner Verweigerung der Parteinahme für das hochgerüstete, kriegslüsterne und protzige Kaiserreich im Norden und seinem engagierten Plädoyer für den »richtigen neutralen, den Schweizer Standpunkt« kann das schon lange nicht mehr liegen. Woran dann? Vor allem wohl daran, dass nicht nur sein Roman Imago, erstmals 1906 in Jena erschienen und hier in ganzer, ermüdender Länge abgedruckt, hoffnungslos veraltet ist – seine Dichtungen, die im zweiten Teil des Buchs in Auszügen vorgestellt werden, sind es ebenfalls, auch wenn Peter von Matt den Olympischen Frühling (1900–1905) als »das spektakulärste Ereignis deutschsprachiger Fantasy-Literatur« zu retten sucht. Natürlich ist Xaver Z’Gilgen (1888) eine hervorragend rhythmisierte gute Erzählung, natürlich bleibt eine sprachgewaltige Reportage wie Der Gotthard (1896) spannend zu lesen, und selbstverständlich finden sich auch in diesem Auswahlband fulminante, bedenkenswerte Reden wie die über Gottfried Keller (1919) oder geistreiche Essays wie der über Die Persönlichkeit des Dichters (1892). Was Spitteler dort über den Realismus sagt – »Um ein großer Realist zu werden, muss einer tief nach innen geblickt haben« –, über den »Misserfolg«, über die »Verbitterung« oder über die »Eitelkeit«, möchte man einigen Zeitgenossen dringend zur Lektüre empfehlen. Und die politischen Eiferer von rechts sollten seinen Aufsatz Vom ›Volk‹ (1886) lesen und dann damit aufhören, »jede Zusammenrottung für Volk anzusehen und in jedem Gebrüll die Volksstimme zu hören«. Aber wer liest Essays und Reden von vorgestern? Nur sehr wenige Experten wie zum Beispiel der Zürcher Literaturwissenschaftler Philipp Theison, der in seinem luziden Nachwort plausibel herausarbeitet, weshalb Carl Spittelers Werk doch ein gewaltiges Stück hinter der literarischen Moderne zurückbleibt. Selbstverständlich plädiert Theison zugleich dafür, Spitteler »wiederzuentdecken«, um ihn »aus der Vergessenheit zu befreien«. Ob das gelingen wird, vielleicht mithilfe der vielen für 2019 angekündigten Aktivitäten und Publikationen? Eher nicht, darf man vermuten, und damit wäre Carl Spitteler in bester Gesellschaft. Aber vielleicht ja doch, wenigstens ein bisschen? Man darf gespannt sein.

Carl Spitteler – Dichter, Denker, Redner. Eine Begegnung mit seinem Werk. Hrsg. von Stefanie Leuenberger, Philipp Theison und Peter von Matt. München / Zürich 2019: Kollektion Nagel & Kimche. 471 S.

Ein etwas schrilles Fräulein
Armin Strohmeyr auf den Spuren einer Dichterin zwischen den Völkern

Spannend geschriebene und flüssig zu lesende Biografien bekannter Persönlichkeiten aus Kultur und Geschichte braucht der Buchmarkt immer. Man kann umfangreiche, jedes Detail im Leben des Helden ausspinnende biografische Romane schreiben, wie es Rainer Stach in seiner ambivalent beurteilten Kafka-Biografie versucht hat. Man kann sich sachlich und nüchtern geben und die Konturen seines Protagonisten knapp und prägnant umreißen, wie es Stefan Rebenich in seiner Biografie Theodor Mommsens getan hat, die allerdings – trotz des Lobes, das sie fast durchwegs erfahren hat – nicht ganz ohne ermüdende Erbsenzählerei auskommt. Armin Strohmeyr, 1966 geboren und durch ein treffliches Klaus-Mann-Porträt hervorgetreten, steht mit seiner interessanten und lesbaren Studie über Annette Kolb dem Mommsen-Biografen näher als dem Kafka-Nachdichter. Er hat sich im Münchner Nachlass der Schriftstellerin umgesehen, und er hat bislang Unbekanntes aus dem Bayerischen Kriegsarchiv, dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach und dem Stadtarchiv von Badenweiler zutage gefördert. Dort lebte Annette Kolb, mit Blick in die Schweiz, zehn Jahre lang neben dem Ehepaar Schickele, und auch ihre Briefe an René Schickele aus den Jahren 1920 bis 1933 hat der sachlich und unaufgeregt vorgehende Biograf gesichtet. Man muss sein detailreiches Buch loben, auch wenn es partienweise mehr eine Vermittlung wissenswerter Fakten darstellt, als uns eine unverwechselbare Persönlichkeit so vor Augen zu führen, dass wir uns deren Werken mit neu geweckter Spannung (wieder) näherten. Was man von einer Biografie vielleicht doch auch erwarten mag, zu Recht.

