Klaus Mann - Das literarische Werk

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Das Zimmer – mit dunkler Tapete, rundem, teppichbelegtem Tisch in der Mitte, blendend weißem Bett – schien zu einer bescheidenen, aber peinlich sauberen Familienpension zu gehören. Doktor Rüteli – jetzt schon entschieden um eine Nuance strenger und gravitätischer als vorhin im Taxi – sagte: »Ich schlage vor, Herr Korella, daß Sie zunächst ein warmes Bad nehmen. Schwester Rosa wird die Freundlichkeit haben, inzwischen Ihren Koffer auszupacken – und ich hoffe Sie damit einverstanden, daß ich bei dieser Gelegenheit ein wenig Ihre Sachen untersuche, ob Sie nicht vielleicht versehentlich etwas von der Droge mitgenommen haben. Bitte, lassen Sie auch Ihre Kleider hier zurück. Schwester Rosa bringt Ihnen einen Bademantel.« Martin, der übrigens wirklich den Rest seines Heroinvorrates während der Reise verbraucht hatte, sagte ziemlich gekränkt: »Wie Sie wünschen, Herr Doktor. Sehen Sie nur sorgfältig nach! Sie werden nichts finden.« Die Nurse lächelte, milde und verführerisch. Fräulein Bürstel, die in der offenen Türe stehengeblieben war, sagte mit dummer, krähender Stimme: »Das Badezimmer ist im ersten Stock, Herr Korella.« – Der Doktor, schon über den offenen Koffer geneigt, konstatierte, nicht ohne Ekel: »Sie haben ja Ihre Injektionsspritze eingepackt! Kein gutes Zeichen … Sie erlauben wohl, daß ich sie an mich nehme.«

Nach dem Bade gab es noch eine längere Konversation mit Rüteli zu bestehen. Der Arzt erkundigte sich nach verschiedenen Details, Martins Laster betreffend. Die Antworten notierte er sich in ein kleines Buch. Martin gab genaue und wahrheitsgetreue Auskünfte; Rüteli indessen blieb mißtrauisch. »Süchtige lügen immer«, konstatierte er mit einer gewissen Bitterkeit, »wenn es sich um ihre Sucht handelt. Zum Beispiel kommt es häufig vor, daß sie die Dosis ihres täglichen Konsums übertreiben, um dem Arzt noch eine Weile etwas abzulocken.« Er schien die Feststellung mehr für sich selber zu machen, als wäre es geboten, daß er diesen Umstand stets im Auge behalte, um sich die nötige Skepsis allen Behauptungen des Patienten gegenüber zu bewahren. Martin verstummte gekränkt.

Doktor Rüteli schien zu begreifen, daß er einen taktischen Fehler gemacht hatte; er wurde herzlich, fast väterlich. Wieso, warum, unter was für Umständen Martin zu der Droge gekommen sei? – wollte der Arzt plötzlich wissen. »Ein so junger Mensch!« rief er beschwörend. »Und ein begabter Mensch – man sieht es Ihnen ja an; außerdem versichert es mir unser Freund, Doktor Deutsch. Warum ruinieren Sie sich?« Rüteli rief es fast flehend, mit erhobenen Armen. Martin versetzte trotzig: »Vermutlich, weil es mir Vergnügen macht.« Hierüber mußte Rüteli bitter lachen. Vergnügen! Die Selbstzerstörung – ein Vergnügen! »Sie sind ein Zyniker, Herr Korella«, stellte er bedauernd fest. »Gehen Sie in sich!« riet er ihm mit salbungsvoller Dringlichkeit. »Denken Sie nach über sich selber! Während der Tage, die Ihnen nun bevorstehen, haben Sie Zeit dazu … Steigen Sie mal gründlich in die Tiefen Ihrer eigensten Problematik! Eine gründliche Selbstanalyse: das ist es, was Sie jetzt brauchen!« – »Meinen Sie, ich würde einen netten kleinen Ödipuskomplex bei mir finden?« erkundigte Martin sich, höhnisch und müde. »Oder einen Kastrationskomplex …? Die Droge reduziert die sexuelle Potenz – wie Sie gewiß schon gehört haben, Herr Doktor. Vielleicht drogiere ich mich, um mich impotent zu machen? Kastrationskomplex ist gar keine üble Theorie …«

