Klaus Mann - Das literarische Werk

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Tilly hingegen vertraute sich unter Tränen der Schwester an. »Was soll ich tun? Ich muß immer an diesen Mann, diesen Ernst denken, und ich höre nichts mehr von ihm. Wo ist er hingekommen? Er darf sich ja nirgends aufhalten … Vielleicht ist er aus lauter Verzweiflung nach Deutschland zurück und sitzt schon in einem Lager – das wäre zu grauenhaft, dann sehe ich ihn nie mehr. Und der Peter Hürlimann will, ich soll mich von meinem Ungarn scheiden lassen und ihn heiraten, er bekommt jetzt bald eine Stellung. Aber das kann ich doch nicht, ich liebe ihn nicht genug, was soll ich nur tun, wenn ich nur wüßte, wo der Ernst steckt, dann würde ich gleich zu ihm hinfahren …« So redete und schluchzte Tilly – die hübsche kleine Tilly mit dem schlampigen Mund. Wußte Marion, die große Schwester, Rat? Sie konnte ihr nur das Haar streicheln und ihr die Stirn küssen und immer wieder versichern, es wird schon noch alles gut werden, vielleicht finde ich deinen Ernst, ich könnte in Paris ein paar Leute darum bitten, sich nach ihm umzusehen … Und Tillys hilfloses Weinen: Ach bitte, tu das, Marion – ach, wenn du das für mich tun wolltest – als brauchte die große Schwester sich nur zu entschließen, und gleich wäre die Adresse des Verschollenen bekannt.

In Paris sprach Marion mit Theo Hummler und mit der Proskauer über den Fall. Beide bemühten sich, aber ohne Erfolg. Marion mußte viel an Tilly denken; sie schrieb ihr lange Briefe, telefonierte mit ihr. Aber sie konnte nicht ihre ganze Sorge auf die kleine Schwester konzentrieren. Es gab andere Hilfsbedürftige, zum Beispiel Martin. Ihn fand Marion in einem erschreckenden Zustand. Den Freunden gegenüber schwindelte er, die Kur in Zürich sei von ihm bis zum Ende glücklich durchgeführt worden; seit Wochen rühre er kein Morphium mehr an, und sein miserables Aussehen sei noch »Ausfallserscheinung«. Marion aber hatte gute Augen. Als sie zum ersten Mal allein mit Martin war, sagte sie ihm ins Gesicht: »Vor mir brauchst du dich doch nicht zu verstellen und keine Geschichten zu machen! Du spritzt lustig weiter. Pfui – ich finde das ekelhaft!« – Martin leugnete erst; gab aber dann alles zu und schien sich nicht einmal sehr zu schämen. »Wenn schon!« rief er herausfordernd. »Es ist doch wohl meine Sache, wenn ich mich kaputtmachen will! Mon corps est à moi …!« Marion schaute ihn eine Weile prüfend an, ehe sie ihn fragte: »Warum tust du es eigentlich? Es muß doch einen Grund haben …« – Daraufhin er, mit gesenkter Stimme: »Wenn ich nur einen guten Grund wüßte, um es nicht zu tun …« Nach einer Pause fügte er noch leiser hinzu: »Kikjou wäre ein Grund gewesen.«

Marion gab noch nicht nach. »Kikjou wird nur dann wieder zu dir kommen, wenn du mit dem Teufelszeug endgültig Schluß machst – das weiß ich. Ich muß dir aber gestehen: mir scheint, es ist recht traurig um dich bestellt, wenn du nur seinetwegen damit aufhörst, dich langsam zu vergiften. Wenn du das wolltest, hättest du in Berlin bleiben sollen. Inmitten der allgemeinen Verkommenheit dort drüben wäre es nicht weiter aufgefallen, und übrigens soll unter prominenten Nazis deine Droge ja recht beliebt sein. Wir hier draußen aber haben Verantwortung und Verpflichtung; wir repräsentieren etwas – die Opposition gegen die Barbarei. Wir müssen uns in guter Form halten, um kämpfen zu können. Verstehst du das nicht? Natürlich verstehst du es, du bist ja gescheit.«

Er bewegte gequält das Gesicht. »Ich weiß … Das weiß ich ja alles … ›Kämpfen‹ – es klingt sehr schön. Aber kämpfen ohne Hoffnung geht über menschliche Kraft. Ich habe die Kraft nicht. Ich habe keine Kraft und keine Hoffnung mehr.« Er verstummte; hob den Kopf auch nicht, da ihre zornige Stimme ihn wieder anrief.