 

Von Annette Kolb, die erst 1967 in München gestorben ist, aber – auch wenn sie das selbst nicht immer wahrhaben wollte – schon 1870 zur Welt kam, weiß man heute nicht mehr viel. Eine Auswahl- oder gar Gesamtausgabe ihrer Werke gibt es nicht. Man kennt vielleicht Daphne Herbst (1928), für Armin Strohmeyr eine Romanmixtur zwischen Buddenbrooks und Zauberberg. Noch bekannter, nicht zuletzt durch seine Verfilmung, wurde ihr Roman Die Schaukel (1934). Annette Kolb, die auch Übersetzerin war, hat noch viel mehr geschrieben in ihrem langen Leben, heute vergessene Romane wie Das Exemplar, eine Reihe ansprechender Erzählungen, populäre Musiker-Biografien, zahlreiche Essays, Feuilletons, Hörfunktexte und manch anderes, und sicherlich bleibt hier auch in Zukunft noch einiges zu entdecken. Bedeutsam ist, und ihr Biograf stellt es zu Recht in den Vordergrund, dass ihre binationale Herkunft Leben und Werk maßgeblich bestimmte. Die altbayerisch-bürgerlich, allerdings mit extravagantem Bohème-Touch aufgewachsene Tochter eines Münchner Gartenbauarchitekten und einer Pariser Pianistin war ein musikalisch und literarisch überaus begabtes Kind, das sich auf Französisch, Englisch und Italienisch ebenso verständigen konnte wie im geliebten Münchner Idiom. »Sie war katholisch und aufklärerisch zugleich, konservativ und liberal«, schreibt Strohmeyr, und dass sie eine vehemente Preußen-Hasserin war, hebt er mehrfach hervor. Europäische Prägungen zu erfahren und kosmopolitische Neigungen zu verspüren in einer Zeit, die sich anschickte, die alte Welt zu zerstören – das legte eine pazifistische Haltung nahe, und mit der machte sich Annette Kolb, ähnlich wie ihr Freund René Schickele, im Deutschland des Ersten Weltkriegs gründlich unbeliebt. Das Bayerische Kriegsministerium überwachte sie nicht nur, wie Strohmeyr detailliert belegen kann, es beschnitt ihr auch die Arbeitsmöglichkeiten. Unterstützt von Walther Rathenau emigrierte sie in die Schweiz, wo sie beim Berner Sozialistenkongress 1919 Kurt Eisner und Hugo Haase kennenlernte. Das Jahrzehnt zwischen 1923 und 1933 markiert »die Jahre, in denen sie die höchste Anerkennung bei Kritikern und Kollegen genoss und die größte Leserschaft besaß … Ihr Name wurde gleichrangig neben Thomas Mann, René Schickele, Hermann Hesse oder Stefan Zweig gestellt. Es war Annette Kolbs beste Zeit«. 1929 erschien ihre Monografie über Aristide Briand, und 1931 bekam sie den Gerhart-Hauptmann-Preis. Ein Jahr später machte die für ihre Zerstreutheit berüchtigte Zweiundsechzigjährige den Führerschein und kaufte sich ein Auto, was zu manch kuriosen und nicht ganz ungefährlichen Straßenszenen geführt haben soll. Die Hochachtung vor ihrem couragierten Wirken mindert das nicht – man sieht das immer etwas skurril wirkende Fräulein, das Thomas Mann im Doktor Faustus in der Figur der Jeannette Scheurl porträtiert hat, nach Strohmeyrs Forschungen genauer denn zuvor auch als eine eminent politische, der Völkerverständigung verpflichtete Publizistin, und parallel dazu als Frau mit einem fatalen, aber immer gut gemeinten Hang zu meist nur Verwirrung stiftender Privatdiplomatie. Die Nazis waren ihr natürlich alles andere als wohlgesonnen, und im Frühjahr 1933 musste sie ihre geliebte Heimat erneut verlassen.