Rüteli war sich nicht ganz im klaren darüber, ob Martin im Ernst sprach oder zum Spott. Übrigens fand er die Idee mit dem Kastrationskomplex keineswegs uninteressant. »Ich bemerke, daß Sie sich über Ihre höchst gefährdete innere Situation schon ernsthafte Gedanken gemacht haben.« Dazu nickte er anerkennend. »Sie sind aber immer noch nicht genug in die Tiefen gestiegen, lieber Freund. Vergessen Sie doch nicht: die Sexualität ist ein Vordergrundproblem, ein Symptom – möchte ich beinah sagen – und nicht mehr. Die gefährliche Überschätzung der Sexualität ist nicht mehr unsere Sache. Wir Jüngeren sind weiter vorgedrungen, tiefer hinabgestiegen.« Doktor Rüteli sagte es geheimnisvollen Tones und wies dabei mit einem langen, faltigen Zeigefinger nach unten, als lägen dort, schaurig geöffnet, die Abgründe, durch deren finsteres Labyrinth die jüngere Schule der Psychiatrie den Leitfaden besitzt. »Wie sind Ihre Beziehungen zur Großen Mutter?« erkundigte der Doktor sich, etwas lauernd und immer noch in die imaginären Schlünde weisend. Martin verstand nicht gleich, was er meinte, wodurch Rüteli enerviert wurde. »Nun ja doch«, machte er und zuckte ungeduldig die Achseln, »Ihre Beziehungen zum Anfang aller Dinge, meine ich; zur Großen Gea; zum Kosmischen Mutterschoß …« – Martin hatte keine Lust, sich darüber auszusprechen. Er fragte, ob er heute noch Morphine bekommen solle. »Ich fange nämlich schon an zu schwitzen«, sagte er, ziemlich böse. – »Sie sollen gegen vier Uhr nachmittags eine nette Injektion haben«, verhieß Rüteli onkelhaft. »Und eine zweite abends, vor dem Einschlafen.« – Martin empfand plötzlich ein gerührtes Wohlwollen für den Psychiater. ›Der brave Mann meint es gut. Ich will ihm das Leben nicht zu sauer machen.‹ Der Patient und der Arzt verabschiedeten sich mit Herzlichkeit voneinander. Rüteli versprach, gegen Abend noch einmal vorbeizuschauen. »Wahrscheinlich werde ich Sie schon schlafend finden«, sagte er.

Martin verbrachte die Zeit bis vier Uhr nachmittags – die Stunde, für die ihm das kleine Labsal des Pantopons versprochen war – ziemlich ruhig. Die Heroindosis, die er im Zuge zu sich genommen, war stark genug gewesen, um ihm für den ganzen Tag gar zu großes Unbehagen zu ersparen. Er las; machte Notizen und schrieb zwei zuversichtlich gestimmte Briefe: einen an Kikjou, den anderen an David Deutsch. Pünktlich um vier Uhr erschien Schwester Rosa mit der Spritze, einem kleinen Wattebausch und einem Fläschchen mit Alkohol. Während sie dem Patienten die Injektion in den Oberschenkel machte, blieb ihr rosiges, hübsches Gesicht ernst, beinah streng. Erst nach getaner Arbeit setzte sie das verheißungsvolle, mild-kokette Lächeln wieder auf.

Die emsige Person schien gerade eine freie Viertelstunde zu haben und übrigens in der Laune zu plaudern. Sie sprach plötzlich von ihrem Bräutigam, der Schullehrer in der Stadt Luzern war – Martin, mit halb geschlossenen Augen der Wirkung nachspürend, wußte gar nicht, wie sie auf dieses Thema gekommen war. »Ein prachtvoller Mensch«, versicherte Schwester Rosa, »etwa in Ihrem Alter. Ich fand gleich, daß Sie eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm haben, Herr Korella. – Freilich«, fügte sie nicht ohne Bosheit hinzu, »mein Bräutigam ist ein gesunder, einfacher Mensch …«

»Das werde ich auch wieder werden«, versprach Martin heuchlerisch und schloß die Augen nun ganz. Die Stimme der milden Schwester schien ihm nun aus sehr weiter Ferne zu kommen. »Seine Schüler verehren ihn«, hörte er sie noch sagen. »Es gibt Jungens, die einen richtigen Kult mit ihm treiben.«

