Klaus Mann - Das literarische Werk

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Marion, Martin und Kikjou fehlten auf dem Fest der Schwalbe; hingegen gab es mehrere neue Gesichter, wie auch altvertraute: Helmut Kündinger war da – fast arriviert nun; ein angesehener Journalist, von würdevoll selbstbewußtem Betragen – Dr. Mathes samt seiner schönen Frau, die, mit leuchtendem Haar und blanker Stirn, einem militanten Erzengel glich; Nathan-Morelli, dessen Gesichtsfarbe unheimlich gelblich war und der leidend wirkte – was ihn übrigens keineswegs dazu veranlaßte, etwas weniger Zigaretten zu rauchen; Fräulein Sirowitsch, seine Lebensgefährtin, Leiterin der großen Presseagentur – ihrerseits stattlich erblühend, ganz entschieden üppiger und attraktiver geworden, seit wir ihr, im fernen Jahre 1933, erstmals begegnen durften; Dora Proskauer – die schräge Nackenlinie belastet von den Sorgen um ihre jüdischen Schützlinge, von denen sich einige ängstlich um sie gruppierten; Theo Hummler – eben aus Straßburg, Prag oder Stockholm zurückkehrend, eingeweiht in mancherlei politische Machenschaften und geheime Aktionen, leicht zerstreut und sehr in Anspruch genommen, aber doch jovial, munter trotz allem, ein lustiger Geselle, guter Trinkkumpan, obwohl so wichtig beschäftigt; Germaine Rubinstein, die ernsten Augen voll Heimweh nach dem unbekannten Rußland; die gefeierte Ilse Ill, fast nur noch Französisch sprechend, höchst extravagant und schaurig hergerichtet, mit grünem Haar und violetten Wangen. Sie erzählte allen, die es hören wollten: »Ich bin wirklich froh darüber, daß ich Erfolg habe – wirklich froh. Denn es ist doch ein gutes Zeichen, wenn ein begabter Mensch sich durchsetzt, ganz ohne Protektion. Mit dem Talent, und mit gar nichts anderem, habe ich es geschafft.«

Übrigens war sie eher noch mißtrauischer, fast verfolgungswahnsinnig geworden, seitdem sie reüssiert hatte. Es geschah, daß sie irgendeinen von den alten deutschen Bekannten mit heftigen Vorwürfen plötzlich überschüttete. »Du grüßt mich nicht mehr – oder nur noch kühl – weil ich Erfolg habe: das ist der ganze Grund. Du verachtest mich wohl, weil ich Geld verdiene? Pfui, wie kann man nur so borniert und eifersüchtig sein! Dabei verdanke ich doch alles einzig und allein meinem großen Talent!« – Sie erbot sich, Marcel zu Ehren ein Lied zu singen, und trug gleich eine gräßlich unanständige Ballade vor – »pour faire plaisir à notre ami Poiret!«

David Deutsch aber – das schwarze Haar über dem wachsbleichen Gesicht wie in ständigem Entsetzen starr aufgerichtet – sprach mit schiefen Bücklingen: »Ich bin etwas neidisch, Marcel! Wie gerne möchte ich mitkommen. Meine soziologischen Arbeiten freuen mich fast nicht mehr, seitdem in Spanien der Entscheidungskampf begonnen hat: denn es ist ein Entscheidungskampf, das spüren wir alle. Ich fürchte nur, man könnte mich kaum gebrauchen; ich wäre kein guter Soldat …« Dazu ein kummervoller Blick auf seine empfindlichen, bleichen Hände. – »Aber vielleicht komme ich nach!« fügte er hinzu und hob, mit einem kleinen Ruck, stolzer das schmale Haupt.