»Du machst es dir leicht! Es muß verdammt bequem sein, dazusitzen, die Hände im Schoß, und zu murmeln: Ich habe keine Kraft und keine Hoffnung mehr …« – Er lächelte müde. »Du meinst, das ist so besonders bequem?« Sein verschleierter Blick streifte spöttisch ihre empörte Miene. »Aber herumzugehen mit Gebärden wie ein Fahnenschwinger und immerfort zu erzählen: Der Sieg ist unser! – während man doch aufs Haupt geschlagen ist und sich kaum noch rühren kann – das ist wohl das Richtige, wie? Das ist wohl das Wahre?«

Marion hatte als Antwort: »Es ist immer noch besser als der billige Trost in den künstlichen Paradiesen. Das ist etwas für ausgediente Fliegeroffiziere, die Ersatzsensationen brauchen, oder für bourgeoise Damen, die in ihrer Ehe unbefriedigt bleiben und sich nun entschädigen mit morbiden kleinen Amüsements. Es ist so feige, so langweilig, so kleinbürgerlich!«

Nun änderte Martin plötzlich Blick und Haltung. »Ich weiß übrigens gar nicht, wovon du sprichst.« Er sagte es schläfrig und kokett; in den verhangenen Augen blitzten tückische kleine Lichter. »Schließlich habe ich gerade eine schwere Entziehungskur hinter mir. Ich nehme fast gar nichts mehr – und daß ich noch ab und zu eine Kleinigkeit brauche, ist nur natürlich, wenn man bedenkt, was für Dosen ich konsumiert habe. Aber auch mit diesen Bagatellen höre ich nun bald auf. Es ist nur eine Frage von Tagen oder Wochen, dann bin ich vollständig frei. Ich werde mich mit Kikjou versöhnen. Wahrscheinlich verlasse ich mit ihm zusammen Europa. Wir fahren nach Brasilien, dort hat er ja große Möglichkeiten, wir gründen etwas, machen irgend etwas auf, eine Zeitschrift oder dergleichen …« Glaubte er selbst, was er sprach? Seine Augen schimmerten vor Verlogenheit. Er zog sich in die Lüge zurück wie in eine Festung, die ihn vor jeder zudringlichen Frage beschützte. Er log sanft und pedantisch, er schwindelte mit Würde und Gelassenheit; er sagte: »Der Arzt in Zürich war sehr zufrieden mit mir – weißt du …« und neigte sein großes, schönes, bleiches, von der Lüge gleichsam verklärtes Antlitz geheimnisvoll lächelnd Marion entgegen. Die bekam Angst.

Sie mahnte und tröstete. Wer aber war da, um sie zu ermuntern und aufzurichten? – Marcel war da, und er sagte ihr, daß er sie liebe. Sie indessen konstatierte vor dem Spiegel: »Abscheulich sehe ich aus. Ich gefalle mir nicht. So mager darf ein Mensch gar nicht sein. Mein Gesicht ist winzig – ganz zusammengeschrumpft; nur noch Augen. Und einen Hals habe ich – wie eine Sechzigjährige.« Marcel widersprach: »Tu es plus belle que jamais …« womit er übrigens recht hatte. In ihrem abgezehrten Gesicht, das dramatisch gerahmt war von der lockigen Purpurfülle des Haars, gab es beunruhigend schöne Farben. Er küßte sie. Er legte sein verwildertes Kinderantlitz mit den tragisch aufgerissenen Augen zärtlich an ihre Wange. Ach, es war gut, wenn sein Vogelruf – sein singendes, klagend-jubelndes »Uhu!« – durch das Treppenhaus tönte. Dann trat er ein, schleuderte den leichten Hut in die Ecke, ließ sich aufs Bett fallen und redete.

