Klaus Mann - Das literarische Werk

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Der letzte Kampf war sehr schwer. Martin saß starr aufgerichtet im Bett, mit gereckten Armen. Er bewegte die Arme – nach was griff er denn? Wen wollte er denn berühren? Erschauernd fiel die Mutter über sein Lager. Ihr graute; denn Martin, ihr armer Sohn, ward geschüttelt von Fäusten, die unsichtbar sind. Auch schien es ihr, daß er strahlte. Von seinem Gesicht, das gleich erstarren würde – die Mutter wußte es: nun würde sein Gesicht gleich erstarren – kam Glanz. Um sein immer noch aufgerichtetes Haupt, so schien ihr, zuckte ein Glorienschein wie von Blitzen, ein elektrisches Diadem, eine tödliche Krone.

Die feurige Zierde um seine Stirn erlosch, seine Hände sanken: sei es, weil sie nun berührt hatten, was zu berühren sie so gierig gewesen; sei es, weil sie es für immer unerreichbar gefunden – und während sein Blick brach, sanken seine Glieder und das endlich erlöste Haupt in die Kissen zurück.

Es kostete große Mühe, Frau Korella vom Lager ihres Sohnes zu entfernen. David Deutsch begleitete sie in ein Hotel, wo er ihre Koffer schon hatte unterbringen lassen. Er übernahm es auch, an Martins Vater nach Berlin zu telegraphieren. Ihm war es angenehm, daß er noch irgend etwas zu tun hatte, und wenn es auch melancholische Kleinigkeiten waren – ehe er nach Hause gehen mußte, wo nur die furchtbaren Gedanken, die Erinnerungen und die Einsamkeit ihn erwarteten.

Als er, eine Stunde später, sein Zimmer betrat, saß im Halbdunkel ein Mensch auf dem Sessel am Fenster. »Wer ist das?« rief David, der sehr erschrak. Eine leise, glockenhaft reine Stimme antwortete: »Ich bin es, verzeihen Sie bitte.« Es war Kikjou. Als er ihn erkannte, brach David in Tränen aus. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht weinen können. Kikjou fragte schnell: »Er ist also tot?« Da der Schluchzende nickte, faltete Kikjou die Hände. »Gott sei seiner armen Seele gnädig.«

Auf diese Worte hin, die Kikjou mit wunderbarer Glockenstimme, leise, aber innig akzentuiert vorbrachte, machte David eine ungeheure Kraftanstrengung, um seinen Weinkrampf zu unterdrücken. Er ballte die Fäuste, biß die Zähne aufeinander, daß sie knirschten, und bog den Rumpf in heftiger Verrenkung nach rechts, wobei er die Schenkel beinah bis zu den Schultern hochzog und sogar etwas hüpfte. Ja, die ungeheure physische Mühe, die es ihn kostete, des Weinens Herr zu werden, brachte ihn dazu, mit geschlossenen Füßen, etwa zwei Zentimeter hoch in die Luft zu springen. Es war ein grotesker und erschreckender Anblick. Erschreckend war auch das Zornesfunkeln in Davids Augen, als er jetzt Kikjou anschrie: »Sparen Sie sich Ihre frommen Wünsche und Gebete! Wenn es Ihren lieben Gott überhaupt geben sollte, dann ist Martin ihm näher gewesen als Sie mit allen Ihren Sprüchen und Litaneien!«

Kikjou schwieg, sein fahles, liebliches Gesicht blieb starr. Die Augen, in denen Grün, Hellblau, Goldbraun, Violett und Schwarz sich in einer zugleich undurchdringlichen und strahlend hellen Tiefe mischten, schauten an David vorbei. Nach einer großen Pause sagte er: »Wahrscheinlich haben Sie recht. Wir wissen nicht, wen der Herr liebt und bevorzugt.« Er verstummte noch einmal; in seinen Augen wurden alle Farben von dem Schwarz verschlungen; sein Blick war in Finsternis getaucht wie ein Gewässer, über das finstere Wolken ziehen. »Ich bringe Unglück«, sagte er noch, wieder nach großer Pause. Und er stand schön und trostlos da. – ›Wie ein Todesengel‹, dachte David, der seine Heftigkeit von vorhin bereute. Da Kikjou immer noch schwieg, fragte David nach einer Weile mit etwas bebender Stimme: »Warum sind Sie nicht bei ihm gewesen? Ich werde es niemals verstehen, warum Sie nicht gekommen sind. Er hat immer wieder nach Ihnen gefragt – nur nach Ihnen. Haben denn all meine Nachrichten Sie nicht erreicht? Die Briefe und die drei Telegramme?«