»Vielleicht komme ich nach!« Auch Dr. Mathes sagte es, das schöne Meisje, Theo Hummler, selbst die Schwalbe ließen dergleichen hören. – »Vielleicht komme ich nach!« – Sogar Martin verhieß es; Marcel hatte ihn nach Schluß der Schwalben-Gesellschaft aufgesucht. Von Martins üppigen und fahl gewordenen Lippen indessen klang es nicht so ganz überzeugend. Er bekam lügnerische Augen und behauptete mit koketter Pedanterie: »Ich nehme jetzt fast gar nichts mehr – weißt du. Nur noch ab und zu eine Kleinigkeit – man kann sagen: ich bin vollständig frei. In ein paar Wochen werde ich ganz gesund – und dann fahre ich wohl nach Spanien …« Während Marcel noch bei ihm saß, rief Pépé, der Drogenhändler, an, und Martin mußte sich ausführlich bei ihm entschuldigen wegen der hohen Schulden. »Ich erwarte eine größere Überweisung von meinen Eltern, aus Deutschland!« rief er beschwörend durchs Telefon. »Sei doch noch ein bißchen geduldig, mein süßer Pépé! Und vor allem, vergiß nicht: morgen muß ich ein neues Päckchen haben!« – Neben seinem Bett lagen allerlei rot verfärbte Lappen und Wattebäusche. »Die sind vollgesogen mit meinem Blut«, erklärte Martin geheimnisvoll, als verrate er etwas Reizendes, Pikantes. »Bei den intravenösen Injektionen gibt es Blutverluste – weißt du …« Dabei waren seine Augen verhangen, lüstern und trostlos traurig. Ehe Marcel ihn zum Abschied küßte, fragte Martin ihn noch: »Hast du eine Ahnung, wo Kikjou steckt? Ich glaube, er ist immer noch in Lausanne; aber ich habe schon seit langem keinen Brief bekommen. Er beschäftigt mich nicht mehr so sehr – Gott sei Dank. Aber wenn du seine Adresse zufällig wüßtest, könntest du sie mir doch geben …« Marcel sagte, er habe keine Ahnung, wo Kikjou sei.

Er ging zu ihm, noch in dieser Nacht, es war seine letzte Visite, ehe Marion ihn zum Bahnhof brachte. Kikjou wohnte in einem kleinen Hotel nah der Madeleine. Dort versteckte er sich vor Martin. Er wollte Martin nicht sehen – um keinen Preis, unter keinen Umständen; er hatte Angst vor ihm und vor der chose infernale. In seinem Zimmer hing das Kruzifix; auch die Bücher, auf dem Tisch gehäuft, waren wohl fromme Werke. In dieser Nacht aber unterließ es Marcel, sich mit Kikjou über Gott und die allein seligmachende Kirche zu streiten. Er sagte nur: »In Spanien kämpfen die Priester auf der anderen Seite – auf der Seite des Feindes. Sie haben das Volk in der Finsternis halten, unterjochen und ausnutzen wollen. Das Volk haßt sie.« Dabei ruhte der Blick der tragisch aufgerissenen Sternenaugen auf dem Bild des Gekreuzigten. – »Es gibt schlechte Priester«, gab Kikjou zu. Marcel, anstatt darauf einzugehen, erwiderte: »Lebe wohl!« – Sie umarmten sich, Marcel et son petit frère, Marcel und Kikjou, einander so ähnlich, voneinander so verschieden, wie Brüder es sind; beide begnadet mit Reiz, beide verführend mit weitgeöffneten, schillernd vielfarbigen Augen unter den hohen, kühn geschwungenen Bögen der Brauen. »Mon petit singe!« sagte Marcel, und Kikjou nahm seine Wange nicht von Marcels Gesicht. Sie wußten, es war ein Abschied für lange Zeit, der Abschied für immer vielleicht. – »Ich werde für dich beten«, versprach Kikjou, und Marcel widersprach nicht, lachte nicht, schimpfte nicht, sondern nickte ernst: »Das kann nichts schaden. Bete für mich. Bete für mich, mon petit singe, mon petit frère.« – Es war nicht davon die Rede, daß Kikjou nachkommen wollte; beinah alle, von denen Marcel Abschied nahm, stellten dergleichen in Aussicht; nicht aber Kikjou. Nur daß er beten würde, versprach er. – »Und sei wieder gut zu Martin!« bat Marcel, ehe er ging. »Er braucht dich. Er ist sehr traurig.« – Kikjou darauf, das perlmutterne Affengesichtchen unbewegt: »Er braucht mich nicht, obwohl er traurig scheint. Er hat sich anders entschieden. Nun muß er seinen Weg allein zu Ende gehen.« – Marcel dachte plötzlich an die blutgetränkten Lappen und Wattebäusche neben Martins Bett. ›Auch er verströmt sein Blut – auch er. Sinnlos fließt es hin; eine verschwendete Kostbarkeit; das vergeudete Opfer …‹

Nun gab es nicht viel mehr zu tun, und die Nacht war schon fast zu Ende. Ihren Rest verbrachte Marcel in seiner Wohnung mit dem Ordnen von Papieren und Bildern. Gegen sieben Uhr holte Marion ihn ab.

Von seiner Mutter, Madame Poiret, hatte er nicht Abschied genommen.

