Klaus Mann - Das literarische Werk

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Der reiche Mann sagte: »Herzlich willkommen an meinem Tisch!« Er hatte immer noch die salbungsvoll-gastliche Allüre, mit der er, so viele Jahre lang, seine Gäste – Politiker und Finanziers, Chefredakteure und Schauspielerinnen, Prinzen, Musiker und Poeten – am Portal seiner Grunewaldvilla in Empfang genommen und begrüßt hatte. »Recht herzlich willkommen!« wiederholte er mit etwas öliger Stimme und schüttelte der Schwalbe beide Hände. »Ich habe viel von Ihnen gehört!« – Sein Gesicht war alttestamentarisch würdevoll, mit großer, fleischiger, ziemlich platter Nase und einem breiten, rund geschnittenen Vollbart, der früher rot gewesen sein mochte und jetzt eine merkwürdig rosagraue Färbung zeigte. Siegfried Bernheim schien die Stattlichkeit in Person; stattlicher und imposanter als er konnte ein Mensch überhaupt nicht sein. Alles an ihm atmete eine gesunde, fröhlich-ernste Selbstzufriedenheit, die jedoch weit davon entfernt war, in einen lächerlichen Dünkel auszuarten. Ihm ließ sich ansehen, daß auch der Schicksalsschlag, der ihn nun betroffen hatte – der Verlust von Haus und Heimat: das Exil – sein solides inneres Gleichgewicht keineswegs hatte stören können. Das gesellige Heim im Grunewald hatte er fluchtartig verlassen müssen – denn er war den Nazis nicht nur als reicher Jude, sondern auch als Förderer linksgerichteter Künstler und Politiker besonders verhaßt – Was schadete es? Es schadete wenig, so gut wie nichts. Er hielt Hofstaat auf der Terrasse dieses hübschen Cafés, und übrigens würde er bald eine geräumige Wohnung in Passy beziehen. Er hatte nur wenig Geld verloren. »Verhungern werde ich in absehbarer Zeit nicht müssen«, gab er zu. – Die Comités für jüdische und politische Flüchtlinge erhielten keineswegs überwältigend große, aber doch erfreuliche Gaben von ihm. Er war von liberaler Gesinnung, nicht ohne vorsichtige Sympathie für gemäßigt sozialistische Ideen. Seine Feinde und einige seiner Freunde hatten ihn den »roten Millionär« genannt, was er sich mit Schmunzeln gefallen ließ. Ein wohlmeinender, ziemlich intelligenter, fortschrittlich gesinnter Herr: mußte man nicht froh und dankbar sein, daß es ihn gab? Daß er hier, im braunen flauschigen Paletot, vor seinem schwarzen Kaffee mit Benediktiner saß und die neuen Gäste fragte: »Was darf ich für Sie bestellen, meine Herrschaften?« Es amüsierte ihn, daß David Deutsch nur heiße Milch haben wollte. Die Herren Mathes und Hummler entschieden sich für Bier und etwas zu essen; Bernheim schlug Würstchen vor, weil es an die Heimat erinnerte. Mit Marcel versuchte er französisch zu reden. »J’ai – lu – un – de vos livres … Très beau – en effet, très beau. – Très originel«, sagte er noch. »Quelque chose de très nouveau!« Und er strich sich den rotgrau melierten Bart, durchaus befriedigt von seiner kleinen Ansprache in fremder Zunge. Als aber Marcel seinerseits zu sprechen anfing, mit unbarmherziger Geschwindigkeit, Literatenjargon und Apachenargot vermischend, fiel es dem Bankier doch recht schwer, zu folgen. Er rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her; sagte mehrfach: »Très interessant!« und wandte sich schließlich, serenissimushaft seine Gnaden verteilend, an Mathes: »Ich höre, Sie sind ein vorzüglicher Internist, Herr Doktor … wie war doch der Name?«

Marion berichtete in hochdramatischer Form von dem zugleich beschämenden, grotesken und erfreulichen Abenteuer, das sie vor einer Stunde zusammen mit den Freunden in dem kleinen Restaurant, Rue des Saints-Pères, gehabt hatte.