Marcel redet. Worte schießen hervor, so wie das Blut stürzt aus dem Munde des Kranken. Worte, Worte, Worte – sie verwirren sich, steigern sich, überschlagen sich; sie jammern, prahlen, untersuchen; sie klagen an, spotten, verdammen; sie wollen nicht aufhören, können nicht verstummen: Marcel scheint verdammt zum Sprechen wie der Ewige Jude zum Wandern. Schließlich preßt er sich die Fäuste gegen die Schläfen und schreit auf: »Mich ekelt so vor den Worten! Ach Marion, wenn du ahnen könntest, wie widerlich mir die Worte sind! Es ist mir, als müßte ich schmutziges Wasser saufen und wieder ausspucken. Die großen Begriffe sind schal geworden, abgenutzt – und keine neuen in Sicht, an die wir uns halten, an denen wir uns aufrichten könnten! Alles ist schon gesagt, alles ist schon verbraucht. Das neunzehnte Jahrhundert war enorm redselig, durchaus rhetorisch, ins Wort verliebt, ihm vertrauend wie einem Fetisch. Nun ist alles entleert. Die Krise des zwanzigsten Jahrhunderts – die ich wie eine Krankheit in meinem Leibe spüre – ist die Krise der großen Worte. Die Demokratie ist fertig, weil sie sich an die verbrauchten großen Worte klammert. Der Faschismus, die neue Barbarei, hat leicht siegen: er köpft Leichen. Wir müssen eine neue Unschuld lernen. Zu der kommen wir nicht durch Worte; nur durch die Tat. Die großen Worte hängen an uns wie Schmutz, machen unsere Stirnen klebrig und unsere Hände. Nur eine Flüssigkeit wäscht dies ab: Blut. Soll es unser Blut sein? Dann müssen wir es vergießen! Besser, es strömt dahin, als daß es uns in den Adern erstarrt wie ein zäher Brei. Wir sollen töten und leiden; nicht mehr reden und schreiben. Genug geredet! Genug geschrieben! Genug gedacht! Vielleicht werden andere Generationen wieder Freude und Gewinn von den Worten und Gedanken haben. Nicht wir – nicht mehr wir! Wir sollen gegen die Raserei des Rückschrittes nicht mehr Argumente setzen, sondern ein anderes Rasen, eine neue Besessenheit. Wir müssen blind und stumm werden und bereit zum Untergang. Nur so sühnen wir die Schuld unserer Väter … O Marion – Marion, halte mir den Mund zu! Ich ersticke an meinen Worten …«

Und Marion bedeckte ihm die Lippen mit der Innenseite ihrer mageren Hand.

Im Frühling bekam Marion eine Einladung von Siegfried Bernheim: er sähe sie gerne in seinem Heim auf der Insel Mallorca; sie möge kommen, einige Abende bei ihm rezitieren und eine Weile sein Gast sein. Ein Scheck für die Reisespesen lag bei.

Damals befand sie sich gerade in Nice. Sie ging zum spanischen Konsulat, wegen des Visums. Der Beamte blätterte lange in ihrem Paß, von vorne nach hinten und von hinten nach vorn. Mißtrauisch wog er ihn in der Hand. »Sind Sie Tschechoslowakin?« wollte er schließlich wissen. – »Nein«, sagte Marion. »Das ist ein Fremdenpaß – wie Sie sehen.« – »Also nicht.« Der Beamte machte ein Gesicht, als hätte man ihm die letzte Hoffnung geraubt. »Also nicht Tschechoslowakin. – Alors, Madame, je comprends: en somme, vous êtes sans patrie.« Es klang sowohl mitleidig als auch tadelnd. Marion war erschrocken. Sie versuchte zu lachen: »C’est juste, Monsieur, c’est exact …«

Auf Mallorca hatte sie gute Tage. Der blaue Himmel und die blauen Fluten leuchteten um die Wette. Wunderbar waren die faulen Vormittage am Strand, die langen Spaziergänge am Nachmittag durch das hügelige Land. Bernheim – konziliant, munter und stattlich wie immer – war der aufmerksamste Wirt, eifrig darum bemüht, seinen Gästen von den Augen abzulesen, was für Wünsche sie etwa haben mochten. Mit würdig zurückhaltendem Stolz zeigte er seine neuen Erwerbungen: ein Mädchenbildnis von Renoir, das Samuel in Paris für ihn eingekauft hatte, und ein Männerporträt von Greco, das er durch einen Händler erworben hatte und an dessen Echtheit Samuel zweifelte. Man war gesellig und guter Dinge. Abends stellten Freunde sich ein: junge Engländer, die viel Whisky tranken und sich beim Kartenspiel zankten; deutsche Maler und Literaten. Samuel, schalkhaft und väterlich, teilte sich mit Bernheim in die Pflichten und Rechte des Hausherrn. Niemand schien hier Sorgen zu haben; jedenfalls entsprach es nicht den Sitten, sie zu zeigen. Die Frauen gingen auch abends in bunten Strandpyjamas herum; die jungen Leute trugen lustig gestreifte Trikots, wie die Matrosen sie haben. »Dies ist die Insel der Seligen!« proklamierte Bernheim. »Alle lieben sich, alle fühlen sich wohl.« Von Politik war möglichst wenig die Rede. Wenn man die Lage einmal diskutierte – etwa die bedrohliche englisch-italienische Spannung wegen des abessinischen Krieges oder die Unruhen auf dem spanischen Festland – zeigte man eher ein sportliches Interesse als echte Beteiligung. Über Mussolinis Chancen, das Schicksal des Negus, die Zukunft der spanischen Republik redete man kaum anders als über die Details eines Stierkampfes in Palma oder einer großen Kartenpartie. Man schien dies alles nicht ganz ernst zu nehmen. Das Schwimmen im Meer, das Bridgespielen, der Flirt, die Liebe waren wichtiger. Samuel erklärte Marion: »Man muß den Leutchen ihre Ferien gönnen. Viele von denen, die hier so leichtfertig scheinen, haben in London oder Paris oder sonst irgendwo ein recht schweres Leben. Darum ist ihre Lustigkeit auch oft etwas krampfhaft. Hören Sie, wie diese Dame dort drüben in der Ecke schrill lacht? Mir tut es weh in den Ohren … Kommen Sie mit mir in mein Atelier hinauf! Ich zeige Ihnen mein neues Bild. – Gefällt es Ihnen?« fragte er dann mit seiner Orgelstimme, während er die Leinwand ins rechte Licht rückte. »Ja, mir scheint, es ist ziemlich gut. Ich bin jetzt wohl so weit, daß ich alles, was ich empfinde und was wichtig ist, durch Farben ausdrücken kann … Menschen interessieren mich kaum noch«, behauptete der Meister. »Ihre Angelegenheiten und Probleme langweilen mich meistens. Mich berühren nur noch die Farben. Sie sind echt, da gibt es keine Tricks, sie enthalten das Leben, sie sind Leben …« Er prüfte, schräg gehaltenen Kopfes, aus zusammengekniffenen Augen sein Werk. Der Fischerknabe mit dem Korb auf den nackten Knien war mit so viel raffinierter Zärtlichkeit gemalt; die Formen seines Körpers und des braunen jungen Gesichtes schienen mit so viel liebevoller Sorgfalt ausgeführt, daß die Behauptung des Meisters, er interessiere sich nicht für Menschen, durch seine eigene Schöpfung dementiert wurde.