›Es wird nie mehr ganz gut mit mir werden‹, glaubte Tilly. ›Der mörderische Doktor und seine Geliebte haben mich mit ihren unsauberen Instrumenten verdorben. Ich bin ganz kaputt. Richtig verpatzt haben sie mich – das kommt nie mehr in Ordnung. Es tut scheußlich weh …‹

Die Schmerzen im Unterleib wurden beim Gehen am schlimmsten; aber auch beim Sitzen an der Schreibmaschine waren sie oft von solcher Heftigkeit, daß Tilly aufstöhnen mußte. Herr Ottinger, obwohl etwas schwerhörig, vernahm leise Laute, die ihm beunruhigend schienen. »Was ist Ihnen, liebes Kind?« fragte er, das sanfte, bärtige Gesicht zärtlich zum Manuskript der »Lebensbeichte eines Eidgenossen« geneigt. Tilly konnte sich zusammennehmen. »Gar nichts«, konnte sie sagen. »Wirklich – ich habe nur ein bißchen Kopfweh, Herr Ottinger.« – »So, so«, machte er, und seine freundlichen alten Augen schauten schon wieder an ihr vorbei, durch sie hindurch, in eine Vergangenheit, die zugleich heiterer und würdevoller schien als eine Gegenwart, die Fröhlichkeit und elegante Form verloren hat.

Tilly wußte ungefähr, was ihr fehlte: in medizinischen Nachschlagewerken hatte sie’s festgestellt. Was nützten ihr die lateinischen Worte und die einprägsamen, etwas unappetitlichen Bilder? – ›Ich bin verpatzt worden‹, war alles, was sie begriff. ›Man hat mich kaputt gemacht. Ich werde nicht mehr gesund.‹ – Dann begriff sie auch noch: ›Im Grunde will ich gar nicht gesund werden.‹

Die Schmerzen im Unterleib waren wohl nur Symptom und Ausdruck eines größeren, tieferen Leidens. Seitdem das Kind, welches Tilly nicht hatte bekommen wollen, entfernt war, fühlte sie sich noch viel betrübter als vorher, da sie’s »unterm Herzen« trug. Sie fühlte sich so betrübt, daß sie beschloß: ›Jetzt hat es aber wirklich keinen Sinn mehr! Ich muß sterben. – Den Ernst sehe ich niemals wieder, auch den Konni nicht. Beide sind vielleicht schon totgeschlagen worden. Ziemlich viel hatte ich mir von der Bekanntschaft mit H.S. versprochen – diesem unbekannten, mir doch so vertrauten H.S. Aus irgendwelchen Gründen scheint das Schicksal nicht zu wünschen, daß wir uns begegnen … Ich sterbe, etwas anderes bleibt gar nicht übrig. Ich habe nichts mehr, was mich halten könnte – nicht einmal ein kleines Kind; denn das durfte ich nicht bekommen. Ich weiß aber, wie ich mir Veronal verschaffen kann. Ich verschaffe mir Veronal … Der Mutter sage ich, daß ich auf zwei Tage nach Basel muß zu Bekannten. Ich gehe in das Hotel, wo ich damals mit dem Ernst gewesen bin. In das Hotel, wo die Polizei uns überrascht hat – dorthin gehe ich …‹

Tilly bestand darauf, daß sie das gleiche Zimmer bekomme wie damals. Die Wirtin wunderte sich: Aber es hat doch zwei Betten und ist um einen Franken fünfzig teurer als die kleinen einbettigen! – Tilly blieb dabei: Ich will Numero 7.

 

Mit Rührung erkannte sie das klapprige Waschgestell wieder und die Flecken an der Wand, von denen Ernst so sachverständig gesagt hatte: Hier hat man Wanzen zerdrückt.

Damals hatte sie nichts bei sich gehabt, keinen Pyjama und keine Zahnbürste. Heute trug sie ein kokettes, übrigens recht billiges Handtäschchen aus rotem Lackleder, in dem alles Notwendige untergebracht war. Durch das sorgfältige Packen hatte sie die Mutter irreführen wollen. Es war ihr aber auch daran gelegen, gerade an diesem Abend und in diesem Zimmer soigniert und adrett zu sein.

Sie verteilte die Flacons, Tuben, Bürsten und Metallgegenstände in hübschem Arrangement auf dem Nachttisch. Neben die Toilettensachen legte sie die beiden Röhrchen mit Veronal, als ob sie nur einen harmlosen Bestandteil der damenhaften kleinen Ausrüstung bedeuteten.