Martin schlief bis in den Abend hinein. Schwester Rosa weckte ihn mit dem Essen. Zu seiner eigenen Überraschung hatte er Appetit. Nach der Mahlzeit sprach Rüteli noch einmal vor. Um zehn Uhr erschien die Nurse mit dem Instrument; Martin hatte schon gierig auf sie gewartet. Als er die wohlvertraute und höchstgeliebte Wirkung des Opiats wieder spürte, beschloß er: ›Ich will noch nicht sofort schlafen – obwohl es sicherlich nicht das reine Morphium gewesen ist, was die milde Schwester mir verabfolgt hat.‹ Übrigens hatte die sanfte Rosa verheißen, daß sie in einer Stunde nochmals erscheinen werde: »um Ihnen noch einen Leckerbissen für die Nacht zu bringen« – wie sie sich, neckisch und geheimnisvoll, ausdrückte. ›Wahrscheinlich meint sie irgendein harmloses Schlafmittel‹, vermutete Martin etwas verächtlich. Im Augenblick interessierte er sich nicht sehr für die chemischen Überraschungen, die Schwester Rosa für ihn in Bereitschaft hatte. Die Wirkung des Medikaments war erfreulich. Seine Gedanken arbeiteten beinah mit der gleichen traumhaft-beschwingten Leichtigkeit wie nach den großen Heroininjektionen.

›Natürlich darf ich mich nicht täuschen lassen‹, dachte er, als er alleine war. ›Heute ist noch ein guter Tag. Die eigentliche Entziehung hat gar nicht angefangen. Es wird scheußlich werden, ich weiß es. Es wird ekelhaft sein. Indessen bin ich fest entschlossen durchzuhalten – und wenn es noch so grauenvoll wird. Schließlich weiß ich, wofür ich leiden muß. Ich muß leiden, um gesund zu werden. Ich muß gesund werden – erstens, um ein paar gute Sachen schreiben zu können. Es ist in der Tat meine Absicht, noch ein paar vorzügliche Sachen zu schreiben, sowohl in Versen als auch in einer strengen, rhythmisch präzisen, tadellosen Prosa. Zweitens muß ich gesund werden, um mit Kikjou leben zu können. Ich liebe Kikjou. Ich brauche Kikjou. Ich verliere ihn, wenn ich von der süßen Sache, dem gar zu holden Teufelsdreck nicht lasse. Ich habe die Wahl zwischen Kikjou und der infernalischen Süßigkeit. Kikjou ist es, den ich vorziehe – da kann gar kein Zweifel sein. Kikjou, le petit frère de Marcel … Ich liebe sie alle beide, meine lieben Brüder … Das weiße Pülverchen – in aqua destillata aufgelöst – würde mich von beiden entfernen. Um ihretwillen und um Marions willen und um Davids willen muß ich es loswerden. Ich muß es loswerden – drittens: weil ich das Ende der großen Schweinerei in Deutschland erleben möchte und sogar mein kleines Teil dazu beitragen will, daß sie endigt. Abzukratzen, solange dieser degoutante Schwindel mitten in Europa triumphiert: nein – das ist entschieden eine peinliche Vorstellung.

Um der Liebe willen und um des Hasses willen lohnt es sich, zu leben. – Lohnt es sich, zu leben?‹ fragte er sich ein paar Sekunden später. ›Mein verruchter Lieblingsdichter sagt: Nein. Er ist ein Unhold und ein Anarchist, und mit diabolischem Grinsen ist er zum Todfeind der Gesittung übergelaufen. Übrigens gibt es in Deutschland wohl fast niemanden mehr, der empfänglich wäre für den Zauber seiner brutalen und morbiden Romantik. Was für ein gefährlicher Charme! Von welch makabren Wonnen er zu berichten und zu beichten weiß! Ich bin empfänglich für seine schaurig exakt formulierte Todesmystik … Mir scheint leider, ich bin, immer noch, zu empfänglich für sie …‹

 

Neben ihm, auf dem Nachttisch, lag der kleine schwarze Band mit den »Ausgewählten Gedichten« des infamen Lieblingspoeten. Nun griff Martin nach ihm, mit der gleichen gierigen und etwas schuldbewußten Geste, mit der er sonst nach der Spritze langte. Und er las:

»Wenn du die Mythen und Worte

Entleert hast, sollst du gehn,

Eine neue Götterkohorte

Wirst du nicht mehr sehn,

Nicht ihre Euphratthrone,

Nicht ihre Schrift und Wand –

Gieße, Myrmidone,

Den dunklen Wein ins Land.

