Klaus Mann - Das literarische Werk

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An die Pullman cars war sie bald gewöhnt. Erst hatte sie es beschwerlich gefunden, sich in den verhängten Betten, halb liegend, halb sitzend, an- und auszuziehen – man stieß mit dem Kopf gegen die niedrige Decke, es war unbequem, und ein eigenes Compartment konnte sie sich nicht leisten. Aber sie bekam schnell Routine. Nach einigen Reisetagen schienen ihr die amerikanischen Züge komfortabler als die europäischen. »Pullman Miles – Happy Miles!« – las sie auf den bunten Plakaten, die vor der Damentoilette hingen. Sie gab dem Reklametext beinah recht. Unterwegs fühlte sie sich am wohlsten.

Denn die Aufenthalte waren strapaziös. Anstrengender als die Vortragsabende waren die Interviews und die Geselligkeiten. Mit vielen Menschen mußte Marion plaudern, und sie hatte immer gut in Form zu sein. Die Klubdamen, die Journalisten, die Professoren, Studenten, jungen Mädchen – alle baten: »Tell us something about Germany! How is it possible …?« – Und dann half ihr kein Gott: erzählt sollte werden … Es war Teil ihrer Arbeit, es gehörte zu ihren Pflichten.

Übrigens sprach und berichtete sie nicht ohne Vergnügen. Der Wille aller dieser Menschen, sich zu unterrichten, war mehr als träge Neugier; er war rührend und beinah tröstlich. Die Fragen selber wirkten oft naiv und ahnungslos: »Warum mag Herr Hitler die Juden nicht? – Wieso findet sich niemand, der Herrn Hitler tötet?« Aber die Sorge, die Bestürztheit, die Anteilnahme waren stark und echt. Viele, die sich jetzt vor den Nazigreueln entsetzten, hatten Deutschland – »the country of Goethe and Beethoven« – einst geliebt und bewundert. Umso heftiger war nun ihre Enttäuschung – die übrigens nicht nur diesem einen Lande galt, sondern dem Erdteil. Warum duldeten Frankreich und England solche Barbarei, inmitten des Kontinents? Hatten sie nicht die Macht, den deutschen Diktator zu erledigen, ohne Krieg, nur durch die Kraft des moralischen, kulturellen, ökonomischen Boykotts? – So fragten die Klubdamen, Professoren und jungen Leute. Marion aber mußte Rede und Antwort stehen.

Sie gefiel den Amerikanern. »I think we do like you!« sprach herzlich die Dame vom Klubvorstand, und die anderen nickten. »It was wonderful to have you here! The whole crowd was just crazy about you! Couldn’t you have dinner with us tonight?«

Marion machte Eindruck, weil sie aufrichtig war. Sie überzeugte, weil sie ihrerseits starken Glauben hatte, weil die Flamme in ihrem Blick nicht künstlich sein konnte, der Schrei, das Schluchzen in ihrer Stimme nicht affektiert. Ihre Persönlichkeit imponierte, man war beeindruckt durch ihren Mut. »Such a brave little thing!« sagten die Damen, und die jungen Leute – wie auch die bejahrten Professoren – zeigten sich empfänglich für den fremdartigen Charme ihrer Erscheinung: die lockige Purpurmähne über dem kurzen, ausdrucksstarken Gesicht; der leuchtende, feuchte Mund, die schräggestellten, leidenschaftlichen Augen; die Magerkeit der gestrafften Glieder, der schönen, nervösen Hände. »Sie ist etwas ganz Besonderes!« sagten die Professoren, Studenten und sogar die abgebrühten Journalisten. »Very different – in a charming manner: that’s what she really is! – And very continental, too!« fügten sie anerkennend hinzu.

Man applaudierte ihrem Vortrag sogar dann, wenn man seinem Inhalt kaum hatte folgen können – nur der reizenden Erscheinung wegen; weil die Augen dieses Mädchens gewannen, und weil ihre Stimme entzücken, rühren und erregen konnte. – Tatsächlich war die Darbietung, mit der sie zu den Klubs und Universitäten kam, für das Publikum etwas Neues und wäre von einer weniger attraktiven Person wahrscheinlich nicht akzeptiert worden. Damen, die Vorträge hielten – das kam tausendmal vor; Schauspielerinnen sah man sich auf dem Theater an; lieber noch auf der Filmleinwand. Aber ein Mädchen, das Gedichte sprach, noch dazu teilweise in fremder Zunge? Es war gar zu »continental« und hätte leicht verwunderlich, selbst komisch wirken können. – Der Agent indessen, der in Marions Tournee Geld und Kraft investiert hatte, war sich seiner Sache beinah sicher gewesen, und sein geübter Instinkt behielt recht: Die Leute in Detroit, Kansas City und Baltimore fanden das Experiment nicht langweilig, sondern faszinierend. Noch während Marion unterwegs war, kamen neue Angebote, neue Engagements. Ihre Rückreise nach New York verzögerte sich.