Sie zog den schwarzseidenen Hausanzug mit den langen, weiten Hosen an; während sie das Jäckchen zuknöpfte, fiel ihr ein, daß dies kleidsame Stück ein Geschenk von Peter war. ›Guter Peter!‹ dachte sie träumerisch, und sie begann, sich für die Nacht zurechtzumachen. Statt sich aber das Gesicht, nachdem sie es vom Puder sorgfältig gesäubert hatte, mit fetter Crème einzureiben, wie sie es gewöhnt war, puderte sie sich frisch und schminkte sich Lippen und Augenbrauen. Sie legte sogar ein wenig Rouge auf die obere Wangenpartie, was sie nur vor großen, festlichen Ausgängen zu tun pflegte.

Sie betrachtete sich lange im Spiegel. Ganz sachlich, ohne Stolz und ohne Betrübtheit, stellte sie fest, daß sie außerordentlich hübsch aussah. Die dunklen Schatten um die langen, schräggestellten Augen gaben dem sinnlich-schwermütigen Blick einen noch stärkeren Ausdruck. Die sehr weiße und ebenmäßig gebildete Stirne schimmerte, vom glatten Scheitel des rötlichen Haars ernst und artig gerahmt. Das dunkle Lippenrot, zu dem die Coiffeuse ihr neulich so dringlich-schwatzhaft geraten hatte, machte ihren weichen, »schlampigen« Mund erst recht verführerisch. ›Ich hätte diese Farbe schon früher benützen sollen‹, dachte sie, und dann mußte sie über sich selber lächeln.

Lächelnd ging sie die paar Schritte vom Spiegel zum Tisch, auf den sie Briefpapier gelegt hatte. Beim Gehen spürte sie wieder Schmerzen. Während sie sich am Tisch niederließ, stöhnte sie. Sie saß ein paar Minuten lang gekrümmt; die Knie hochgezogen, das Gesicht in die Hände gepreßt. ›Wenn nur nicht auch noch ein Asthmaanfall zu allem übrigen kommt!‹ dachte sie. ›O mein Gott – nur kein Asthma! Das wäre das Schlimmste, es würde alles verderben …! Ich glaube aber, das Asthma bleibt mir erspart. Ich atme leichter und freier als seit langem.‹ Dies stellte sie mit Dankbarkeit und nicht ganz ohne Verwunderung bei sich fest. Dann begann sie zu schreiben.

Sie hatte vergessen, ihren kleinen Füllfederhalter mitzunehmen. Der Federhalter, den die Wirtin ihr gebracht hatte, war dünn, mit Tintenflecken bedeckt und sehr abgegriffen. Er sah abgenagt aus – fand Tilly, die sich ziemlich vor ihm ekelte – als hätten viele Kinder ihn benutzt oder Erwachsene, denen das Schreiben schwerfällt. Alle hatten ihn zum Munde geführt und sorgenvoll an dem langen, dünnen Holz gekaut. Die Stahlfeder war alt und verrostet. Es gab ein häßlich kratzendes Geräusch, wenn man sie übers Papier führte.

Zuerst schrieb Tilly ein paar Zeilen für die Wirtin. »Falls Sie mich tot vorfinden, benachrichtigen Sie bitte den Herrn Peter Hürlimann.« Sie gab seine Adresse und Telefonnummer an. ›Hürlimann soll es der Mutter sagen!‹ – das hatte sie schon vor langem beschlossen. ›Es ist die letzte kleine Gefälligkeit, die der gute Junge mir tut.‹ – Den Brief an die Wirtin schloß sie: »Entschuldigen Sie, liebe Frau Bärli« – zu ihrer Überraschung fiel ihr plötzlich dieser Name ein – »daß ich Ihnen soviel Umstände mache, und daß ich mir gerade Ihr Gasthaus ausgesucht habe für die Sache, die ich tun muß. Hoffentlich haben Sie nicht zuviel Scherereien.« Das Wort »Gasthaus« strich sie aus und schrieb »Hotel« darüber. ›Das ist höflicher‹, dachte sie.

Dann schrieb sie an den Peter Hürlimann und bedankte sich für alles bei ihm, was er für sie getan hatte; ganz besonders auch für die letzte kleine Gefälligkeit, die es nun noch zu erledigen galt: den schlimmen Gang zur Mama. »Aber sie wird es mit Fassung aufnehmen«, schrieb Tilly. »Sie bewahrt ihre Haltung in allen Situationen. – Und Du darfst auch nicht zu traurig sein, lieber alter Peter! Wenn Du mich gerne hast, solltest Du mir die Ruhe gönnen. Ich bin furchtbar müde, und alles tut mir so weh. Verlange keine Erklärungen von mir, lieber alter Peter! Du mußt mir schon glauben und mußt spüren, daß ich recht habe, und daß es so am besten für mich ist. Denke nicht zuviel an mich, aber doch manchmal. Manchmal sollst Du schon an mich denken. Deine alte Freundin Tilly.«

Wie ein fleißiges Schulmädchen saß sie an dem kleinen wackeligen Tisch und ließ die kratzende Feder emsig übers Papier wandern. Ihre Zungenspitze spielte im Mundwinkel; die geschminkten Brauen waren hochgezogen, die Stirne hatte sie in ernsthafte Falten gelegt. Das lange Sitzen strengte sie an. Die Schmerzen im Unterleib wurden stärker. Wahrscheinlich hatte sie jetzt auch Fieber. Sie stöhnte. Stöhnend schrieb sie ihre letzten Grüße.