Wie dann die Stunden auch hießen,

Qual und Tränen des Seins,

Alles blüht im Verfließen

Dieses nächtigen Weins,

Schweigend strömt die Äone,

Kaum noch von Ufern ein Stück,

Gib nun dem Boten die Krone,

Traum und Götter zurück.«

›Wie schön!‹ – empfand Martin auf seinem Lager. – ›Wie fürchterlich – ach, wie betäubend schön! Wieviel Stolz in seinen Worten, neben der unermeßlichen Traurigkeit! Übrigens hat er recht: Wir sind an einem Ende. Eine große Periode ist abgelaufen. Kommt eine neue? Es ist nicht die unsere – die meine ist es nicht mehr. Wozu teilnehmen an Kämpfen, deren Entscheidung wir nicht erleben werden? Wenn du die Mythen und Worte entleert hast, sollst du gehn – eine neue Götterkohorte wirst du nicht mehr sehn …

Wirst du nicht mehr sehn …

Wozu der ungeheure Aufwand an Kraft, wenn es dir doch nicht bestimmt ist, die Hieroglyphen der neuen Gesetzestafeln zu begreifen? Wozu – ach, wozu? Warum ist es mir nicht gestattet, mit geschlossenen Augen ins Dunkel zu stürzen, wenn ich in der Helligkeit doch nichts auszurichten vermag – außer dem einen: meine Hilflosigkeit, meine Ratlosigkeit, meine Angst, die Melancholie des Umstandes, daß ich zu früh oder zu spät auf diese Welt gekommen bin, immer wieder leidend zu erkennen?

Mein heruntergekommener Poet ist ein moralisch suspekter, aber gescheiter Mann. – Gib nun dem Boten die Krone – Traum und Götter zurück …‹

Statt des Boten, der Schmuck und Waffen des Abdankenden hätte an sich nehmen können, um sie den alten oder den neuen oder den ewigen Göttern als Opfergabe zu Füßen zu legen, war es Schwester Rosa, die eintrat. Auf einem kleinen Silbertablett präsentierte sie die Schlafmittel wie eine Delikatesse. Es waren drei runde, weiße Tabletten; Martin schluckte sie mit ein wenig Wasser. Schwester Rosa, die ihrerseits müde schien, zwang sich dazu, noch einen kleinen Trost durch Lächeln zu spenden, und entschwand – ein überanstrengter, aber noch in der Erschöpftheit hilfsbereiter und adretter Engel.

Sie hatte die Lampe verdunkelt. ›Ich werde schlafen können‹, empfand Martin mit einer Dankbarkeit, die zu kleinen Teilen Schwester Rosa galt, vor allem aber jenem enormen, immer nur sehr undeutlich zu erkennenden Wesen, das der kleine Kikjou mit sanftem Augenaufschlag, vertraulich und beinah zärtlich, »le Bon Dieu« nannte.

Der nächste Tag war erträglich. Doktor Rüteli verabreichte schwere Schlafmittel. Martin wachte fast nur zu den Mahlzeiten auf. Schwester Rosa behandelte ihn mit teils nonnenhaft ernster, teils koketter Aufmerksamkeit; zuweilen konnte sie nicht umhin, der Ähnlichkeit ihres Patienten mit dem ihr anverlobten Pädagogen in Luzern nachdenklich und gerührt Erwähnung zu tun.

Übrigens fand der Arzt Martins Zustand relativ so vorzüglich, daß er schon für diese Nacht mit den Morphinedosen aufzuhören beschloß. Es war nur noch Luminal und Phanodorm, was Schwester Rosa, abends um zehn Uhr, auf ihrem Tablett lockend herantrug.

Martin erwachte gegen vier Uhr morgens mit heftigen Schmerzen in den Beinen, besonders in der Kniegegend. Er war in Schweiß gebadet; auch lief ihm die Nase, als hätte er sich über Nacht einen starken Schnupfen geholt. Er mußte viele Male hintereinander krampfhaft niesen. Gleichzeitig spürte er wildes Bauchgrimmen. Er stand zitternd auf; hüllte sich, zugleich fröstelnd und schwitzend, in seinen Schlafrock und verließ das Zimmer, um durch den dunklen Korridor zur Toilette zu eilen. Er fand die Türe nicht gleich. Er beschmutzte sich den Pyjama, ehe er die Toilette erreichte.

Der Zustand seines Unbehagens war unbeschreiblich. Er legte sich wieder aufs Bett; aber er war nicht dazu imstande, seine Glieder auch nur eine Minute lang stillzuhalten. Alles an ihm zuckte; Füße und Hände bewegten sich wie in einem Krampf. Er warf den gepeinigten Kopf hin und her. Niemals hätte er für möglich gehalten, daß man gleichzeitig bis zu diesem Grade erschöpft und erregt sein konnte. Er war zu schwach, um das Bett zu verlassen; aber sein nasser, bebender Leib hielt es keine dreißig Sekunden in der gleichen Lage aus. – Keine Krankheit war je annähernd so schlimm gewesen. Fieber und ein solider, kontrollierbarer Schmerz waren positive Gefühle, verglichen mit dieser kolossalen Unannehmlichkeit. ›So muß sich ein Fisch fühlen, der aufs Land geworfen wird‹, dachte Martin. ›So wie ich jetzt zappele, zappelt ein Fisch auf dem Trockenen! Mein Gott, mein Gott: Was habe ich getan, daß ich wie ein armes Fischlein zappeln muß …?!‹