»Wie aufregend das schöne Kammermädchen zu flunkern versteht!« sagte Bernheim herzlich anerkennend. »Das war eine Leistung, Marion! Erlauben Sie, daß ich Ihnen noch einen Black-and-White kommen lasse?« Marion ärgerte sich. »Ich habe nichts übertrieben! Du kannst es bestätigen, Schwalbe – und du, Martin – Es ist alles genau so gewesen!«

Ein Herr mit mongolisch schmalen, schiefgestellten Augen sagte achselzuckend: »Marion hat eine recht amüsante, aber doch keineswegs erstaunliche Geschichte erzählt. Ich begreife die Aufregung der Herrschaften nicht. Selbstverständlich ist Deutschland heute enorm unbeliebt; übrigens ist es niemals beliebt gewesen. Die zivilisierten Nationen haben Deutschland im Grunde immer verabscheut. Sie bewiesen einen guten Instinkt.«

»Aber erlauben Sie mal!« begann Theo Hummler drohend – dabei schob er den Teller von sich und wischte sich mit der Papierserviette den Mund: es machte den besorgniserregenden Eindruck, als sei er eisern entschlossen, eine ausführliche Diskussion zu beginnen. »Erlauben Sie mal – angenommen sogar, was Sie da behaupten, stimmt! Sie stellen es mit dem Ton einer entschiedenen Befriedigung fest. Die sogenannten zivilisierten Mächte hätten einen guten Instinkt bewiesen, als sie Deutschland herabsetzten? Offen gesagt, so was begreife ich nicht! Deutschlands Beitrag zur Weltkultur« – Theo Hummler hatte den Ton eines Versammlungsredners, der sich eines nicht grob-demagogischen, sondern eines gebildet-maßvollen Jargons befleißigt: »Deutschlands kulturelle Leistung kann den Vergleich mit der Leistung jedes anderen Landes wohl aushalten … Das Land Goethes und Kants …«

Hier hatte der Herr mit den gescheiten Mongolenaugen eine kleine, abwinkende Bewegung gemacht, die es dem braven Hummler durchaus verbot, weiter zu reden. »Lassen Sie doch die Herren Kant und Goethe, der Abwechslung halber, beiseite!« bat er hochmütig. Sein intelligentes Gesicht blieb merkwürdig starr, was mit seiner Angewohnheit, die Zigarette beim Sprechen im Mundwinkel zu behalten, zusammenhängen mochte. »Was haben die Deutschen mit Kant und Goethe zu tun? Über die Beziehung – oder vielmehr: Nicht-Beziehung – der Deutschen zu ihren großen Männern können Sie sehr aufschlußreiche Bemerkungen bei einem Autor finden, der in Dingen der Psychologie einigermaßen beschlagen war. Nietzsche kannte sich aus …«

»Nietzsche! Nietzsche!« wiederholte, höhnisch und aufgebracht, der Mann vom Volksbildungswesen. »Sie berufen sich auf den Machtphilosophen, den Liebhaber der blonden Bestie, den ausgesprochen präfaschistischen Typus!«

Der andere zuckte wieder die Achseln. »Das ist dumm«, sagte er, unbewegten Gesichtes, immer mit der Zigarette im Mundwinkel. »Leider einfach dumm.«

Theo Hummler war kein besonders empfindlicher Mensch; aber dieser Bursche ging ihm auf die Nerven. »Wenn Sie mich für einen Idioten halten«, sagte er beleidigt, »dann hat es wohl kaum noch Sinn, daß wir uns weiter unterhalten.«

Andere am Tisch hielten den Moment für gekommen, sich versöhnlich ins Gespräch zu mischen. Professor Samuel ließ die Orgelstimme hören: »Aber, meine Herren! Sie sind unverbesserlich!« Er hatte den Zeigefinger gehoben, als müßte er bösen Kindern drohen.

»Na ja«, brummte Hummler. »Ich kann es eben nicht ausstehen, wenn Deutsche ihr eigenes Nest beschmutzen.« – Der Herr mit den Mongolenaugen sagte, zugleich gelangweilt und scharf: »Sie irren sich. Ich bin gar kein Deutscher.«

Professor Samuel erklärte mit wohlwollender Ironie: »Mein Freund Nathan-Morelli ist nur durch einen dummen Zufall in Frankfurt am Main geboren. Seine Mutter war eine schöne Italienerin, an seinen Vater kann sich niemand erinnern, und er selber lebt meistens in London. Manchmal ist er allerdings in Paris – wie Sie sehen – und früher ist er sogar ab und zu in Berlin gewesen. Er hat ein sehr gutes Buch über England geschrieben, und ein anderes, nicht ganz so gutes über die französischen Impressionisten. Er ist ein besonders netter und gescheiter Kerl. Genügt das?«

Nathan-Morelli, die Zigarette im Mundwinkel, neigte gravitätisch das Haupt. »Stimmt Wort für Wort«; dabei schüttelte er seinem Freund Samuel über den Tisch hin die Hand.