Als sie ihre letzten Grüße, ihren Dank und ihre Bitte um Verzeihung an die alten Ottingers schrieb, mußte sie weinen. Es war zum ersten Mal, daß ihr die Tränen kamen, seit sie jenen definitiven Entschluß gefaßt hatte, der das Herz einerseits leicht machte, andererseits erstarren ließ. »Sie sind sehr, sehr gut zu mir gewesen.« Die rostige Feder wurde immer widerspenstiger; Tilly mußte jeden Buchstaben einzeln malen. »Ich bin Ihnen dankbar, von ganzem Herzen. Hoffentlich finden Sie gleich ein anderes Mädchen, das viel schneller tippen kann als ich und nicht immer so blöde Fehler macht. Ich glaube, Herrn Ottingers Erinnerungen sind ein wundervolles Buch; vor allem das Kapitel über die Schweizer Berge hat mir so gut gefallen, es steckt soviel Gefühl darin, ich wollte es dem lieben Herrn Ottinger immer schon gelegentlich sagen.« Jetzt waren ihre Augen so naß, daß alles vor ihnen verschwamm. Sie suchte nach einem Taschentuch in allen kleinen Taschen ihres Pyjamas. Sie fand keines und erhob sich stöhnend, um es sich aus dem Handkoffer zu holen.

›Nun muß ich noch an Mama und an Marion schreiben‹, dachte sie, während sie sich gründlich schneuzte und die Augen wischte. ›Aber ich mache es kurz. Denn ich kann nicht mehr. Ich kann bald wirklich nicht mehr.‹

Als sie wieder am Tischchen saß, ließ sie die Hände noch eine Weile im Schoße liegen. Sie hatte nicht die Kraft, gleich wieder nach dem mageren, abgekauten Federhalter zu greifen. ›Ein Glück, daß ich die Adressen von meinen zwei Liebhabern, von Konni und Ernst nicht weiß; sonst müßte ich denen auch noch schreiben‹, dachte sie, wie eine kleine Sekretärin, die sich freut, daß ihr Chef eine Adresse verloren hat und sie also um lästige Arbeit herumkommt. Dann aber erschrak sie gleich über den Zynismus ihrer Überlegung. ›Wie kann nur ein fast erwachsenes Mädel so faul sein!‹ Sie benützte in ihren Gedanken die Worte, die früher eine Handarbeitslehrerin so oft mit gerechter Empörung zu ihr gesagt hatte.

›Ich habe in meinem Leben nur zwei gern gehabt, und nur mit zweien geschlafen, und von beiden weiß ich nicht, wo sie sind, vielleicht sind beide schon tot, und ich weiß es nicht. Den Konni haben sie vielleicht in Deutschland umgebracht, oder sie haben ihn so lang gequält und geschunden, daß er gar kein richtiger Mensch mehr ist, sondern schon ganz kaputt, und ich würde ihn kaum noch erkennen. Würde ich ihn denn überhaupt noch erkennen, wenn er jetzt hier ins Zimmer träte und sähe noch fast aus wie früher, nur ein bißchen älter natürlich? Ich habe sein Gesicht ganz vergessen. An seine Stimme erinnere ich mich noch und auch an die Art, wie er ging. Aber sein Gesicht habe ich vergessen. Alle Züge verwischen sich mir, wenn ich dran denken will. Ach, Konni, Konni – und wir hätten glücklich sein können! Wir haben doch so fein zueinander gepaßt!

Aber wie der Ernst aussieht, das weiß ich noch ganz genau, ich spüre noch die Berührung von seinem Körper mit meinem, und wie seine Hände waren, spüre ich noch, ich spüre noch alles. Als ich hier mit dir im Bett lag, Ernst, da wußte ich wohl noch gar nicht, daß ich dich lieben würde, wenn du nicht mehr da bist, sondern ganz verschwunden … Daß ich dich lieben werde … Daß ich dich liebe.