Seine Hände krampften sich ins Leintuch, vor dessen lauer Wärme ihn ekelte. Er reckte den Körper nach oben. Den Hinterkopf ins Kissen gepreßt, schrie er. Er erschrak vor der Unmenschlichkeit des eigenen Schreis. ›Ich habe wie ein Tier geschrien‹, spürte er mit Entsetzen. Er schrie nochmals. Schwester Rosa erschien in der Türe. Sie trug einen grauen Schlafrock mit bescheiden-schmalem rosa Besatz am Hals und an den Manschetten. Ihr Haar war ein wenig zerzaust; die Augen blickten sowohl schläfrig als erschrocken. »Was gibt es denn, Herr Korella?« fragte sie mit einer merkwürdig leisen Stimme. Martin sah, daß ihre Hände etwas zitterten. Endlich konnte er weinen.

Martin weinte; es war, seit seiner Kindheit, zum ersten Mal. Er warf den Körper herum und preßte das nasse Gesicht in die Kissen. Es war ein sonderbares Gefühl, die Tränennässe auf den Wangen und Lippen zu spüren. »Das ist gut«, hörte er Schwester Rosa sagen, »weinen Sie sich nur aus, Herr Korella!« Er schämte sich, dem Mädchen sein verzerrtes, nasses Gesicht zu zeigen; deshalb behielt er die Stirne gegen das Kissen gepreßt. Das Weinen war zugleich eine Entspannung und ein neuer Krampf. Es schüttelte den Körper, und nun tat es weh im Gesicht: die Augen schmerzten, und es schmerzte der verzerrte, klagend geöffnete Mund. ›Ich werde niemals mehr aufhören können zu weinen‹, fühlte Martin. ›Mein Leben – alles, was ich bin und je war, vergeht in diesen unendlichen Tränen …‹

Schwester Rosa, in ihrer Angst, verabreichte ihm mehrere beruhigende Tabletten – wozu Doktor Rüteli sie, für den Notfall, ermächtigt hatte. Martin, tränennassen Gesichtes, fiel in einen Dämmerschlaf, der freilich nicht tief genug war, um seine Qualen ganz aufzuheben. Er spürte noch die Schmerzen und die große Traurigkeit – abgemildert; wie durch einen Nebel hindurch.

Als Rüteli um elf Uhr zur Visite erschien, fand er den Patienten in festem Schlaf. Er untersuchte ihn flüchtig und stellte, zu der aufmerksam, ja, devot lauschenden Nurse gewendet, fest: »Die somatischen Ausfallerscheinungen sind erstaunlich gering. Auch die Diarrhöe hat ja, vorläufig, schon wieder aufgehört. – Ich gebe kein Opiat mehr«, beschloß er streng. »Der Fall ist in moralischer Hinsicht schwieriger und beunruhigender als in physiologischer.« Dabei rieb er sich sinnend das rasierte Kinn und die etwas hängenden Wangen. »Ein merkwürdiger Mensch.« Er schaute mitleidig und interessiert in das Antlitz des Schlafenden, um dessen Lippen sich ein bitterer und gequälter Zug gelegt hatte. »Vielleicht ein begabter Mensch. Aber von einer moralischen Schwäche, die ans Klinische grenzt … Sehr bedauerlich. Sehr, sehr schade.« – »Herr Doktor haben ganz recht; ein sehr seltsamer Mensch«, nickte Schwester Rosa. Sie hatte ihre nonnenhafte Haltung angenommen: die Hände hielt sie auf dem Magen gefaltet, und das hübsche kleine Gesicht war etwas heuchlerisch schief gestellt. Der Blick aber, den sie über das weiße, schöne, leidende Antlitz des Kranken hinsandte, war blank und verheißungsvoll: Doktor Rüteli bemerkte es nicht ohne Indignation. Er hatte seinerseits eine kleine Schwäche für die niedliche Pflegerin.

Martin begann plötzlich, aus seinem Dämmerschlaf heraus, zu sprechen. »Wo ist meine süße kleine Sache?« brachte er mit schwerer, lallender Zunge hervor. »Ich hatte doch einen recht stattlichen Vorrat … Ist denn alles aufgebraucht? O weh – ist der kleine Vorrat denn ganz zu Ende …?« Der Schlafende weinte. Dicke, leuchtende Tränen kamen unter seinen geschlossenen Lidern hervor; rannen langsam über die weißen Wangen und blieben träge in den Mundwinkeln hängen. Schwester Rosa neigte sich über ihn und trocknete ihm, sehr zart und behutsam, mit ihrem eigenen Taschentüchlein das Gesicht.