»Es wäre wirklich äußerst abgeschmackt und töricht, wenn wir uns weiter zanken wollten«, sagte Samuel noch. »Wir sitzen hier wie die Schiffbrüchigen auf einer wilden Insel, und es hat wirklich keinen Sinn mehr, sich gegenseitig in den Haaren zu liegen. Die Emigration ist eine ernste Sache. – Seht euch den da an!« Er zog seinen Stuhl näher an den Tisch und dämpfte vertraulich die sonore Stimme. Dabei deutete er mit dem Daumen hinter sich, über die Schulter. Dort saß ein weißhaariger Herr mit feinem, müdem Gesicht und spielte, das Kinn sinnend in die Hand gestützt, eine Partie Schach mit sich selber. Der Herr hatte schöne, lange, aristokratische Hände; aber über den Gelenken waren die etwas zu kurzen Ärmel seines schäbigen Jacketts ausgefranst. – »Das war einmal einer der reichsten Männer von Ungarn«, berichtete Samuel leise. »Ihm hat so viel Land gehört, wie einem einzelnen Menschen überhaupt nicht gehören dürfte. Übrigens schien er selber zu finden, daß er gar zuviel Grund und Boden besitze. Denn als die Revolution kam, wurde er der Chef einer demokratischen Regierung und verteilte seine enormen Güter an die Bauern. Vielleicht hätten ihm seine Standesgenossen zur Not verziehen, daß er republikanischer Ministerpräsident gewesen war; aber daß er seine Ländereien weggeschenkt hatte, war eine Todsünde … Der demokratische Graf mußte fliehen, als die Bolschewisten in Budapest regierten – und er konnte nicht zurück, als die Faschisten kamen, die sich damals noch anders nannten. Die ›Weißen‹ hätten ihn aufgehängt wie die ›Roten‹. Nun sitzt er seit beinahe fünfzehn Jahren in Paris. Zu Anfang hat er noch politische Diskussionen geführt und Meetings besucht. Jetzt spielt er beinah nur noch Schach, meistens mit sich selber. – Er soll ein recht guter Schachspieler sein«, schloß der Professor wehmütig seinen Bericht.

»Emigrantenschicksal …« sprach Herr Bernheim mit der angenehm geölten Stimme; dann machte er eine kleine Geste mit beiden Händen, als wollte er etwas Unangenehmes wegschieben, und erkundigte sich leutselig, ob die Herrschaften noch etwas zu trinken wünschten. Der verbannte Graf am Nebentisch, der Samuels Erzählung vielleicht gehört hatte oder mindestens spürte, daß von ihm die Rede gewesen war, hob den Kopf und schickte aus seinen tiefliegenden blauen Augen einen erloschenen Blick über die Runde hin.

 