Ich hätte das Kind gern von dir bekommen, lieber Ernst, das glaubst du mir doch, wenn ich es dir ganz aufrichtig sage in dieser Stunde, die schließlich eine ziemlich ernste Stunde für mich ist. Aber was sollten wir mit einem Kind? Und was soll denn unser Kind auf der Erde? Schau, so was darf man doch einem Kind nicht antun – es mit solchen Eltern auf die Welt zu bringen! Was für ein hilfloses kleines Geschöpf ist so ein Baby – und wären wir ihm denn eine Hilfe gewesen? Bist du denn ein Papa, wie er sein soll? Ich will dich ja nicht kränken, lieber Ernst, und deiner männlichen Ehre nicht zu nahe treten. Du kannst ja auch nichts dafür, daß du wie ein Verbrecher durch die Länder gejagt wirst, weil du keinen Paß hast. Wenn du mir nur mal geschrieben hättest, dann wäre alles anders gewesen, und ich hätte vielleicht sogar den Mut gehabt, das Kleine zu kriegen. Aber nun muß ich denken, du bist vielleicht einfach tot. – Und – das liegt doch auf der Hand – ich bin auch keine Mama, wie sie sein sollte, sicher nicht. Ich habe nicht die Kraft und den Willen, mein eigenes Leben auszuhalten. Wie sollte ich es da verantworten, ein anderes Leben in die Welt zu setzen und aufzuziehen und immer zu beschützen?‹

Als sie nun die müden Augen ein wenig schloß, stand gleich vor ihr sein Gesicht, das Gesicht des Geliebten, das in diesem Zimmer, auf diesem Bett eine kurze Nacht lang ihr so nah gewesen war. Ganz deutlich sah sie seine sehr hellen Augen – sogar die blonden Augenwimpern konnte sie unterscheiden – und die breiten, hochsitzenden Wangenknochen, über denen sich die etwas unreine, angestrengte, fleckige Haut spannte; und die kurzgeschorenen Haare an den Schläfen – auch am Hinterkopf war das Haar kurzgeschoren, wie Tilly sich wohl erinnerte; das war der preußische Haarschnitt; aber den Nacken sah Tilly jetzt nicht, ihr bot sich nur die nackte, weiße, ernste Fläche seines Angesichts. Auch Hals, Schultern und ein Teil der Brust waren noch erkennbar, und sie überlegte sich, was für eine merkwürdige Art von Uniform es sein mochte, die ihr Ernst da trug – war es ein Sträflingskittel oder ein Soldatenrock? Übrigens stand ihm der hohe, steife Kragen der grauen Jacke nicht schlecht; entschieden besser jedenfalls, als ihm damals das zu lang getragene dicke rote Hemd gestanden hatte.

An die Mutter schrieb Tilly nur ein paar Zeilen: »Versuche mir zu verzeihen … ich konnte nicht anders …« Es war ein konventionelles Selbstmörder-Abschiedsbriefchen. Als Tilly es durchlas, schämte sie sich ein wenig, so etwa, wie man sich etwas geniert, wenn man einem guten Freund Neujahrs- oder Geburtstagsgrüße geschrieben hat und dann konstatieren muß, daß sie zu korrekt und inhaltslos ausgefallen sind. Tilly setzte noch mit großen Lettern unter den Text: »Ich habe Dich immer lieb gehabt, Mama.« Und dann, als zweites Postscriptum, in kleinerem Format: »Grüße bitte meine Schwester Susanne von mir.«

Der Brief an Marion wurde der längste; die arme stöhnende, ab und zu weinende, von Unterleibsschmerzen und Todesgier arg geplagte, auch noch unter der kratzenden Stahlfeder leidende Tilly schrieb fast eine ganze Stunde an ihm.

In Sätzen, die sich häufig verwirrten und nicht immer logisch nebeneinander standen, versuchte sie, der großen Schwester zu erklären, wie alles zusammenhing und was sie zu dem erleichternd-schauerlichen Entschluß gebracht hatte, den auszuführen sie nun im Begriffe war. Dabei ließ sie sich auf mancherlei Einzelheiten ein, deren Bedeutung nicht ganz plausibel wurde, die ihr aber jetzt von besonderer Wichtigkeit zu sein schienen. Zum Beispiel erwähnte sie ausführlich ihre Besuche bei der gräßlichen Anwältin, die im Bett liegend telefoniert hatte und in deren Augen ein infamer, kalter Glanz gewesen war – »ein teuflischer Glanz«, malte Tilly mit der rostigen Feder.