»Nein«, antwortete Kikjou, »ich habe nichts bekommen.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Aber ich wäre wohl auch in Belgien geblieben, wenn alle Ihre Botschaften mich erreicht hätten. – Martin brauchte mich nicht, er wollte mich nicht mehr. Er hat etwas anderes mehr geliebt als mich. Er hat dem Dunklen Engel Stirn und Lippen zum Kuß geboten. Der Dunkle Engel zog ihn innig an sich. Gott sei Martins armer Seele gnädig.«

Der kleine Kikjou hatte wieder die Hände gefaltet. Aber er neigte das Gesicht nicht, wie man es zum Gebet neigt. Er hielt es aufrecht, und er lächelte.

David Deutsch erschrak. ›Warum lächelt er? Er sieht fast aus, als habe er den Verstand verloren; aber ein Wahnsinniger ist er nicht. In was für Geheimnisse ist er eingeweiht, und was für Bilder schauen nun seine Augen? – Spielt er Komödie? Heuchelt er? Aber Heuchler haben nicht diese Flamme im Aug, und nicht dies bleiche Leuchten über Stirn, Haar und Mund …‹

Zur Beisetzung von Martins Asche ist Herr Korella in Paris eingetroffen – ein ziemlich gebrochener Mann. Es ist zuviel für ihn gewesen in den letzten Jahren: erst der Verlust seines Notariats, dann seiner Praxis, und nun diese Tragödie mit dem Jungen. Was hat Herr Korella denn getan, womit hat er sich denn versündigt, daß ihm soviel Entsetzliches zugemutet, soviel Schreckliches über ihn verhängt wird, von einer Instanz, die Herr Korella, Atheist und Freimaurer, niemals »Gott« nennen würde, aber deren unbegreifliche und unbarmherzige Macht er erschauernd spürt. Er hält sich sehr aufrecht, Herr Korella, der Vater. Aber eben durch diese krampfhaft steife Haltung wirkt er besonders zusammengebrochen; alle haben den Eindruck, daß es diesem Mann natürlicher wäre, gebückt zu gehen, ja, vielleicht auf allen vieren zu kriechen, die Stirn in den Staub gepreßt. Über den Lippen, die immer ein wenig zittern, hat der Vater ein kleines Schnurrbärtchen, welches wie bereift aussieht: kein graues Schnurrbärtchen, sondern ein schwarzes, auf das Reif gefallen ist. Unter den Augen, die glasig blicken, gibt es traurige Säckchen: rötliche Verdickungen, wahrscheinlich tun sie immer ein wenig weh. Herr Korella trägt einen abgeschabten schwarzen Paletot mit speckigem Samtkragen, dazu weiße Gamaschen, runden steifen Hut und einen dicken, schwarz lackierten Spazierstock mit Silberkrücke. Zur schäbig-altväterlichen Eleganz solchen Aufzuges paßt die mühsame Grandezza seines Benehmens. Er bietet Frau Korella den Arm – arme Frau Korella, die buchstäblich in Tränen zu zerfließen droht und deren Gesichtszüge auf eine beängstigende Art weggewischt und abgewaschen scheinen; er führt Frau Korella zum Eingang des Friedhofes wie zum Portal eines Ballhauses; seine Gesten, sein Gang sind marionettenhaft zuckend, ach, eigentlich möchte er auf allen vieren kriechen, zerfurchte Stirne und bereiftes Schnurrbärtchen im Staube, zu dem wir alle zerfallen werden …

Nicht sehr viele Leidtragende sind auf dem Friedhof erschienen; einige Stammgäste aus der »Schwalbe«: Kikjou, David Deutsch, die Proskauer, Dr. Mathes, und eine hagere Dame, die nur wenigen bekannt ist. Sie hält ein helles Lederköfferchen, in dem es klappert, unter dem Arm; es ist Friederike Markus – war sie denn befreundet mit dem Verstorbenen? Stand sie denn auch mit ihm in Korrespondenz? Martin ist doch ein so fauler Briefschreiber gewesen, aber Frau Viola ist es ja gewohnt, auf lange Ergüsse nur kärgliche Antwort zu erhalten. Wie dem auch sein möge: sie ist anwesend, und sie drückt als erste der aufgelösten Mutter Korella stumm die Hand. Übrigens befindet sie sich in Begleitung eines blonden jungen Mannes, der gleichfalls allen unbekannt ist und sich im Hintergrund hält. – Während die Schwalbe mit großen, gleichsam zornigen Schritten breitbeinig auf und ab geht, wie ein Kapitän auf Deck seines Schiffes bei bewegter See, sagt Dr. Mathes zu Dora Proskauer: »Martins Lungenentzündung war von sehr besonderer Art. Da er nun tot ist, darf man wohl davon reden. Er war durch und durch infiziert. Ich möchte annehmen, daß er sich die intravenösen Injektionen mit einem nicht desinfizierten Instrument gemacht hat. Daher bildeten sich die Abszesse in seinem Inneren.« Die Proskauer sagte leise – ohne jeden Affekt, wie es schien, aber doch energisch: »Hören Sie bitte auf.«