Da der freundliche Bernheim so freigebig die Getränke spendete, wurde die Unterhaltung an seinem Tisch immer lebhafter. Übrigens erweiterte sich der Kreis; lawinenartig wuchs die Gesellschaft, die sich auf des Bankiers Kosten an Whisky oder rotem Wein erlabte. Zwei jüngere Journalisten, die mit ihren großen runden Brillengläsern und den hackenden Bewegungen ihrer schmalen Köpfe einem Paar von seltsamen, nicht ungefährlichen Vögeln glichen, brachten eine ernste Dame mit, deren schneeweiß geschminktes, starres und schönes Gesicht von undefinierbarem Alter war. Die Dame hieß Fräulein Sirowitsch und erklärte düster: »Ich übersetze Schopenhauer ins Französische.« Die beiden Journalisten mit den Vogelhäuptern verkündeten, daß sie im Begriffe seien, eine deutsche Tageszeitung in Paris aufzumachen. »So was brauchen wir jetzt!« riefen sie siegesgewiß, wie aus einem Munde, und alle am Tische gaben ihnen recht. »Ich werde das Feuilleton redigieren!« versprach der eine und rieb sich die Hände, als freute er sich jetzt schon darauf. Der andere, der ihm wie ein Zwillingsbruder glich, fügte hinzu: »Ich leite die Politik!« Alle nahmen diese Neuigkeiten mit lebhaftem Interesse auf. Nur Herr Bernheim wollte nicht recht hinhören; er war zwar von Herzen gerne dazu bereit, in großem Stil Erfrischungen zu bezahlen; aber ihm graute doch ein wenig davor, gleich eine Tageszeitung zu finanzieren. Auch Bobby Sedelmayer wurde unruhig. Bernheim gehörte ihm; was an Geld aus ihm herauszuholen war, sollte in das Nachtlokal gesteckt werden. Nun auch noch eine Zeitung! Schließlich konnte Bernheim nicht für alles aufkommen! Fräulein Sirowitsch sagte zu Herrn Nathan-Morelli, der ihr, die Zigarette im Mundwinkel, mit etwas verächtlicher Galanterie lauschte: »Manche Dinge bei Schopenhauer sind unübersetzbar. Er benutzt Wendungen, die sich in keiner anderen Sprache wiedergeben lassen.« Theo Hummler versicherte der Schwalbe: »Ich hatte prachtvolles Menschenmaterial in meinen Volksbildungskursen. Der Wissensdrang dieser jungen Leute, die tagsüber in den Fabriken arbeiten, hat geradezu etwas Rührendes. Was wir in jahrzehntelanger Arbeit aufgebaut haben, wird nun grausam zerstört …« – Plötzlich war auch noch ein junges Mädchen in schwarzem Abendkleid da. »Ich heiße Ilse Ill«, stellte sie sich selber vor. »Ich bin Kabarettistin«, fügte sie hinzu und lachte triumphierend. Überraschenderweise schwenkte sie eine Reitpeitsche mit Silbergriff, als wäre sie hoch zu Rosse über die Boulevards herangesprengt gekommen, von ihrer schwarzen Robe umflattert wie die Göttin von einer Wolke. »Gestern habe ich noch in Berlin gesungen«, rief sie aus und blickte drohend um sich, gleichsam fragend: Wagt hier jemand, mir zu widersprechen? – »Kolossalen Erfolg gehabt. – Na, damit ist vorläufig Schluß!« erklärte sie höhnisch, wie von einer wilden und närrischen Wut gegen sich selber und gegen ihr eigenes Schicksal ergriffen. – »Das scheint ja eine gewaltig überspannte Person zu sein«, flüsterte Herr Bernheim dem Professor Samuel zu. Er traf nicht die mindesten Anstalten, ein Getränk für Ilse Ill zu bestellen: entweder, weil er es unpassend fand, daß sie sich selber vorgestellt hatte; oder einfach, weil sie ihm nicht sympathisch war. – »Sie ist aber ganz begabt«, raunte beschwichtigend Samuel. »Ich habe sie in Berlin einmal singen hören.« Das stimmte zwar nicht; aber der Professor wollte Frieden und gute Stimmung am Tisch. Die Kabarettistin inzwischen schrie: »Kinder, ich habe Hunger!« Dabei bekam sie blutgierige Augen und legte sich die Hände dramatisch auf die Magengegend. Bernheim, ob er es gerne tat oder nicht, mußte auch für sie ein Paar Würstchen kommen lassen.

Marcel war in aller Stille an einen anderen Tisch gegangen, wo er in seiner eigenen Sprache plaudern konnte. Die etwas wirre Konversation der Deutschen war ihm mit der Zeit lästig und unverständlich geworden. Mit einem sonderbaren Vogelruf, der halb klagend und halb lockend klang, rief er nun Marion herbei, um sie seinen Freunden vorzustellen.

Kikjou, der lange Zeit schweigend neben der Schwalbe gesessen hatte, sagte plötzlich: »Wenn ich diesen ungarischen Grafen da am Nebentisch anschaue, dann werde ich so traurig – so fürchterlich traurig … Ich denke mir, es wird euch allen – uns allen so ähnlich gehen … Am Schluß sitzen wir irgendwo mit ausgefransten Ärmeln und spielen Schach mit uns selber …« – »Was für ein Unsinn!« rief die Schwalbe und fügte lachend hinzu: »Wir sind doch keine alten Grafen und haben keine Güter weggeschenkt, denen wir nachtrauern könnten!«

Martin schaute aufmerksam zu Kikjou hinüber, von dem er durch die ganze Breite des Tisches getrennt war. Kikjou erwiderte seinen Blick, still und ohne zu lächeln. Martin hätte gern mit ihm gesprochen, aber eben stellte sich ihm der junge Deutsche vor, den Samuel auf der Terrasse der »Coupole« kennengelernt hatte. »Mein Name ist Helmut Kündinger«, sagte der Junge, leise, als vertraute er dem anderen ein Geheimnis an. Dabei erhob er sich halb und schlug ein wenig die Hacken zusammen. »Sie sind auch Emigrant?« erkundigte er sich schüchtern.