Als Martin aufwachte, war später Nachmittag. Seine erste Empfindung war: ›Ich bin in der Hölle. Solche Zustände kommen nur in der Hölle vor …‹ Dann beschloß er: ›Ich halte es nicht mehr aus. Ich bin am Ende. Die nächste halbe Stunde überlebe ich nicht. Ich bringe mich um. Ich bin entschlossen, mich umzubringen. Aber wie?‹

Aber wie? – über diese Frage dachte er mehrere Minuten lang angestrengt nach. Das Zimmer lag im Parterre; der Sprung aus dem Fenster würde sinnlos sein. Weder Gift noch Revolver waren zur Hand. ›Ich habe gehört, daß man sich an einer Krawatte oder an einem Gürtel aufhängen kann‹, dachte Martin. ›Aber dazu muß man sicherlich geschickter sein, als ich es bin. Wahrscheinlich würde die Schlinge mir reißen: das wäre dann eine Blamage und eine Peinlichkeit. – Wenn ich ein gutes, starkes Rasiermesser hätte, könnte ich mir die Pulsadern aufschneiden. Ich habe aber nur einen Giletteapparat. Kann man sich mit Rasierklingen die Adern öffnen? Vielleicht. Aber es ist eine Schweinerei. Wie umständlich so ein Selbstmord zu sein scheint!‹

Er stürzte durchs Zimmer, wie von Furien gejagt. Obwohl die Knie ihm schwankten und sein schweißgebadeter Körper am Zusammenbrechen war, rannte er mindestens ein dutzendmal hin und her. Er zündete sich eine Zigarette an; drückte sie wieder aus; griff nach einer neuen. Jedesmal wenn er am Spiegel vorüberkam, erschrak er über sein Aussehen. Auf dem weißen Gesicht lag ein beinah irrsinniger Ausdruck von Angst; als wäre ein Raubtier oder ein Feuerbrand hinter ihm her. Er fand den Blick der eigenen Augen entsetzlich. Die Pupillen waren unnatürlich erweitert. Der Ausdruck von Verzweiflung, Durst und Gier, mit dem diese Augen ihn anschauten, war unerträglich.

»Genug!« sagte Martin laut und deutlich zu sich selber. »Es ist genug!« Er öffnete den Schrank, in den Schwester Rosa seine Kleidung gehängt hatte. In zwei Minuten war er angezogen. Taumelnd, keuchend und zitternd machte er sich daran, seine Handtasche zu packen. Während er Toilettesachen, Socken, Hemden, Bücher und Pyjamas in den Koffer warf, setzte plötzlich eine strenge und zarte Musik ein. Im Nebenzimmer wurde Geige gespielt. ›Welch zarte Aufmerksamkeit!‹ dachte Martin, halb gehässig, halb wirklich gerührt. ›Man bringt mir ein Abschiedsständchen! – Wer mag da wohl musizieren? Freilich, es gibt ja noch andere Bewohner, außer mir, in diesem Etablissement, das zugleich wie eine Familienpension und wie ein intimes Privatirrenhaus wirkt … An diese anderen Kranken habe ich noch gar nicht gedacht … Müssen die auch so grauenhaft leiden wie ich …? Der Geisteskranke in der benachbarten Stube – denn wahrscheinlich handelt es sich doch um einen Geisteskranken: um einen manisch Depressiven, denke ich mir – versteht es übrigens ganz artig, auf der Violine zu spielen … Habe ich nichts vergessen? Ich will noch einen Zettel für Schwester Rosa schreiben: Adieu. Vielen Dank. Schicken Sie mir die Rechnung nach Paris. Sie wird bezahlt.‹

Er schrieb den Zettel, wobei er sich redliche Mühe gab, mit seiner zitternden Hand leserliche Zeichen aufs Papier zu bringen. Er zog sich den Mantel an. Dann öffnete er – vorsichtig, wie jemand, der einen Mord vorbereitet – die Tür zum Flur, um zu hören, ob es draußen stille war. Schwester Rosa hatte wohl im oberen Stockwerk zu tun. ›Sie hat kein leichtes Leben‹, dachte Martin, während er auf Zehenspitzen sein Zimmer verließ. ›Fräulein Bürstel ist vermutlich ausgegangen. Sie sitzt mit einer Bekannten in der Konditorei. Wie ich Fräulein Bürstel kenne, mag sie gerne heiße Schokolade und Torte …‹