Übrigens regnet es, zu Beisetzungen gehören Regen, nasse Parapluies und der Geruch feuchter Mäntel. David Deutsch hat vorgehabt, eine kleine Rede zu halten – damit doch etwas gesprochen werde; denn es ist ja kein Geistlicher zugegen. Martin hat keiner Religionsgemeinschaft angehört, weder der israelitischen, deren Mitglied sein Vater ehemals gewesen ist, noch der protestantischen, zu der sich Frau Korella bekennt. Aber David versagt, er hat seine Kraft überschätzt. In verzweifelt schiefer Haltung steht er da; er verneigt sich seitwärts, lächelt verzerrt, eine ganz kleine Pantomime von hilflosen und närrischen Höflichkeitsbezeugungen führt er auf; aber über seine Lippen kommt kein Wort. Die rüstige alte Schwalbe ist es, die die Situation halbwegs rettet; sie schiebt David resolut beiseite – ihr zerzaustes, borstiges Grauhaar ist naß vom Regen, ihr energisch gutmütiges Kapitänsgesicht naß von Tränen, und ihre Stimme ist rauh, zittert wohl auch ein wenig, gibt aber doch markige Töne her, da sie nun ausruft:

»Martins Vater und Martins Mutter! Meine lieben Kinder! Ich kann keine Worte machen, und das hätte unser Kamerad auch nicht von mir verlangt, unser Freund, von dem jetzt nur noch dieses bißchen Asche übrig sein soll. Aber seine Gedanken und die Anmut seines Wesens und alles, was er gewesen ist, das darf doch nicht einfach so verlorengehen, das muß doch nachwirken – in uns, in uns nachwirken, meine ich; wir bewahren es doch. Er hat ja auch ein Dutzend sehr schöne Gedichte geschrieben, schlimm genug, daß es nicht mehr gewesen sind.« Hier hört man, wie Herr Korella sich gramvoll und ein wenig indigniert räuspert, und wie Frau Korellas Schluchzen heftiger wird – es ist erstaunlich, wieviel Tränen sie herzugeben hat, es scheint, als sei der Brunnen ihrer Tränen unerschöpflich, nun fließt das salzige Naß wieder so reichlich, als beginne die arme Frau gerade jetzt erst zu weinen, während sie doch in Wahrheit seit so vielen Stunden ohne jegliche Unterbrechung schluchzt. – Leichte Bestürztheit bei der kleinen Zuhörerschaft; manche deuten sogar durch Stirnrunzeln und Kopfschütteln eine gewisse Empörung an. Die alte Schwalbe aber – unbeirrbar, immer aufrichtig, das Herz auf dem rechten Fleck, weder durch Tränenbäche noch durch Stirnrunzeln irgend aus dem Konzept zu bringen – alte Schwalbe, angesichts der kleinen schwarzen Urne ebenso natürlich und ungeniert wie hinter ihrer Theke im Lokal – fährt fort: »Schrecklich oft habe ich ihn auszanken müssen wegen seiner sündhaften Faulheit. Was hätte der nicht alles schaffen können! Aber es lag ihm wohl nichts daran. Er hat viel zu früh aufgehört. Was hätte er noch alles bringen und bedeuten können, für ihn selber und für die Freunde! Er war ja so reich – so reichlich ausgestattet mit schönen Gaben. Aber er hat sich nicht schonen und nicht aufsparen können; er hat furchtbar mit sich gewüstet. ›Auf was soll man denn warten, für welch kostbare Gelegenheit soll man sich denn aufheben?‹ hat er mir oft gesagt. Ich habe ihn dann zurechtgewiesen: ›Aber du willst doch Deutschland wiedersehen, Martin, und du wirst in Deutschland noch viel zu tun haben.‹ – Dann hat er nur sonderbar gelacht und hat vielleicht mit einer schönen, traurigen Bewegung gesagt – mit einer Bewegung, wie sie ihm niemand nachmachen kann: ›Ach, Deutschland …!‹ Unser Freund hat furchtbar unter allem gelitten, was dort geschieht; es hat ihn beinah verzehrt – von innen verzehrt – ich weiß es – und es hat sicher seinen Tod beschleunigt. – Diese Mörder!« ruft, plötzlich sehr zornig, die alte Schwalbe, und sie hebt die Faust – sie reckt ihre sehnige alte Faust über diesem kleinen, schwarzen Behälter, der die Asche ihres liebsten Gastes birgt. – »Diese Mörder da drüben! Sie bringen nicht nur die um die Ecke, die sie totschießen oder zertrampeln oder erschlagen; sondern auch die vielen andern, denen sie die Freude am Leben und das Leben selber kaputt machen; die sie erledigen, die sie zerstören: einfach, weil für empfindliche Lungen die Luft nicht zu atmen ist, die von diesen Ungeheuern vergiftet wird! – nicht nur in Deutschland! Der Pestherd schickt seine Dünste aus. Daran – und an nichts anderem! – ist unser Martin eigentlich gestorben!« – Neues Räuspern des Herrn Korella, diesmal heftiger. Ist das eine passende Grabrede? Diese merkwürdige Person namens Schwalbe irrt sich augenscheinlich im Ort: sie ist hier auf keiner Volksversammlung. Das scheint ja eine rechte Hetzerin zu sein. Schon die Anspielung auf Martins Faulheit vorhin ist eine horrende Taktlosigkeit gewesen. Der Junge war ja recht träge, zugegeben; aber man erwähnt es doch nicht am Grabe. Und nun diese Entgleisung, unerhört, das ist doch geradezu eine Rücksichtslosigkeit. ›Schließlich muß ich morgen nach Berlin zurück‹, denkt Herr Korella, und er spürt eine Beklemmung in der Magengegend bei dieser Idee. ›Wer weiß, ob nicht unter den Trauergästen ein Spitzel ist, man muß immer mit so was rechnen. Und überhaupt, es ist ja Unsinn, was sie da redet, es ist doch der schiere Quatsch. Die Nazis sollen schuld sein an Martins traurigem Ende? Alles was recht ist, aber man kann die Leute doch nicht für jedes Unglück verantwortlich machen. Ich, als Vater, habe immer gewußt, daß es mit dem Jungen nicht gut ausgehen wird, trotz seinen schönen Talenten …‹