 

Als Marion ihren Vortragsabend in Bernheims Villa gab, fand sich die ganze englische und deutsche Kolonie zusammen; der große Saal im Parterre, wo der echte Renoir und der zweifelhafte Greco hingen, war überfüllt. Sogar der berühmte englische Schriftsteller war erschienen, der seine Villa droben in den Bergen hatte und sich sonst niemals sehen ließ. Marion brachte ihre wirkungsvollsten Stücke. Sie war gut in Form. Von den Engländern freilich verstand fast keiner etwas; indessen waren alle entzückt von Marions Stimme und von ihren Augen. Nach dem Vortrag gab es kaltes Buffet mit Champagner. Bernheim hielt eine sowohl launige als auch ergriffene Rede auf »das schöne Kammermädchen« – wie er Marion mit eigensinniger Scherzhaftigkeit nannte. »Solange Menschen wie Sie unter uns sind, brauchen wir nicht zu verzweifeln!« rief er ihr zu, das Sektglas in der erhobenen Hand. Alle klatschten. Der berühmte Schriftsteller, dessen Augen hinter dicken, sehr scharf geschliffenen Brillengläsern verschwanden, streckte mit einer merkwürdig ungeschickten, rührend befangenen Bewegung die sehr langen, dürren Arme aus, um zu applaudieren. ›Wie Serenissimus in einem Witzblatt‹, mußte Marion denken. Übrigens liebte sie seine Bücher und war neugierig darauf, ihn kennenzulernen. Durch Samuel ließ sie sich mit ihm bekannt machen.

Er war sehr groß und mager, und es schien, daß er nichts Rechtes mit seinen endlosen Armen und Beinen anzufangen wußte. Das merkwürdig kurze Gesicht, mit dem sehr weichen und großen Mund, wurde beherrscht von den runden, spiegelnden Brillengläsern. Er versuchte auf eine befangene, zugleich hochmütige und schüchterne Art, zunächst deutsch mit ihr zu reden. Später sprachen sie englisch. – Sie saßen am offenen Fenster; vor ihnen der Blick auf das dunkle Meer, den Strand und die schwarzen Palmen, deren Konturen mit schöner Genauigkeit vorm Nachthimmel standen. Der berühmte Schriftsteller schwieg, das Gesicht der Landschaft zugewendet. Marion wagte nicht, das Gespräch zu beginnen. Sie dachte an seine Bücher, die sie bewunderte. ›Was geht jetzt hinter seiner Stirne vor?‹ überlegte sie. ›Beobachtet er mich? Er scheint nicht viel zu sehen und muß doch allerlei bemerken hinter seinen Brillengläsern. Macht er sich nun innerlich Notizen, die recht spöttisch sein dürften? In seinen Erzählungen hat er eine seltsam kalte, nicht gerade liebevolle Manier, Menschen zu schildern. Er kennt sie so genau, gerade weil er sich von ihnen distanziert. Übrigens nimmt er, bei aller Distanziertheit und Ironie, leidenschaftlichen Anteil an unseren Sorgen: das wird deutlich in seinen schönen, klaren Essays. Wie gescheit er ist … Ich muß einige seiner großen Aufsätze unbedingt wieder lesen. Er hat viele höchst vorzügliche Dinge geschrieben …‹