Auf dem Korridor, dessen etwas muffiger Geruch ihm schon recht vertraut geworden war, blieb Martin ein paar Sekunden lang stehen, um der Geigenmusik zu lauschen. ›Der manisch Depressive spielt Bach‹, konstatierte er mit einer gewissen Ergriffenheit. ›Ich würde gerne wissen, wie der Mensch aussieht, der dort hinter der geschlossenen Türe spielt. Ist es eine Frau oder ein Mann? Ich glaube, daß es ein älterer Mann ist … Mein Gott, wie ich zittere! Wie meine Knie schwanken! Und wie naß meine Hände sind … Ich schleiche durch den dämmrigen Korridor: vorsichtig wie ein Mörder. Vorsichtig wie ein Mörder öffne ich jetzt diese Haustür. Das Gefängnis liegt hinter mir. Arme Schwester Rosa – wie wirst du erschrecken, wenn du das Zimmer leer findest! Du wirst einen bestürzten Brief an deinen Bräutigam nach Luzern schreiben … Da ist die Straße. Aber wie kalt es ist! Es ist scheußlich kalt.‹

 

Ein Taxi kam vorüber, Martin winkte dem Chauffeur. »Fahren Sie mich zur nächsten Apotheke!« sagte er ihm.

Die Fahrt dauerte ziemlich lang. Martin fühlte sich im Wagen ein wenig besser. Unangenehm war, daß er so bitterlich fror. Er mußte wieder fünfmal hintereinander niesen. Als der Nieskrampf vorbei war, setzte ein Gähnkrampf ein. Er spürte plötzlich eine lähmende Müdigkeit. Die Beine taten sehr weh.

Es war eine große, stattliche Apotheke, vor welcher das Taxi hielt. Martin bat den Chauffeur, ein paar Minuten auf ihn zu warten; er sprach – aus Angst, in seiner Not hastig oder unhöflich zu sein – besonders ausführlich und artig.

Drinnen, in der Apotheke, gab es mehrere Kunden: zwei alte Damen, denen eine Verkäuferin kleine Packungen mit Kräutertee vorlegte; eine jüngere Frau mit einem kleinen Buben, der lächerlich runde und rote Backen hatte; einen älteren Herrn, der auf einer Waage stand, um sein Gewicht zu prüfen – übrigens schüttelte er erstaunt und betrübt den Kopf über das Resultat; es stellte sich wohl heraus, daß er entweder viel schwerer oder viel leichter war, als er angenommen und gehofft hatte.

Martin ging etwas schwankenden, aber entschlossenen Schrittes um den Ladentisch herum und sagte zu dem Fräulein, das mit den beiden Alten und den Kräuterteepackungen beschäftigt war: »Ich möchte Ihren Chef sprechen.« Das Fräulein lächelte erschrocken – sie fürchtete wohl, es mit einem Wahnsinnigen zu tun zu haben; da kam der Chef schon herbei. Mit weißem Vollbart, hoher Stirn und goldgerandeter Brille wirkte er stattlich, fast majestätisch. »Was wünscht der Herr?« erkundigte er sich drohend.

›Der nächste Augenblick entscheidet über Leben und Tod‹ – empfand Martin, dessen Knie immer heftiger zitterten. – ›Wenn der stattliche Alte mir die Droge nicht gibt, falle ich hin, schreie noch ein wenig und sterbe.‹

Er gab sich Mühe, ein gefaßtes Gesicht zu machen. »Ich bin auf der Durchreise hier«, bemerkte er und versuchte es mit einem einschmeichelnden Lächeln. Der Apotheker sagte: »Aha!« – wobei er lauernd den Kopf senkte und seinen schönen Bart gegen die Brust drückte. – »Es ist dumm«, plauderte Martin mit verzerrter Miene – er fürchtete, im nächsten Augenblick wieder weinen zu müssen – »es ist wirklich recht lästig. Ich benötige nämlich ein Medikament – mein Hausarzt hat es mir gegen die bösen Gallenschmerzen verschrieben … Es heißt Eucodal«, gestand er und wurde ein wenig rot. »Ein ganz leichtes Mittel …« fügte er, sinnloserweise, hinzu.