 

Die kleine Trauergemeinde läßt deutlich merken, daß man zum zweiten Mal peinlich berührt ist von der seltsamen Unbeherrschtheit der alten Schwalbe. Natürlich gibt man ihr recht und unterschreibt innerlich ohne Vorbehalt die wilden Worte, die sie vorgebracht hat. Aber – so empfindet man allgemein – eine gewisse Rücksicht auf die alten Herrschaften aus Berlin wäre doch ratsam und am Platze gewesen. – Betretene Gesichter im ganzen Kreise; nur der fremde junge Mann, den die gleichfalls ziemlich fremde Friederike, genannt Frau Viola, mitgebracht hat, wirkt gänzlich unbeteiligt; etwas gelangweilt, und als interessiere ihn nichts von dem, was hier geredet oder getan wird, spielt er mit seinen Handschuhen.

Übrigens scheint die alte Schwalbe zu spüren, daß sie Mißfallen oder doch Verwunderung erregt hat. Sie beißt sich die Lippen; schüttelt den Kopf, als wolle sie sich selber zurechtweisen: Dummes Ding, kannst du dich denn gar nicht ein bißchen zusammennehmen! – und sie wird sogar etwas rot; es macht einen sonderbaren und recht rührenden Eindruck, wenn ein verwittertes, von allen Winden und Wettern gegerbtes Kapitänsgesicht, wie das der Mutter Schwalbe, sich schamhaft verfärbt. Ihre Stimme ist weich und leise, da sie nun fortfährt:

»Hoffentlich hast du jetzt die Ruhe, lieber Martin, nach der du dich so gesehnt hast. Uns wirst du sehr fehlen, es wird schwer und bitter sein, sich daran zu gewöhnen, daß du nicht mehr da bist. Wir sind doch eine Familie – nicht wahr, Kinder, ich übertreibe nicht, und es ist keine sentimentale Redensart, wenn ich uns so bezeichne?« Dies sagt sie bittend, fast flehend, und ihr Blick wandert in einer ängstlichen Frage von einem zum anderen. Alle nicken ihr zu. Die leichte Mißstimmung ist schon wieder verflogen. Sie ist eben doch eine prachtvolle alte Person, unsere Schwalbe, freilich sind wir eine Familie, und dir, alte Schwalbe, haben wir dankbar dafür zu sein; denn du hältst uns zusammen, du bist der Kapitän und die Mutter, die Ernährerin und der General.