Annette Kolb reiste herum, vorwiegend in Frankreich, Österreich und Irland. Sie blieb schließlich in Paris, wurde 1936 französische Staatsbürgerin, besuchte 1937 zum letzten Mal die Salzburger Festspiele, über die sie ein erfolgreiches Buch verfassen sollte, und floh 1940/41, unter größten Schwierigkeiten, über Genf und Lissabon bis nach New York. Da war das Fräulein, das die Einsamkeit wohl kannte und schon von vielem und vielen Abschied hatte nehmen müssen, bereits im Seniorinnenalter – eine verschrobene, aber wache, streitbare und Respekt einflößende ältere Dame, deren Memento überschriebener Bericht über ihre Exilzeit »bis heute zu erschüttern vermag«, wie Strohmeyr betont. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann sie ein rastloses und umtriebiges »Exil nach dem Exil«, und erst seit 1961 lebte sie wieder in München. Annette Kolb, eine durchaus tragische Figur und zugleich ein komisches Lokaloriginal, war weiterhin literarisch, publizistisch, musikalisch und politisch aktiv. Sie hielt große Stücke auf Charles de Gaulle und bekam nicht nur für ihre Verdienste um die deutsch-französische Verständigung hohe und höchste Auszeichnungen. Und vor der Mühe einer Reise nach Israel, für das sie sich besonders nach ihrer Begegnung mit dem Schriftsteller Elazar Benyoëtz interessierte, schreckte sie noch 1967 nicht zurück. Da war sie 97. Es ist schön, dass Annette Kolbs bewegtes Leben durch Armin Strohmeyr eine würdige und seiner Bedeutung angemessene Darstellung erfahren hat.

Armin Strohmeyr: Annette Kolb – Dichterin zwischen den Völkern. München 2002: Deutscher Taschenbuch Verlag. 333 S.

Die Dame mit dem Hütchen
Fragen an Hiltrud und Günter Häntzschel

Zum fünfzigsten Todestag der Dichterin haben Sie eine repräsentative und ansehnliche, dazu auch noch erschwingliche Ausgabe der Werke von Annette Kolb herausgegeben, mit akribischen Kommentaren, ausführlichen Erläuterungen, aufschlussreichen zeitgenössischen Rezensionen – kurzum: eine philologische Meisterleistung. Herzlichen Glückwunsch! – Warum ausgerechnet Annette Kolb? Ist sie nicht auch zu Recht ein bisschen vergessen?

GH: Gleichaltrige Autorinnen wie etwa Gertrud von Le Fort, Ina Seidel oder Isolde Kurz sind heute nicht mehr oder nur schwer erträglich zu lesen. Annette Kolb dagegen in ihrer forschen, spontanen und oft witzigen Art wirkt in vielen ihrer Texte immer noch frisch und lebendig. Sie greift Themen auf, die nach wie vor aktuell sind: Völkerverständigung, die Sorge um Europa, energische Abwehr von Kriegen, Kosmopolitismus, veränderte Geschlechterrollen. Gerne provoziert sie mit für die damalige Zeit mutigen Äußerungen: »Wie die Dinge liegen, sollten Generäle vom Kriege, gar einem künftigen, nicht mehr sprechen. Denn davon verstehen sie nichts.«

Zweifellos lassen sich Notizen wie »Wenn mir jemand sagt: ›Ich bin kein Nazi, aber …‹, dann weiß ich schon, dass er einer ist« immer bestätigend zitieren. Aber reicht das schon, um irgendeine politische Aktualität der Autorin zu begründen?