Da sprach er plötzlich – Marion erschrak fast, als seine weiche, zögernde Stimme kam. »In Ihrem Vortrag hat etwas mich erschreckt. Sie haben manchmal einen kriegerischen Ton – als wollten Sie zur Schlacht rufen. Das beunruhigt mich. Gewalt wird schon genug gepredigt und angewendet – von den anderen. Wir sollen friedlich sein. Nicht Rache, nicht Kampf – Versöhnung sei unsere Absicht.«

»Versöhnung?« Marion wiederholte es trotzig. »Es gibt Menschen und Prinzipien, mit denen sie nicht in Frage kommt. Wir sind lange genug versöhnlich gewesen – zu lange, wie mir jetzt scheint. Vor einem Gangster, der die Handgranate und den Revolver schwingt, macht man sich lächerlich, wenn man flüstert: Ich bin Pazifist.«

»Man soll es nicht flüstern; man soll es schreien«, sagte der Schriftsteller. »Und wenn der Gangster lacht?« – »Was schadet es. Vielleicht vergißt er darüber, die Handgranate zu werfen. Es ist niemals eine Schande und kann nie ein Irrtum sein, sich zum Frieden zu bekennen.«

Daraufhin Marion – deren lange, magere Finger gierig nach irgend etwas zu suchen schienen, was sie zerbrechen konnten: »Es gibt Situationen, in denen die Angst vorm Kampf blamabel und verhängnisvoll wird.«

Der Schriftsteller, nicht ohne Strenge: »Ich habe nicht von der Angst vorm Kampf, ich habe von der Liebe zum Frieden gesprochen.«

Sie rückte ungeduldig die Schultern. »Das läuft oft aufs gleiche hinaus. Die tolerante Haltung dem absolut Schlechten gegenüber erklärt sich niemals nur aus edlen Motiven; immer auch aus Feigheit.«

Er lächelte, milde und betrübt, über ihre Heftigkeit. »Das absolut Schlechte? Das kann wohl unter Menschen ebensowenig vorkommen wie das vollkommen Gute. Der menschliche Charakter ist immer zusammengesetzt. An die Elemente, die wir die guten nennen, appellieren wir nur, wenn wir selber gut bleiben.«

Marion wollte auffahren; sie beherrschte sich, biß sich die Lippen und sagte, ein wenig heiser: »Die deutschen Sozialdemokraten und die anderen Parteien unserer verstorbenen Republik versuchten es, ›gut‹ zu bleiben – verhandlungswillig und versöhnungsbereit gegenüber ihren Todfeinden. Schauen Sie es sich an, wohin sie’s damit gebracht haben! Sollen die europäischen Demokratien diese löbliche Taktik wiederholen?«

»Ich hoffe es«, sagte er schlicht. »Die großen Demokratien sind schuldbeladen, sie haben zu büßen. Alles Unheil in Europa kommt aus dem Vertrag von Versailles.«

Marion war fast am Ende ihrer Geduld. »Glauben Sie, die Deutschen hätten einen besseren Vertrag diktiert, wenn sie den Krieg gewonnen haben würden?« fragte sie gereizt. Woraufhin der Brite nur die Achseln zuckte. »Darauf kommt es nicht an.« Da Marion nun verfinstert schwieg, legte er sanft die Hand auf ihre Schulter. »Seien Sie mir nicht böse!« bat er, das Gesicht mit den spiegelnden Brillengläsern freundlich nahe an ihres gerückt. »Ich begreife Ihren Schmerz, Ihren Haß, und ich achte ihn. Es gibt aber ein paar sittliche Grundwahrheiten, die man vor Haß und Schmerz leicht vergißt. Alles Üble kommt aus der Gewalt. Sie steht immer am Anfang des Schlimmen. Man kann die Gewalt durch Gewalt besiegen, aber nicht aus der Welt schaffen. Der verhängnisvolle Irrtum ist, zu meinen, daß der Zweck die Mittel heilige. Das ist falsch. Mit schlechten Mitteln ist kein großes Ziel zu erreichen; die Kommunisten haben dies nicht verstanden, daher ihr fürchterliches Versagen. Der Friede, die Gerechtigkeit können nicht durch Krieg gewonnen werden. – Sind Sie für den antifaschistischen Krieg?« erkundigte er sich, plötzlich in einem leichteren, konversationsmäßigen Ton.