»Ja, ja«, ruft die alte Frau, jetzt beinah freudig, und aus ihrem ängstlich forschenden Blick ist ein zuversichtlich leuchtender geworden. »Eine Familie – das sind wir – und das sollt ihr auch in Berlin erzählen!« Dabei wendet sie sich triumphierend Herrn und Frau Korella zu, die nicht wissen, ob sie gerührt oder empört sein sollen, und in Wahrheit beides gleichzeitig sind. »Davon sprecht in Berlin!« verlangt die Schwalbe von ihnen. Aber dann schaut sie wieder weg von Martins krampfhaft steif aufgerichtetem Vater und von der tränennassen Mama, und ihre Augen bleiben noch einmal an dem schwarzen kleinen Behälter hängen, an dem bescheiden verzierten Gefäß, in dem das graue Aschenhäufchen aufgehoben ist. »Nun ist unsere Familie plötzlich viel ärmer geworden« – dieses wird von ihr vorgebracht, als spreche sie zu sich selbst und habe vergessen, daß es hier Zuhörer gibt. »Viel ärmer geworden«, wiederholt sie mit betrübter Nachdenklichkeit. »Der Beste ist weg.« Sie zuckt die Achseln, mit einer bitteren und gar nicht pathetischen Resignation.

»Ja, er ist wohl so ziemlich der Beste gewesen …« Dabei hat ihr Gesicht etwa den Ausdruck, welchen es bekommt, wenn Frau Schwalbe die Geschäftsbücher prüft: es ist, als ließe sie in Eile sämtliche Mitglieder ihrer großen Familie Revue passieren und als prüfe sie hastig, aber genau, die Valeurs jedes einzelnen, um festzustellen, ob Martin wirklich der Wertvollste gewesen ist. Und sie kommt zum Ergebnis: »Ich behaupte gar nicht, daß er der Tüchtigste war, oder der Nützlichste, oder der Tapferste, oder der Klügste; aber in einem gewissen Sinn ist er der Kostbarste von uns gewesen; er war vom Kopf bis zu den Füßen aus einem sehr feinen, seltenen, edlen, leicht zerstörbaren Material gemacht. – Von allen meinen Kindern habe ich dieses am liebsten gehabt.« Großes, zärtlich-schmerzliches Lächeln – mütterliches Lächeln auf dem Kapitänsgesicht. »Das darf nun keiner von euch anderen übelnehmen«, bittet sie sanft. »Einen muß man doch am liebsten haben – so ein Herz ist ungerecht.« Mit einer weit ausholenden, ungeschickt großartigen Gebärde deutet sie auf ihr Herz, das unter dem dunklen Regenmantel, unter der streng zugeknöpften grauen Bluse so stark, so innig, so jugendlich klopft. »Diesen also hat mein Herz bevorzugt«, verkündigt die alte Schwalbe, fürstlich-eigensinnig, einer Königin ähnlich, die dem Günstling in majestätischer Laune einen höheren Orden verleiht, als er ihm wohl eigentlich zukäme. – »Schlafe in Frieden!« – Wieder eine unbeholfen-pathetische Geste; ein weites Breiten der Arme, das eigentlich gar nicht zu den Worten paßt, die sie spricht. »Vielleicht gibt es einen Ort, von dem aus du uns zuschauen und beobachten kannst. Nun, wir wollen jedenfalls so leben, als wachtest du über uns, und wenn wir einmal etwas Gutes erreichen und einen tüchtigen Schritt weiterkommen – dann werden wir an dich denken, und eine Stimme, ganz tief drinnen in uns, wird sagen: Bist du jetzt zufrieden, lieber Martin? Freust du dich etwas mit uns, an dem unbekannten, wahrscheinlich sehr weit entfernten und vielleicht sehr schönen Ort deines Aufenthaltes? – Wie schade, wie jammer-jammerschade, daß du nicht mehr mit uns sein kannst …«