HH: Annette Kolbs politisches Engagement lässt sich keineswegs mit ein paar Schlagwörtern umreißen. Dafür ist es viel zu eigensinnig. Wenn eine relativ junge Schriftstellerin sich 1915 in Dresden hinstellt und bei einem Vortrag den französischen, aber eben genau so heftig den deutschen Chauvinisten, vor allem der Presse, die Leviten liest, dann war das nichts Gewöhnliches. Sie wurde ausgepfiffen, sie wurde von der Polizei verfolgt, erfuhr Passentzug und Briefzensur und konnte sich gerade noch ins Exil nach Bern retten. Sie drang vor zu einflussreichen Politikern, um sich für ihre Sache, für eine deutsch-französische freundschaftliche Partnerschaft und überhaupt gegen jeden Krieg einzusetzen, sie besuchte Pazifistenkongresse, interviewte Aristide Briand, zeigte in Feuilletons in ihrem Beschwerdebuch 1932, wie bedroht die Demokratie schon war, und wandte sich 1943 aus dem amerikanischen Exil »an das deutsche Volk«.

Oft hört man, dass dieses eigensinnige, deutsch-französische Bürgerfräulein ihres gelebten Europäertums und ihres unbedingten Pazifismus wegen allen ehrenden Gedenkens wert sei, dass man aber höchstens noch Daphne Herbst und vor allem Die Schaukel lesen könne. Alles andere sei antiquiert, sei kaum anderes als im vornehm-gestelzten Ton des kultivierten Salons gehaltenes höheres Geplauder über vergessene Nebensächlichkeiten – und habe uns kaum mehr was zu sagen. Ein Vorurteil?

GH: Das ist wahrlich ein Vorurteil und erklärt sich wohl vor allem daraus, dass von ihren Veröffentlichungen bislang auf dem Buchmarkt lediglich die Romane zu finden waren. In unserer Ausgabe wird vieles andere Lesenswerte zu entdecken sein. Ich denke etwa an ihre in Italien spielenden ironisch-satirischen Erzählungen wie Spitzbögen oder Veder Napoli e partire, aber auch an ihre vielen Glossen, Skizzen, Essays, Gegenwartsbeobachtungen im Deutschland der 1920er- und beginnenden 1930er-Jahre, die den dynamischen und kontroversen Geist der Weimarer Republik und ihrer Kultur widerspiegeln.

In Thomas Manns Doktor Faustus gibt es die Figur der Jeanette Scheurl, und von der heißt es, sie schreibe »in einem reizend inkorrekten Privatidiom damenhafte und originelle Gesellschaftsstudien, die des psychologischen und musikalischen Reizes nicht entbehrten«. Dieses Urteil wird meistens als zu kritisch, unzulässig verkürzend, ja als herablassend, arrogant und frauenfeindlich, auf jeden Fall als unzureichend angesehen. Aber stimmt es nicht auch? Hat nicht auch Kolbs Freund René Schickele bemerkt, dass es in ihrem Schreiben einfach »drauflos« und »über Stock und Stein« geht?

HH: Annette Kolb war mit den Familien Pringsheim und Mann von Kindheit an befreundet. Es gab ein grundsätzliches Wohlwollen, dem Thomas Mann vielleicht zu viel zugemutet hat. Gerade in der Zeit des Exils hat Thomas Mann sie immer unterstützt; sie besuchte die Familie Mann in Princeton. Was Sie hier zitieren, ist ja gerade nicht der billige Spott über ihr Äußeres, »die mondäne Hässlichkeit«, die »Ziege« und vor allem die nebenbei eingeflossene kritische Bemerkung über Annette Kolbs Mutter, die die Dichterin schon deutlich verstimmte. René Schickeles Urteil über ihr Schreiben galt ja ganz speziell ihrer Schlussarbeit am Roman Die Schaukel, geschrieben in den verstörenden Monaten nach der Flucht aus Deutschland und in der Ungewissheit, ob er überhaupt noch erscheinen kann. Es gibt von Schickele auch durchaus begeisterte Zustimmung zu ihrer Arbeit, er schwärmt vom Exemplar als einem »fantastischen Roman«, sie ist ihm »ein Phänomen an psychologischer Hellsichtigkeit«.