Fräulein Sirowitsch war immer noch bei ihrer Schopenhauer-Übersetzung. »Wenn ich diese Arbeit getan habe«, sprach sie feierlich, »dann darf ich mir sagen: Martha, du hast nicht umsonst gelebt. – Ich heiße nämlich Martha«, fügte sie hinzu und lächelte Herrn Nathan-Morelli mit einer gewissen starren Vertraulichkeit zu. Er nickte, als wäre er auf eine Eröffnung dieser Art längst gefaßt gewesen. – »Wenn wir zehntausend Abonnenten haben, sind wir fein heraus!« erklärte einer von den Journalisten, und Ilse Ill, die ihre Würstchen bekommen hatte, rief unheilverkündend: »Vielleicht gründe ich ein literarisches Kabarett! Sehr wohl möglich, daß ich so was mache! – Oder«, verbesserte sie sich – denn es war ihr ein neuer gräßlicher Einfall gekommen – »vielleicht trete ich auch bei Bobby Sedelmayer auf!« Sedelmayer machte entsetzte Augen, während Samuel sich nicht enthalten konnte, mit Orgelstimme »Armer Bobby!« zu sagen. – »Wieso?« erkundigte sich Ilse Ill, einen großen Bissen im Mund – übrigens eher amüsiert als beleidigt.

Bankier Bernheim erzählte: »Ich habe mich während der letzten Tage, die ich in Berlin war, fast nur noch im ›Hotel Excelsior‹ aufgehalten, weil es in der Nähe des Anhalter Bahnhofs liegt. Das gab mir ein beruhigendes Gefühl …« Alle sprachen plötzlich im Durcheinander von ihren letzten Berliner Tagen und von den Umständen, unter denen ihre Abreisen sich vollzogen hatten. Kikjou lauschte mit weit geöffneten Augen, zugleich träumerisch und achtsam. Er fühlte sich wie ein Junge, der in einen Kreis von alten Kriegsteilnehmern geraten ist. Nun berichten alle ihre Abenteuer, und der Knabe muß stumm dabeisitzen … Dr. Mathes sagte mit drohender Stimme: »Ich komme also ins Krankenhaus, wie jeden Morgen. Da sieht mich doch der Kollege Meier so merkwürdig an: ›Mensch, Sie noch hier? Lassen Sie sich nur nicht erwischen …!‹ Na, da wußte ich ja, was die Uhr geschlagen hatte …« Ilse Ill behauptete, sie habe mitten während eines Chansons die Bühne verlassen, als sie im Hintergrund des Saales Kerle mit Hakenkreuzbinden bemerkte. »Die waren sicher gekommen, um mich zu verhaften! Von der Bühne weg, noch geschminkt, bin ich zum Bahnhof gehüpft!« Dabei schwang sie die Reitpeitsche. Die Proskauer murmelte etwas Unverständliches. David Deutsch aber sagte: »Ich hatte gerade noch Zeit, die ausgeliehenen Bücher zur Staatsbibliothek zurückzubringen …« worüber sowohl Bankier Bernheim als auch Theo Hummler herzlich lachen mußten.

Während die Stimmen immer lauter wurden, rückte der junge Helmut Kündinger näher an Martin heran. »Mein Freund und ich«, sagte er leise – und die Worte »Mein Freund« sprach er mit einer innig getragenen Betonung aus – »haben in Göttingen so wundervolle Zeiten verlebt. In einem kleinen Zirkel, der sich nur aus wertvollen Menschen zusammensetzte, lasen wir gemeinsam Hölderlin und George, auch Rilke, aber den liebten wir weniger, er war uns zu weich; George hat die ganze herrliche Härte des Deutschtums, Hölderlin seine ganze unauslotbare Tiefe – das pflegte mein Freund zu sagen. Ihm fielen immer so schöne Dinge ein. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie er an Deutschland hing; wie … wie an einer Geliebten«, sagte Helmut Kündinger und sah Martin hilflos an. »Er liebte den Begriff ›Deutschland‹, deutsche Dichter und deutsche Landschaft viel mehr, als er irgendeinen einzelnen Menschen geliebt hat.« Dabei gab es eine kleine Flamme, wie von Eifersucht, in Helmut Kündingers Blick.