Dann schrieb sie von der einen Liebesnacht mit Ernst, und wie der Kriminalbeamte frühmorgens an die Tür geklopft hatte, und wie peinlich es gewesen war, als Ernst sich so ungeschickt schlafend stellte. »Aber das Kind konnte ich nicht bekommen, da gibst Du mir doch recht, Marion, ich durfte das Kind doch nicht haben, was hätte ich denn mit ihm anfangen sollen!«

 

Sie versuchte zu schildern, wie fürchterlich die Prozedur beim Arzt gewesen war: »Ich glaube, die Instrumente sind nicht sauber gewesen, dieser Doktor war ein ekelhafter Kerl, und jetzt tut es mir immer so weh, es ist wirklich kaum auszuhalten.

Mir ist einfach alles schiefgegangen. Ich habe den Konni sehr gern gehabt, und ich hätte sicher gut mit ihm leben können. Aber dann ist in Deutschland die Riesensauerei passiert, und ich habe den Konni verloren, daran ist die große Sauerei schuld. Ich habe auch den Ernst sehr gern gehabt – laß es Dir sagen, Marion: ich habe ihn noch sehr gern, jetzt, während ich dieses schreibe – und ihn habe ich auch verloren, es hängt auch mit der Sauerei zusammen, wahrscheinlich hängt mein ganzes Pech und all unser Jammer mit ihr zusammen. Vielleicht habe ich auch sehr Heimweh, aber ich glaube eigentlich nicht, daß ich so besonders stark Heimweh habe, mir liegt gar nicht soviel an Berlin und am Schwarzwald und an den deutschen Ostseebädern und an den alten Burgen am Rhein und an all dem Zeug – mir liegt wirklich gar nicht so kolossal viel daran.

Natürlich bleibt es schrecklich, wenn das Land, in dem man geboren ist und dessen Sprache man redet und an das man hunderttausend Erinnerungen hat – wenn das plötzlich zu stinken beginnt wie ein Misthaufen und auch gar nicht mehr aufhören will, so zu stinken, als fühlte es sich recht wohl in seinem eigenen Dreck.

Für Dich ist das etwas ganz anderes, Marion, Du bist ein starker Charakter, und Du kannst kämpfen, Du kannst herrlich kämpfen, es ist eine Freude, Dich kämpfen zu sehen.

Aber ich kann nicht kämpfen.

Ich kann kein Kind haben, und kämpfen kann ich eigentlich auch nicht.

Ich interessiere mich ja im Grunde gar nicht für Politik.

Einen einzelnen Menschen hätte ich glücklich machen können, und dann wäre ich wohl auch glücklich gewesen. Aber damit ist es nun nichts. Die Zeit ist nicht dazu geeignet, in ihr glücklich zu sein. Das begreife ich mehr und mehr. Es ist also nichts mit dem großen Glück, von dem wir als Kinder geträumt haben, und mit dem kleinen Glück ist es auch nichts. Nur ein großer Haufen Schmerz war für uns vorbereitet. Aber mal muß alles seine Grenze haben. Ich bin an der Grenze. Ich kann nicht mehr. Ach Marion: ich muß es Dir doch gestehen – ich freue mich sogar etwas darauf, zu sterben. Natürlich habe ich auch Angst, aber es ist eine ziemlich schöne Angst, weißt Du, ein bißchen wie die Angst vorm ersten Kuß, nur viel heftiger, aber auch viel schöner.«

Der Brief war schon sechs eng beschriebene Seiten lang. Tilly mußte ein Ende finden. Sie kaute ein wenig an dem dünnen, befleckten Federhalter, wie so viele vor ihr an ihm gekaut hatten. Dann schrieb sie noch:

»Du mußt nicht traurig sein, daß ich weggehe, Marion. Es ist nicht so besonders schade um mich. Ich sage das ganz ohne Bitterkeit. Viel wichtiger ist, daß Du lebst und so bleibst, wie Du bist. Glaube bitte nicht, daß ich das aus Bitterkeit sage! Ich bin zwar sehr traurig und furchtbar müde, und alles tut mir weh; aber ich bin gar nicht bitter. Du wirst tausend Sachen erleben, die ich nicht mehr erleben kann – oder mag. Du wirst auch sicher mal nach Deutschland zurückkommen, das wird sehr schön und aufregend sein, eine Art von großem Fest, aber auch viel Arbeit; denn Du wirst viel zu tun haben. Du hast viel auf dieser Erde zu tun, Marion. Ich habe nichts mehr auf dieser Erde zu tun – beinah nichts mehr. Deine Schwester Tilly.«

Als Nachschrift fügte sie hinzu: »Vielleicht hätte ich diesen braven Schweizer, den Peter Hürlimann, heiraten sollen. Das wäre noch ein Versuch gewesen, mich am Leben zu halten. Aber es wäre kein guter Versuch gewesen. Ich hätte ihm das nicht antun können – mit ihm zu leben, ohne ihn zu lieben. Er ist ein guter Mensch.«