Dieses war die höchst überraschende, teilweise anstößige und teilweise ergreifende Trauerrede der alten Schwalbe. Sie hat geendigt, nun tritt sie zurück und wischt sich die Augen mit einem großen, nicht ganz sauberen Männertaschentuch. Viele weinen im Kreise; andere schauen starr und gramvoll vor sich hin. Jemand aber stößt einen kleinen, durchdringenden Klagelaut aus – es klingt wie das Heulen eines fremdartigen Tieres in der Nacht. Dieser Jammerruf kommt von Kikjou; er hat sich bis jetzt ganz still im Hintergrund gehalten, nun aber taumelt er, er scheint niedersinken zu wollen, ja, er wäre gestürzt, wenn nicht David Deutsch ihn aufgefangen hätte. David ist mit elastisch-behenden Sprüngen herbeigehüpft; er lächelt verzerrt, mit verzweifelter Höflichkeit, und in den Armen hält er den Knaben, an dem Martins Herz mit so unglücklicher und zäher Leidenschaft hing; den problematischen kleinen Vagabunden, den grüblerischen Aventurier – eine wie leichte Last ist er an Davids Brust, David ist doch gewiß nicht sehr stark, sicherlich ist er kein Riese, aber der kleine Kikjou wiegt so gut wie nichts. Und wie bleich Kikjous Gesicht ist – buchstäblich alle Farbe ist aus ihm gewichen, auch die Lippen sind weiß, nur auf den geschlossenen Lidern und unterhalb der Augen gibt es dunkle Töne; schwärzlich-graue, blaue und violette Schatten sind wie mit einem Pinsel in die kranke Helligkeit dieses leidenden Gesichtes getupft. – Ein paar Sekunden später nimmt Kikjou sich wieder zusammen; er lächelt mühsam: Danke; er drückt David die Hand, und nun kann er schon ohne Hilfe stehen.

In traurigem Défilé ziehen die Stammgäste der »Schwalbe« und die paar Fremden an Martins Eltern, an Herrn und Frau Korella aus Berlin, vorbei. Händeschütteln und gemurmelte Phrasen des Beileids. Frau Schwalbe umarmt Mutter Korella, die sich mit dem triefend nassen Tüchlein die geschwollenen Augen wischt; alte Schwalbe küßt Mutter Korella auf beide Wangen, Herr Korella sieht mit Mißbilligung zu. Er hat der temperamentvollen Dame ihre unkonventionelle und in vieler Hinsicht schockierende Grabrede ganz entschieden übelgenommen. Zu David Deutsch, der nun seinerseits den schiefen Bückling vor ihm macht, sagt er deutlich und nicht ohne Schärfe – obwohl die Schwalbe sich ganz in der Nähe befindet und seine Worte verstehen kann: »Ich bedaure es aufrichtig, lieber Herr Doktor, daß Sie die Ansprache nicht halten konnten. Denn Sie sind es doch wohl, der meinem Sohn von allen hier Anwesenden am nächsten gewesen ist.« Er sieht mit einem strengen Blick erst an Frau Schwalbe vorbei, dann an Kikjou, dem er demonstrativ nicht die Hand gereicht hat.

Der einzige, dem Vater Korella hier ein gewisses Vertrauen entgegenbringt, ist David Deutsch; nun wird es deutlich, denn der alte Herr legt diesem Freund seines Sohnes einen Arm um die Schulter, und er führt ihn ein wenig beiseite. David, in besonders schiefer Haltung – den Oberkörper verrenkt, im überhöflichen Eifer des Lauschens – nickt erregt mit dem Kopf und scharrt mit den Füßen die Erde wie ein nervöses Roß.

Herr Korella – ein total gebrochener Mann, der sich unter schier übermenschlichen Mühen steif und gerade hält, als hätte er einen Stock im Rücken – Herr Korella bringt mit bebenden Lippen sein kleines Anliegen vor: Ob der junge Herr Deutsch ihm, dem Vater, bei der genauen Durchsicht von Martins Papieren behilflich sein möchte? »Vielleicht finden wir wertvolle Dinge unter diesen Niederschriften«, sagt der Vater, und in seinen Augen, die sonst über den schweren, entzündeten Tränensäcken einen so stumpfen Blick haben, gibt es plötzlich ein stolzes kleines Aufleuchten. »Geistige Kostbarkeiten«, fährt er erhobenen Hauptes fort, »literarische Leckerbissen«, sagt er und läßt die Zunge über seine Lippen gleiten, als sei dort etwas Süßes abzulecken, »kurzum, Werke, auf welche die Öffentlichkeit einen Anspruch hat.« David hält dies für sehr wohl möglich und steht Herrn Korella, selbstverständlich und ohne Vorbehalt, zur Verfügung. – »Wir begeben uns dann wohl am besten sofort in Martins Hotel und machen uns an die Arbeit«, schlägt Herr Korella unternehmungslustig vor. »Meine Zeit hier in Paris ist sehr knapp bemessen.« Herr Korella sieht auf die Uhr, als komme es auf jede Minute an und als sei kein Augenblick zu verlieren. »Morgen früh – morgen früh muß ich ja zurück nach Berlin …« Während er das Wort »Berlin« spricht, wird sein Blick wieder stumpf und glasig. Herr Korella senkt langsam den Kopf; er hält den Nacken hin, als erwarte er einen Schlag.