»Liebte er Deutschland so sehr?« fragte Martin, ein wenig zerstreut. Er beobachtete Kikjou, der mit der Schwalbe sprach.

»Ja, er liebte es von ganzem Herzen«, bestätigte Helmut Kündinger ernst. »Obwohl er Nichtarier war. Darüber hatten wir uns niemals Gedanken gemacht. Plötzlich stellte sich dann heraus, daß sein Blut fast achtzigprozentig jüdisch war. Nun war seine Stellung unter den Kommilitonen natürlich erschüttert. Auch ich setzte mich Unannehmlichkeiten aus, weil ich weiter mit ihm verkehrte. Aber das schadete nichts. Schrecklich war nur, Zeuge seines inneren Zusammenbruchs zu sein. Mein Freund konnte seine neue Lage gar nicht fassen. Gerade er, der für die Härte und die Tiefe des deutschen Menschen so begeistert gewesen war, sollte sich nun als ein Ausländer – schlimmer: als ein Schädling – empfinden. Er fühlte sich furchtbar gedemütigt. Als dann ein paar junge Leute, die früher zum engen Zirkel unseres Verkehrs gehört hatten, ihn auf offener Straße beleidigten, geriet er ganz in Verzweiflung. Man muß sich das vorstellen: Man hatte Hölderlin und George miteinander gelesen, und nun schrien sie ihm »Judensau!« zu. Sie waren allerdings besoffen, als sie das taten; aber die Gemeinheit bleibt trotzdem unbegreiflich. – Ich weiß gar nicht, woher mein Freund den Revolver hatte. Und wieso konnte er eigentlich schießen?« Helmut Kündinger fragte es entsetzt und dringlich, als ob Martin imstande wäre, ihm Antwort zu geben. »Er hat sich mitten ins Herz getroffen. Für mich hinterließ er nur einen Zettel: ›Ich will dir nicht länger zur Last fallen.‹ So bitter war er zum Schluß geworden.« Helmut verstummte. Seine blauen Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Martin wollte gerne irgend etwas Tröstliches äußern; es fiel ihm aber nichts ein. Der junge Mensch preßte sich ein großes, nicht ganz sauberes Taschentuch vor den Mund, wie um einen Schrei zu ersticken. In das Taschentuch hinein sprach er – man konnte seine Worte kaum noch verstehen: »Seitdem das geschehen ist, kam mir in Göttingen alles so beschmutzt vor … Ich konnte es gar nicht mehr aushalten. Und als ich zu meinen Eltern nach Westfalen fuhr, war es dort auch nicht besser. Die Heimat war mir verleidet. Ich mußte weg – ich mußte einfach weg … Verstehen Sie mich doch bitte!«

»Ich verstehe Sie«, sagte Martin.

Die Schwalbe begrüßte mit großem Hallo, Kuß und Umarmung ein blondes junges Mädchen, das eiligen Schrittes vorüberkam. »Meisje!« jubelte die Alte. »Bist du auch hier! Nein, so was!« – Meisje war Stammgast bei der Schwalbe gewesen – »das prachtvollste Geschöpf, das ich je gekannt habe!« wie die Wirtin dem ganzen Kreise enthusiastisch versicherte. Wirklich sah sie sehr prachtvoll aus, mit ährenfarbenem Haar und hellen Augen, die sowohl sanft als entschlossen blickten. Bankier Bernheim schmunzelte; die Herren Mathes und Hummler schienen gleich Feuer und Flamme. Ilse Ill, mit der beide bis zu diesem Moment in bescheidenen Grenzen geflirtet hatten, saß plötzlich unbeachtet mit ihrer Reitpeitsche und ihrem zu bunten Gesicht. Sie ließ sich gehen, stützte die Stirn in die Hände und sah müde aus. Es fiel auch auf, daß ihr Abendkleid recht aus der Mode und stellenweise zerschlissen war. Wahrscheinlich trug sie es nur, weil sie durchaus nichts anderes anzuziehen hatte. Durch die Reitpeitsche hoffte sie wohl, ihrem reduzierten Aufzug eine flotte, exzentrische Note zu geben.