Nun war auch dieser Brief fertig – der letzte. Sie steckte ihn ins Couvert. Sie schichtete die Briefe sorgsam zu einem Häufchen. Der Zettel an die Wirtin lag obenauf. Dann stand sie auf und klingelte. Zu der Wirtin, die gleich erschien – als hätte sie vor der Türe gewartet – sagte sie: »Bringen Sie mir doch bitte eine Tasse Tee, Frau Bärli.« Sie war stolz darauf, daß sie den Namen der Frau jetzt wußte. Die Wirtin erwiderte ernst: »Sicher, Fräulein.« Das »ch« in »sicher« sprach sie mit einem rauhen, langgezogenen Kehllaut.

Die Wirtin ging. Tilly setzte sich aufs Bett und wartete. Sie dachte: ›Wie müde ich bin, ehe ich noch das Veronal genommen habe‹, und sie schloß die Augen. Ihr fiel ein kleines Gebet ein, das sie als Kind, mit Marion zusammen, vor dem Zubettgehen hatte aufsagen müssen. »Müde bin ich – geh zur Ruh – schließe beide Augen zu. – Vater, laß die Augen dein – über meinem Bette sein.« Dann wußte sie nicht mehr weiter. Sie war sich auch nicht ganz sicher, ob die Zeilen mit den »Augen dein« und dem »Bette« nicht eigentlich etwas anders gelautet hatten.

Plötzlich erinnerte sie sich mit fast erschreckender Deutlichkeit eines Hauses, in dem sie als Kind jahrelang einen Tag der Woche – den Sonntag – verbracht hatte. Das Haus gehörte einer Großtante, einer Schwester von Papas Vater. Sonntagmittag versammelte sich dort ein großer Teil der Familie; man blieb bis zum Tee, an hohen Feiertagen bis zum Abendessen. Es gab gut zu essen; die Großtante mußte ziemlich reich gewesen sein. Ihr Haus war schön und geräumig. Es lag in einem weiten Garten, der umso kostbarer war, als er sich inmitten der Stadt befand. In dem Garten, so schien es Tilly jetzt, hatten immer die Vögel gesungen, und zwar auf eine sehr besondere, zugleich gedämpfte und eindringliche Art. Es war ein reizender und etwas verwunschener Garten. Nie wieder in ihrem Leben hatte Tilly einen Garten gesehen, in dem die Blumenbeete so starke, liebliche Farben hatten und wo die Brunnen so hübsch und einschläfernd rauschten. Es gab zwei Brunnen im Garten der feinen alten Großtante: eine Fontäne, die ihren schlanken Strahl in ein rundes Marmorbecken fallen ließ, und einen Brunnen, der als kleine Grotte zurechtgemacht war; hier floß das Wasser aus dem drohend aufgesperrten Maul eines riesengroßen, fetten, giftgrünen Frosches, vor dem Tilly Angst hatte. – Ganz im Hintergrund des Gartens stand ein Gerätehäuschen, angefüllt mit interessantem Gerümpel. Zwischen den alten Schubkarren, Gießkannen und Leitern versteckten die beiden kleinen Schwestern, Marion und Tilly, sich manchmal vor den Erwachsenen. Es war lustig, die großen Leute im Garten draußen schreien zu hören, während man sich in der warmen, dumpfig eingeschlossenen Luft des Schuppens aneinanderpreßte und ein Kichern unterdrückte, das einen hätte verraten können.

Vom Garten führten ein paar Stufen zur Terrasse hinauf, wo Tee getrunken und im Sommer manchmal gegessen wurde. Hier waren die Wände mit Malereien geschmückt, die nicht nur verblaßt, sondern im Begriffe schienen, völlig zu zerbröckeln. Von einem Sankt Sebastian, der die Jünglingsanmut seines Leibes in stolzer Pose den Pfeilen der Peiniger bot, war nichts übrig geblieben als ein bleicher Schatten, so als ob der Heilige allmählich seine Unsterblichkeit einbüßte und in schöner Haltung, milde und nur ein klein wenig gekränkt lächelnd, verweste.

Wie tief hatte sich dies alles eingeprägt in Tillys Gedächtnis! Mit welch schauerlich-süßer Genauigkeit stieg es nun auf, während sie in diesem kalten, trostlosen Hotelzimmer fröstelnd auf ihren Tee wartete. Sie wartete auf den Tee, in dem sie die zwanzig Veronaltabletten auflösen wollte.