München, Annette Kolbs Geburts- und Sterbestadt, erscheint in fast jeder Phase ihres Lebens und Schreibens als schwankende Theaterbühne, auf der deutsche Geschichte gegeben wird. Ihr München ist vom proletarischen München, wie es bei Oskar Maria Graf und vielen anderen ihrer Zeitgenossen geschildert wird, meilenweit entfernt. Ob sie jemals in Untergiesing, im Westend oder in Allach war? Andererseits gibt es kluge und wundersame Passagen, etwa in Corinthen, Sultaninen, Ingwer und Zibeben. Aber hat man nicht auch bei ihrer München-Prosa immer wieder den Eindruck, hier beuge sich jemand mit Lorgnon und Spitzenhäubchen über mehr oder minder skurrile Geschehnisse?

GH: Mit Sigi Sommer oder Oskar Maria Graf darf man Annette Kolb nicht vergleichen. Als Tochter eines bayerischen Hofgärtners und einer französischen Künstlerin hat sie einen anderen Blickwinkel. In ihren München-Romanen kritisiert sie satirisch die rückständige, morbide Hofgesellschaft im Vorkriegs-München im Spannungsfeld Bayern-Preußen und Katholizismus-Protestantismus; sie schildert die unkonventionellen Abenteuer ihrer Münchner Familie in der Zwischenkriegszeit. Nach ihrer Rückkehr aus dem amerikanischen Exil ist sie eine aufmerksame Beobachterin der Münchner Kulturszene um Erich Kästner, registriert das Nachkriegsklima in München und meldet sich im Bayrischen Rundfunk zu Wort.

Auffällig ist, wie oft und wie intensiv Annette Kolb immer wieder über Musik geschrieben hat. Es bleibt eine ganze Menge an Bedenkenswertem. Ist sie eigentlich als Musikschriftstellerin gebührend gewürdigt worden?

HH: Annette Kolb ist mit Musik aufgewachsen, von Musik durchdrungen. Mit siebenundneunzig Jahren so gut wie erblindet, konnte sie nur noch Klavier spielen. Ihre Urteile in Sachen Musik halten auch Kenner für gültig. Das Mozart-Buch war buchhändlerisch ihr erfolgreichstes, wurde ins Französische, Englische und argentinische Spanisch übersetzt. Weshalb wir es in unsere Ausgabe nicht aufgenommen haben? Unser Platz war begrenzt und die Mozart-Forschung ist in den letzten Jahren in einem Ausmaß angewachsen, dass sich der Liebhaber eine siebzig Jahre alte Mozart-Biografie eher auf dem Antiquariatsmarkt beschaffen kann. Ihr schönes Nachkriegsbuch über Richard Wagner und Ludwig II. ist keineswegs überholt, ebenso wie ihre Begeisterung über die Besuche bei den Salzburger Festspielen, auch wenn sie stets von den politischen Ereignissen überschattet waren.

 

Am Ende ihres langen Lebens, 1964, hat Annette Kolb den in Österreich geborenen israelischen Aphoristiker und Dichter Elazar Benyoëtz kennengelernt, im Alter von siebenundneunzig Jahren hat sie sogar das junge Israel besucht. Was war das für eine Freundschaft? Warum hat sie die Strapazen einer solchen Reise auf sich genommen? Was konnte sie überhaupt noch wahrnehmen von der neuen Wirklichkeit in Palästina?

GH: Annette Kolb hatte sich in ihrem Essay Gelobtes Land – gelobte Länder von 1950/51 selbstkritisch mit dem jüdischen Problem auseinandergesetzt und sich von dem 1948 gegründeten Staat Israel eine Lösung der »Judenfrage« versprochen. Mit Elazar Benyoëtz, den sie 1964 in München persönlich kennengelernt hatte, blieb sie bis zu ihrem Tod innig verbunden. Ihre Korrespondenz zeigt ein wachsendes Verständnis für das Judentum und erweckte in ihr den Wunsch, nach Israel zu reisen, was nach vielen Schwierigkeiten erst in ihrem Todesjahr 1967 zustande kam, als sie tatsächlich am Ende ihrer Kräfte war. Und so finden sich von diesen Eindrücken auch keine Spuren mehr in ihrem Werk.

Vielen Dank für das Gespräch und weiterhin viel Erfolg mit der neuen Werkausgabe!

Annette Kolb: Werke. Hrsg. im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot-Stiftung von Hiltrud und Günter Häntzschel. Mit einem Essay von Albert von Schirnding. Göttingen 2017: Wallstein Verlag. 4 Bde., 2260 S.

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