Der Apotheker sagte schnell und sehr kalt: »Dafür benötige ich das Rezept eines hiesigen Arztes.« Martin begriff die totale Hoffnungslosigkeit der Situation. »Ich dachte – ein paar Ampullen …« sagte er noch, von Schmerzen und Kälte gebeutelt wie von einer riesigen Hand. Der Apotheker stellte feindlich fest: »Nichts zu machen.« Martin fühlte nur: ›Jetzt falle ich hin und sterbe.‹ Indessen blieb er hübsch aufrecht stehen, lächelte unter Qualen und fragte, ob der Herr Apotheker ihm vielleicht die Adresse eines tüchtigen Arztes nennen könnte. »Mit solchen Gallenschmerzen, wie ich sie habe, kann man einen Menschen nicht herumlaufen lassen«, sagte Martin, nicht ohne gekränkte Würde. Diese Bemerkung schien dem strengen Apotheker bis zum gewissen Grade einzuleuchten; er ließ sich von seinem Fräulein Papier und Bleistift reichen und notierte, mit zugleich schwungvollen und klaren Lettern, die Adresse des Doktors.

An der Haustür des Arztes – der um die Ecke wohnte – gab es ein Messingschild mit der Inschrift: »Doktor Fritz Kohlhaas. Spezialist für Kinderkrankheiten.« – Doktor Kohlhaas war hochbetagt und recht schwerhörig. Martin schrie ihm etwas zu über die fatalen Nierenkoliken, die ihm zu schaffen machten, und daß er ein gewisses leichtes Medikament benötige, »es heißt Eucodal«. – »Wie heißt diese Medizin?« fragte Doktor Kohlhaas, der schon seinen Rezeptblock gezogen hatte. »Euradom?« Martin, der von einem nervösen kleinen Lachen geschüttelt wurde, wiederholte den richtigen Namen. Doktor Kohlhaas schrieb mit gichtigen Fingern das Rezept. »Vielleicht sind Sie so nett, mir gleich zwanzig Ampullen à 0,02 zu genehmigen«, sprach Martin lachend und mit Donnerstimme an seinem Ohr. »Das genügt mir dann für die nächsten vier bis fünf Monate.«

Er fuhr zum Apotheker zurück, der das Rezept mit gerunzelter Stirne musterte. Schließlich händigte er Martin die beiden Schachteln mit den Eucodal-Ampullen aus. Martin griff mit einer unbeherrscht-gierigen Bewegung nach den länglichen, blauen Packungen, die er in der Innentasche seines Mantels hastig verschwinden ließ. »Ich brauche noch eine Injektionsspritze und Nadeln«, sagte er keck. »Ziemlich dünne, wenn ich bitten darf. Numero 16 dürften die richtigen sein …«

Er verließ die Apotheke. Draußen bat er den Chauffeur, das Taxi noch eine Minute lang stillstehen zu lassen. Im Wagen öffnete er seine Kleidung ein wenig und – schamlos, fast besinnungslos vor Gier – machte er sich, auf den Polstern des Wagens sitzend, die Injektion in den Schenkel. Ein kleines Mädchen, das vorüberschlenderte, beobachtete ihn mit vor Erstaunen aufgerissenen Augen.

Die Wohltat war riesenhaft. Innerhalb von Sekunden war von ihm genommen die Erniedrigung der physischen Qual, die Last der Traurigkeit. Aufatmen ohnegleichen! »Fahren Sie mich zum Bahnhof!« rief er dem Chauffeur mit fast lustiger Stimme zu.

Der nächste Zug nach Paris ging in anderthalb Stunden.

Es war reichlich viel, was Marion sich zumutete. Sie magerte ab; ihr Arzt machte ein besorgtes Gesicht und erklärte, hundert Pfund Gewicht sei entschieden zu wenig für ihre Größe. Übrigens hustete sie beunruhigend. Zu den eigenen und den politischen Sorgen kamen die um Menschen, die ihr nahestanden. Von Marion erwarteten alle Trost. Würde sie auf die Dauer stark genug sein, um ihn zu spenden?

Nur Frau von Kammer, die Mutter, schien immer noch zu hochmütig starr, um sich trösten zu lassen. Sie haßte und verachtete, mit trotziger Konsequenz, »das Pack«, das in Deutschland regierte; aber sie hielt sich in stolzer Distanz von denen, die mit ihr haßten und ohne sie kämpften. Seitdem Tilla Tibori nach Hollywood abgereist war, wo sie endlich einen Vertrag bekommen hatte, schien Marie-Luise ganz allein. Sie saß in Rüschlikon, machte Handarbeiten und zeigte jedem, der es sich etwa einfallen ließ, sie aufzusuchen, eine strenge Miene. Auch mit ihren Töchtern verkehrte sie weiter auf die zeremoniös-gemessene Art. Tilly hatte sich damit abgefunden; Marion tat es immer noch weh. In ihr war das innige Bedürfnis, der armen Mutter zu helfen; aber die ließ es nicht zu.