 

Frau Korella ist inzwischen von dem fremden jungen Mann, der als Kavalier der Friederike Markus auftritt, ins Gespräch gezogen worden. Der junge Mann stellt sich selber vor, er heißt Walter Konradi – ein fein empfindender Mensch, wie es scheint; er hat viel Verständnis für die bittere Lage der Mutter Korella; in schlichten, aber gut gewählten Worten drückt er sein Beileid aus. »Und nun werden gnädige Frau sich wohl eine Zeitlang in Frankreich aufhalten, zur Erholung?« – Walter Konradi erkundigt sich respektvoll und beinah zärtlich. Nein, Frau Korella muß morgen früh nach Berlin. – Nach Deutschland zurück? In diese Hölle? Walter Konradi ist ganz Bedauern. Aber Mutter Korella sagt einfach: Nun, es ist doch mein Vaterland – und sie meint es ehrlich, ja, sie freut sich fast auf ihre Wohnung in der Nürnberger Straße. – Gewiß, gewiß, unser Vaterland. Der junge Herr deutet durch Lächeln ein geheimes Einverständnis zwischen sich und Frau Korella an. Unser Vaterland, sicher, das klingt sehr hübsch. »Aber schließlich«, bemerkt Konradi, nun vertraulich-leise, »schließlich, nach allem, was man uns dort angetan hat! Ich bin auch in einem Konzentrationslager gewesen …« betont er, nicht ohne Stolz. Und er berichtet, immer mit dem vertraulich-gedämpften Ton, aus was für Gründen er hineingeraten sei und unter welch phantastischen Umständen er es verlassen habe. – Freilich, solche Dinge sind schrecklich, Frau Korella gibt es gerne zu; in ihrem Bekanntenkreis hat sich ja auch so manches ereignet, und was hat man ihrem armen Gatten nicht alles angetan! Konradi schüttelt voller Mitgefühl den Kopf. Dann meint er abschließend: »Nun, was mich betrifft, ich habe die Nase voll. Ich bleibe im Ausland; da darf man doch wenigstens den Mund aufmachen.« – »In Ihrem Fall ist das auch etwas ganz anderes: Sie sind jung.« Frau Korella stellt es ohne Bitterkeit fest. »Aber ich – eine alte Frau – wo soll ich denn hin?«

Madame Schwalbe, die ein paar gute Worte zu dem todesbleichen Kikjou gesagt hat, wendet sich wieder an Frau Korella und erkundigt sich, ob die beiden Herrschaften ihr das Vergnügen machen wollen, einen Imbiß in ihrem Lokal zu nehmen. »Es ist sehr bescheiden bei uns«, versichert sie, »kein Luxusrestaurant, das dürfen Sie nicht erwarten. Aber vielleicht interessiert es Sie, den Platz kennenzulernen, wo unser Martin in den letzten Monaten seines Lebens so viele Stunden täglich verbracht hat.« – Ja, das würde Frau Korella natürlich ungemein interessieren: sie bestätigt es mit eifrigen Worten. Übrigens hat sie nun zu weinen aufgehört, das Gespräch mit Walter Konradi scheint sie erfrischt und fast getröstet zu haben: ein sympathischer junger Mann, es geht etwas Vertrauenerweckendes von ihm aus. – Doch, Frau Korella hätte entschieden Lust, noch eine kleine Weile im Kreis von Martins Freunden zu verbringen und das berühmte Etablissement, die »Schwalbe«, zu besichtigen. Jedoch tritt Herr Korella hinzu und mahnt seine Gattin – wobei er wieder eisig an der Schwalben-Wirtin vorbeisieht: »Wir haben keine Zeit zu verlieren, meine liebe Hedwig. Es gibt noch manches zu erledigen. Der junge Herr Deutsch wird so freundlich sein, uns bei der Durchsicht von Martins Papieren behilflich zu sein.« Frau Korella nickt gehorsam, dabei sieht sie bedauernd Konradi an: ›Schade, ich wäre gern noch ein bißchen mit Ihnen und den anderen zusammengeblieben. Aber wahrscheinlich hat Korella recht …‹