Der einsame Schachspieler am Nebentisch erhob sich und schob die Figuren weg, wobei er noch einmal den erloschenen Blick über die Gesellschaft hinschickte.

Professor Samuel, der mehrere Gläser Pernod Fils getrunken hatte, bemerkte schwermütig: »Ach, meine Freunde – was steht uns bevor? Was beginnt nun? Welche Überraschungen hat das Schicksal noch für uns bereitet?« Seine alten Augen, deren Lider sich leicht entzündet hatten, spähten angestrengt ins Weite und Ferne, als könnten sie dort erkennen, was den anderen noch verborgen blieb.

»Nanu«, sagte Dr. Mathes, »das klingt ja ganz melodramatisch!« – Und Bernheim, der die Rechnung studierte, bemerkte zerstreut: »Es wird schon irgendwie gehen …« Niemand wußte, ob er auf die bevorstehenden Schicksalsfügungen anspielte, oder ob er nur sagen wollte, daß er genug Geld bei sich habe, um die Rechnung zu begleichen, die er übrigens erstaunlich hoch fand. Bobby Sedelmayer, mit einer Heiterkeit, die ein wenig künstlich klang, fügte hinzu: »Dann also Prost!« – wobei er sein Glas hob. Aber niemand tat ihm Bescheid. Die meisten hatten wohl schon ausgetrunken.

 

Während der Kreis sich langsam auflöste, rief Fräulein Sirowitsch beinah flehend: »Ich wünsche mir, daß wir alle recht bald wieder hier zusammenkommen!« Sie lächelte Nathan-Morelli zu, der mit David Deutsch über englische Lyriker sprach und sie nicht beachtete. Die Schopenhauer-Übersetzerin sagte noch mit einem unheimlich kalten Jubel in der Stimme – vielleicht nur, um Nathan-Morellis Aufmerksamkeit doch noch auf sich zu ziehen: »Ist Paris nicht schön? Nur hier kann ich mich so recht eigentlich wohlfühlen!« Niemand antwortete. Theo Hummler sprach verschwörerisch leise zu Schwalbe: »Morgen vormittag treffe ich ein paar sehr wichtige Leute aus Berlin, zuverlässige Kameraden. Wollen Sie auch dabei sein?«

Martin trat zu Kikjou, der als einziger am Tisch sitzen geblieben war, merkwürdig regungslos vor seinem geleerten Glase. »In welchem Quartier wohnen Sie?« fragte Martin, und er fügte mit einer etwas matten Hoffnung hinzu: »Vielleicht haben wir den gleichen Heimweg …« – Kikjou aber erwiderte, ohne das müde, kindliche Gesicht von den Händen zu heben: »Merci mille fois. Ich begleite Marcel.« – Martin zog sich schweigend zurück. Er trat erhobenen Hauptes, die weichen Lippen pikiert gegeneinandergepreßt, auf den Boulevard hinaus, wie einer, der sich bewußt ist, eine Niederlage erlitten zu haben, aber seinen Stolz daransetzt, sie mit Würde zu tragen.

Plötzlich stand Marcel hinter Kikjou; auf leisen Sohlen war er herangekommen. »Comment vas-tu, mon chou?« fragte er und legte beide Hände auf Kikjous Schultern. Der erwiderte, ohne sich umzudrehen: »Merci, mon vieux. Pas mal du tout.«

»Ich muß Marion nach Hause bringen«, erklärte Marcel, mit einer leichten Wendung des Hauptes zu der schlanken, unruhig sich bewegenden Gestalt hin, die auf dem Boulevard seiner wartete.

»Ach so«, sagte Kikjou. »Dann gehe ich also allein.«

»I am sorry, mon vieux«, sagte Marcel, immer noch mit den Händen auf Kikjous Schultern. Nach einer Pause fügte er hinzu: »Es ist so traurig. Alles ist so traurig. Diese Menschen – wie sie mir leid tun …! Es muß sich ungeheuer viel ändern auf der Welt, damit sie nicht mehr ganz so bemitleidenswert sind. – Tun sie dir auch so leid? – Listen, Kikjou, I am asking you something! – Ich habe dich gefragt, ob die Menschen dir auch so leid tun wie mir.«