Marion sagte: »Die faschistischen Staaten würden ihn nicht führen können. Diese aufgeblasenen Monstren sind innerlich hohl. Aber es sollte kein Zweifel darüber bestehen, daß die Demokratien bereit und gerüstet sind; dann würden die Aggressiven es mit der Angst bekommen.«

Der Engländer, mild und ein wenig spöttisch: »Warum sind sie denn aggressiv? Weil sie arm sind, weil sie zuwenig Land haben. Deutschland, Italien, Japan wollen Raum. Sollen wir, die Saturierten, die Satten und Reichen, das Expansionsbedürfnis dieser Proletarier unter den Ländern mit Giftgasbomben und Maschinengewehren aufhalten? Und uns dabei noch als die Moralischen aufspielen, als die Bewahrer der heiligsten Güter, die Retter der Demokratie?«

»Wenn Sie so empfinden, warum haben Sie dann nicht dafür Propaganda gemacht, man solle Deutschland Kolonien, den Anschluß Österreichs und was nicht sonst noch gewähren, als die Politik des Reiches noch von Stresemann gemacht wurde, statt von Hitler, Rosenberg und Goebbels?«

»Hätte ich das nur getan!« Die Reue in seiner Stimme mußte aufrichtig sein. Er gestand: »Damals habe ich die Dinge noch nicht so klar gesehen wie heute.«

»Erst mußte Deutschland ein großes Zuchthaus für seine Bewohner und eine schreckliche Gefahr für alle Völker der Erde werden!« Marion ließ sich vom Fensterbrett auf den Boden gleiten. Sie stand aufrecht da, und ihr Gesicht war zürnend, wie wenn sie eines der kämpferischen Gedichte sprach. »Könnte man mit der gerechten Verteilung der Erde nicht warten, bis Deutschland wieder ein anständiges, zivilisiertes Land ist? Wenn man den deutschen Ansprüchen jetzt entgegenkommt, sieht das verdammt so aus, als geschähe es aus Angst vor der deutschen Macht. Es stärkt Hitlers Stellung und schadet also dem deutschen Volk.«

Er versetzte leise, aber bestimmt: »Mir scheint doch, das deutsche Volk liebt seinen Hitler. Hätte es ihn sonst herbeigeholt? Würde es ihn sonst dulden?«

Marion bewegte zornig den Kopf mit der Purpurmähne. »Sie wissen so gut wie ich, daß Millionen Deutsche ihn hassen und ihn los sein wollen; die anderen aber sind ahnungslos und verblendet, es wird unsere Sache sein, sie zu erziehen.«

Ihre Augen flammten; die des Schriftstellers blieben vorsichtig verborgen hinter den dicken Gläsern. Er sagte: »Sicher ist es nicht die Sache der imperialistischen Demokratien. Wir haben vor den eigenen Türen zu kehren. Weder England noch Frankreich oder Amerika haben irgend das Recht, sich vor anderen als moralische Vorbilder aufzuspielen. Was wir tun können, ist nur, das deutsche Volk befreien von dem Minderwertigkeitskomplex, an dem es seit dem Jahre 1918 leidet. Wenn es wieder glücklicher und reicher ist, wird es vermutlich auch wieder verständiger und weniger reizbar werden.«

»Oder es wird noch übermütiger und habgieriger werden«, warf Marion ein. Woraufhin er nur zu erwidern hatte: »Das wird sich zeigen. – Zunächst kommt es darauf an, einen neuen Krieg zu vermeiden. Denn er wäre das Schlimmste.«

Marion: »Noch schlimmer wäre eine Welt, in der die Faschisten diktieren. Und dazu kommt es, wenn die Demokratien den Willen zum Widerstand nicht mehr haben.«

Er darauf, eigensinnig und milde: »Machen Sie sich eine Vorstellung vom nächsten Krieg? Gift- und Gasbomben über Berlin, Paris und London: ich möchte es nicht erleben … Cholera und Hungersnot und zerschossene Häuser und überall die Diktatur einiger bösartiger Generäle: das wäre die Konsequenz. Die Zivilisation retten, indem man sie vernichtet? – Wie kann eine kluge Frau dergleichen wünschen!« Er legte ihr wieder die lange, schöne Hand auf die Schulter, diesmal mehr väterlich mahnend. »Wenn in unseren Ländern ein neues, starkes sittliches Bewußtsein, eine echte Friedensliebe und Nächstenliebe sich durchsetzen in den Herzen der Menschen, dann werden sie es sein, die schließlich die Welt beherrschen und zur allgemeinen Religion werden; nicht die Machtanbetung, wie sie heute von den enttäuschten, verführten Deutschen gepredigt wird.«

 