Herr Korella findet, daß er sogar ganz entschieden recht hat. Nichts könnte ihn dazu bewegen, sich auch noch in dieses Emigrantenlokal zu setzen. Es handelt sich doch um einen verrufenen Platz, und vielleicht wird Herr Korella beobachtet. Abgesehen aber von vorsichtigen Erwägungen solcher Art: Herr Korella spürt, daß er in dieses Milieu überhaupt nicht paßt. Er hat in Deutschland manches durchgemacht, und vieles ist ihm von den Nazis angetan worden – mehr vielleicht, als all den jungen Leuten hier im Kreise und als dieser Madame Schwalbe, die den Mund so voll nimmt; aber Herr Korella, ein deutscher Bürger – obwohl die Deutschen ihn als ihresgleichen nicht mehr anerkennen – findet doch eine tiefe Kluft zwischen sich und den Vaterlandslosen. ›Keinesfalls möchte ich zu denen gehören, die im Ausland sitzen und ihre Heimat beschimpfen‹ – so denkt er. ›Denn im Schimpfen auf die Heimat besteht doch wohl die Tätigkeit der Emigranten vor allem.‹ Herr Korella hat für sein Vaterland im großen Weltkrieg gekämpft; es ist ein Jammer und eine bittere Schmach, daß seine Landsleute dies nun ihrerseits vergessen zu haben scheinen. Aber ein Mann von seinem Schlage ist nicht gesonnen, das schlimme Unrecht, das die Deutschen ihm zufügen, nachträglich gleichsam zu rechtfertigen, indem er sich zu den Feinden des Reiches, zu den internationalistischen Hetzern gesellt. – Herr Korella bedankt sich bei Mutter Schwalbe mit einer knappen Neigung des Kopfes für die freundliche Einladung; bietet Frau Korella den Arm und entfernt sich – würdevoll, von etwas schäbiger Eleganz. David Deutsch folgt dem Elternpaar, mit schiefen, gleichsam um Verzeihung bittenden Verneigungen von Mutter Schwalbe und den Freunden Abschied nehmend. Kikjou, die schönen Augen von undefinierbarer Farbe im weißen Gesicht klagend aufgerissen, bleibt zurück, unter der kräftigen Obhut der Schwalben-Wirtin, die ihn an sich zieht wie ein Muttertier sein Junges. Bis zum Schluß der Zeremonie ist er von Herrn Korella auf ungeheuer verletzende Art geschnitten worden. ›Sehr verdächtige Gestalt‹, ist Herrn Korellas Eindruck von dem bleichen Knaben. ›Wirkt kolossal ungesund. Ich bezweifle, ob seine Beziehungen zu meinem Martin sich überhaupt noch im Rahmen des Gesetzmäßigen gehalten haben …‹

Nach Herrn Korellas Abgang gibt es ein erleichtertes Aufatmen unter den jungen Leuten. Die alte Schwalbe macht: Uff! – womit sie dem allgemeinen Empfinden Ausdruck verleiht. Man hat es sich – vielleicht aus einer Art von Pietät, die sich auf Martin bezieht, vielleicht aus Mitleid angesichts der Tränen, die Frau Korella so beängstigend reichlich hat fließen lassen – zunächst nicht eingestehen und nicht recht zugeben wollen; aber von Anfang an ist Herr Korella bei Martins Kameraden Gegenstand eines gewissen Mißtrauens und sogar von Antipathie gewesen. Wer jenseits des feurigen Kreises, wer innerhalb der unüberschreitbaren Reichsgrenzen seinen Aufenthalt hat, muß sich vor den Losgelösten, den Emigranten auf eine besondere Art rechtfertigen und beweisen, um sich ihr Vertrauen zu gewinnen oder gar ihre Freundschaft. Die Losgelösten sind argwöhnisch, und wer aus dem Lande kommt, das für sie unbetretbare Gegend ist – die verlorene Landschaft, der zugleich ihr ganzer Haß und ihre ganze Sehnsucht gelten – der hat sich ihren scheelen Blick, ihr prüfendes, überlegendes Schauen wohl gefallen zu lassen. Zwischen jenen, die sich über die Straßen deutscher Städte noch mit Selbstverständlichkeit bewegen, und zwischen den anderen, denen diese Gassen und Plätze höchstens noch in nächtlichen Gesichten erscheinen, die halb Alpträume, halb Wunschträume sind – zwischen den Daheimgebliebenen und den Ausgewanderten springt ein Abgrund auf, wenn sie durch Zufall irgendwo einander begegnen. Es gibt Worte, es gibt vielleicht sogar Blicke und Erkennungszeichen, die geeignet sind, solchen Abgrund zu überbrücken oder ganz zu schließen und die Atmosphäre des Vertrauens zwischen den Sichentfremdeten herzustellen. Herr Korella hat dieses Wort, diesen Blick, dieses Zeichen nicht gesucht oder doch nicht gefunden. Der Abgrund blieb, und er vertiefte sich noch durch des Vaters würdevoll-steifen Abgang. »Uff!« machte Mutter Schwalbe. Dann forderte sie die ganze Gesellschaft auf, im Lokal bei ihr »einen Happen« zu essen.