»Die Gestapo wird den Engländern und Franzosen die Friedens- und Nächstenliebe schon ausprügeln.« Marion sagte es böse. Er aber, zuversichtlich und beinahe heiter: »Gummiknüppel haben keine Gewalt über das menschliche Herz.« – »Auf die Dauer doch«, sagte sie. Er wiegte sinnend das Haupt. »Wir überschätzen die Macht. Sie ist vergänglich, und solang man sie hat, bringt sie mehr Schaden als Nutzen. Mag das Empire sich auflösen! Mir liegt nichts daran, ich wäre ohne das Empire glücklich. Mag doch London eine provinzielle Stadt wie Kopenhagen werden – es wäre vielleicht dann nicht mehr so lärmend dort, man hätte mehr Ruhe, und ich brauchte nicht auf Mallorca zu sitzen, um arbeiten zu können. Lassen wir die anderen ihren kindlichen Hunger nach Macht befriedigen, und geben wir ihnen das Beispiel der Sanftheit. Sie werden uns nicht überfallen, wenn wir nicht mehr bewaffnet sind. Sie werden unsere Leben verschonen – der Krieg ist es, der uns vernichten würde. Wenn nur ein Teil der Welt – der reifere, bessere Teil – sich zum Verzicht auf die Gewalt entschlösse, folgten die anderen nach. Schließlich fände man zueinander. Alle Menschen wären eine Familie, die Staaten wären nicht mehr voneinander abgegrenzt, die Verteilung der Länder hätte keine Wichtigkeit mehr. Das schöne Ziel wäre erreicht«, sprach er träumerisch in die warme Nacht hinaus.

Einmal lachte sie über ihn; er nahm es nicht übel, sagte nur: »Lachen Sie nur! Ich habe auch viel gelacht, viel gespottet, stets gezweifelt, stets alles besser gewußt. Ich war Skeptiker. Durch alle Abgründe der Skepsis bin ich gegangen. Die Skepsis führt zur Verzweiflung. Wenn man leben will, muß man auf das Gute im Menschen vertrauen können.« – Da war sie schon wieder ernst.

Hinter ihnen wurde der weite Salon allmählich leer. Die festlichen Lichter waren ausgegangen; in einer Ecke saß traulich Meister Samuel mit einer hübschen jungen Amerikanerin und trank Whisky. – »Was habt ihr euch eigentlich zu erzählen – ihr, dort drüben am Fenster?« rief ihnen seine Orgelstimme zu. Marion antwortete nicht; sie sah jetzt müde aus, wie nach einer Anstrengung, die zu lange gedauert hat. Der Schriftsteller – dessen kurzes fahles Gesicht im Gegenteil erfrischt und rosig belebt schien – sagte, wobei er nicht zu Samuel hinüber, sondern aufs Meer schaute: »Wir streiten über die Mittel; nicht über das Ziel. Sicher nicht über das Ziel.« Zu Marion gewendet, meinte er abschließend: »Sie übersehen eine grundlegende Tatsache, chère amie – eine ganz einfache biologische Tatsache, möchte ich beinah sagen. Die Liebe ist stärker als der Haß. Der Haß nutzt sich ab, erlahmt, läßt die im Stich, die mit ihm zu siegen meinten. Die Liebe aber ist unüberwindlich.«

Da sie nun verstummten und es auch im Raume hinter ihnen stille war, hörte man plötzlich, mit einer seltsamen Eindringlichkeit, als wollte es sich endlich bemerkbar machen, das Rauschen des Meeres und das seufzend leise Auslaufen der kleinen Wellen auf dem nahen Strand.

Ein paar Tage später reiste Marion ab, ohne den berühmten Autor noch einmal gesehen zu haben. Alle warnten sie davor, dies friedensvolle Eiland gerade jetzt zu verlassen; am heftigsten riet Siegfried Bernheim ihr ab. »Auch ich sollte eigentlich nach Paris, in Geschäften. Fällt mir aber gar nicht ein, zu fahren. Kein Mensch weiß, was nächstens in Europa geschieht. Morgen kann es zum Krieg zwischen England und Italien – und das heißt: zur allgemeinen Katastrophe – kommen. In Frankreich herrscht schon jetzt beinah Bürgerkrieg. Die Frage ist, ob man Sie in Marseille überhaupt landen läßt. Dort wird jetzt gestreikt, kein Hotel oder Restaurant ist offen, die Hafenarbeiter machen keinen Dienst, es wurde auch schon geschossen – ich flehe Sie an, meine Liebe: bleiben Sie hier! Sie riskieren draußen Ihr Leben. Hier ist nichts zu fürchten, auf dieser Insel sind wir in Sicherheit.« – »Soviel ich weiß, ist gestern eine Bombe vor dem Gemeindehaus in Palma explodiert«, sagte sie. Bernheim nahm dies nicht ernst. »Das sind Kindereien! Die Menschen hier haben ein gutes Herz. Warum sollten sie böse und blutdürstig sein? Sie haben genug zu essen, und diesen Himmel und dieses Meer! Vielleicht kommt es zu Unruhen in Barcelona. Auf Mallorca ist man wie in Gottes Schoß. – Ich gedenke, mir von hier aus anzusehen, wie sie sich in Europa schlagen«, sagte der Bankier. – Und einer der jungen Literaten zitierte lachend die Verse von Jean Cocteau:

»À Palma de Majorque

Tout le monde est heureux.

On mange dans la rue

Des sorbets au citron.«

Marion ließ sich nicht umstimmen. Alle schüttelten betrübt die Häupter über soviel Eigensinn; Samuel umarmte sie und schalt sie mit bewegter Orgelstimme »kleine Närrin«; sie reiste ab. Am 13. Juni kam sie in Marseille an. Es war nicht gemütlich. Am Hafen gab es weder Kofferträger noch Taxis. Für ein enormes Trinkgeld wollte ihr ein Junge das Gepäck zum Bahnhof bringen. Die Hotels und Restaurants waren geschlossen, wie Bernheim es vorausgesagt hatte. Die Straßen waren verstopft von Menschen, die in langen Zügen marschierten, rote Fahnen trugen und die »Internationale« sangen. Die Gesichter schwitzten, waren eingehüllt in Staub, hinter dem Staub aber gab es ein mutiges Leuchten. Man begrüßte sich mit der erhobenen Faust. ›Was ist es?‹ dachte Marion. ›Ist es die Revolution?‹ Sie empfand Freude, hier zu sein. Erst in der überfüllten Bahnhofshalle bekam sie Angst. Der Zug, der sie nach Paris bringen sollte, verspätete sich. Sie fand auch den Jungen mit ihrem Gepäck nicht mehr. Übrigens war sie hungrig.

Am nächsten Morgen erwartete Marcel sie in Paris, an der Gare de Lyon. Er sah glücklicher aus als seit langem. »In unserem alten Frankreich gehen große Dinge vor!« erklärte er ihr.

Als Marion ihre Tournee für den Sommer vorbereitete, hatte sie wieder Schwierigkeiten mit ihrem Paß. Verschiedene Konsulate weigerten sich, ihr ein Visum zu geben. Sie erinnerte sich des spanischen Beamten in Nice und seines grausamen: »En somme, Madame, vous êtes sans patrie.« So ging das nicht weiter. Eines Tages sagte sie zu Marcel: »Mir scheint, mein Engel, wir müssen heiraten.« Er schien über diese Mitteilung zu erschrecken. Er gestand ihr: »Es ist mir nicht so ganz recht … Irgendwie habe ich davor Angst.« – »Wieso – Angst?« wollte sie lachend wissen. Er sagte: »Du hast mich nie heiraten wollen, und das war ein guter Instinkt von dir. Ich eigne mich nicht zum Ehemann. Ich bin krank, neulich habe ich wieder Blut gespuckt, ich bin erblich belastet, ich habe abscheuliche Eltern. Wo werde ich enden?« Er zögerte eine Sekunde, ehe er selbst, sehr leise, die Antwort gab: »Im Irrenhaus – fürchte ich oft …« Während Marion eine heftig abwehrende Geste machte, fuhr er fort: »Und nun – nur des Passes wegen? Irgendwie empfinde ich es doch als unschicklich … Das ist wahrscheinlich sehr dumm von mir«, entschuldigte er sich gleich. »Bürgerliche Vorurteile … Die pädagogischen Prinzipien der Madame Poiret scheinen ihren Einfluß auf mich ausgeübt zu haben.« Er lachte ein bißchen, wurde aber gleich wieder düster. »Es wird uns Unglück bringen …« Unter den hochgespannten Bögen der Brauen war sein Blick verdunkelt von Ängsten, die Marion nicht verstand. Sie fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar; es fühlte sich hart und widerspenstig an. »Aber, mon choux! Seit wann sind wir abergläubisch? – Wir könnten uns ja bald wieder scheiden lassen, wenn dir der Ehestand nicht gefällt!« schlug sie lachend vor. Sie küßte ihn; die Gebärde, mit der sie ihn an sich zog, war nicht jene, die eine Liebende für den Geliebten hat; vielmehr glich sie der anderen, mit der die Mutter ein erschrecktes Kind umarmt. Er lächelte zaghaft, während er den Kopf an ihre Schulter legte. »Es wird sehr hübsch sein, wenn wir Mann und Frau sind, meine kleine Marion …« Es klang aber nicht sehr bestimmt, eher fragend, fast flehend.