Überraschender- und – wie Marion schien – paradoxerweise gingen diese Einladungen beinah sämtlich von amerikanischen Organisationen aus; die deutschen Gruppen hielten sich zurück. Hatte es nur politische Gründe? Lehnten die deutschen Vereine es ab, die Ausgebürgerte, die Emigrantin bei sich zu empfangen? – Marion dachte darüber nach, nicht ohne gekränktes Erstaunen. ›Werden meine Landsleute sogar hier von Hitler regiert?‹

Da sie sich fast immer an Amerikaner wendete, schien es ihr ratsam, die Rezitationen deutscher Verse einzuschränken, und die begleitende, erläuternde Rede ausführlicher zu machen. Ihr Englisch wurde fließend; ihr Akzent war gut. Sie erzählte, auf dem Podium stehend, vom »anderen, besseren Deutschland«, vom »guten alten Europa« und seinem Ruhm – fast mit der gleichen Nonchalance und improvisierten Leichtigkeit, die sie beim Diner mit den Klubdamen hatte. Sie verstand es, zu amüsieren. Die Anspielungen aufs Aktuelle, auf Personen und Probleme des Tages, wurden dankbar belacht. Sie berichtete von Heines Leben in Paris, von Lessings Polemiken, Goethes fürstlich erhöhter, einsamer Existenz, von den Tragödien Hölderlins, Kleists und Nietzsches – ehe sie die Verse oder Prosastücke sprach. Auch von den Lebenden, den Emigranten wußte sie Geschichten, die rührten und unterhielten. Es folgten die Dichtungen, oft in englischer Übersetzung. Die Rezitation bekam mehr und mehr den Charakter von sparsam verwendeter Illustration. Die Einführung, Deutung, politisch-moralische Schlußfolgerung ward das Wesentliche, Zentrale. Nach dem Vortrag stürmten alte Damen auf Marion zu, um ihr zu versichern, wie beglückend und belehrend alles für sie gewesen war. »Vor fünfunddreißig Jahren habe ich in Leipzig gelebt!« Die Weißhaarige sagte es deutsch – es war mühsam für sie, aber sie wollte beweisen, daß sie es noch nicht ganz vergessen hatte. »Damals war Deutschland schön! – ein so feines Land! Jetzt ist es wohl total – verrückt geworden? Isn’t it too bad? – Aber seitdem ich Sie gesehen habe, liebes Kind, bin ich wieder stolz darauf, daß meine Großmutter aus Hannover stammt. – Ich war nämlich schon nah dran, mich meiner armen Großmutter zu schämen«, flüsterte die Alte, hinter vorgehaltener Hand. »So wie man sich in Deutschland jetzt wohl einer jüdischen Großmutter schämt …« fügte sie kichernd hinzu.

Eine andere Frau sagte zu Marion: »Die Deutschen sind nicht zu entschuldigen. Gerade wenn man ihre großen Eigenschaften bedenkt, wächst die Empörung über ihre Entartung. – Ich war von Ihrem Vortrag begeistert. Sie wollten uns ein ›anderes Deutschland‹ zeigen – und, wahrhaftig: Sie haben es lebendig gemacht! Aber hat es, als Nation, als Realität, jemals existiert – dieses ›andere Deutschland‹, auf das Sie sich berufen? Es hat deutsche Genies gegeben, und es hat immer ein paar tausend Deutsche gegeben – wie Sie; ich habe Freunde unter ihnen gehabt. Aber der Rest? Das Ganze? – Während des Krieges hat man uns versichert: Es ist nicht das deutsche Volk, gegen das man kämpfen soll; es sind nur seine Tyrannen. Damit war euer lächerlicher Kaiser gemeint. Nun – der ist unschädlich gemacht worden. Und nach fünfzehn Jahren war ein neuer deutscher Tyrann da: nicht weniger grotesk, aber viel gefährlicher als Wilhelm. Nun sollen wir noch einmal zwischen diesem Volk und seinen schlimmen Führern den fundamentalen Unterschied machen?« Die Dame, die selbständig nachdachte und sich nichts einreden ließ, fragte es beinah drohend. »Mir scheint doch leider«, fügte sie mit Nachdruck hinzu, »das deutsche Volk hat die Führer, die ihm gefallen und die zu ihm passen.«

Marion nannte ihr Programm, das bis dahin unter dem Titel »Das andere Deutschland« angekündigt worden war, nach diesem Gespräch – das nicht das erste seiner Art gewesen war: »Deutschland von gestern – und morgen«.

Es kamen Tage, da meinte sie: Ich kann nicht mehr. Abends, auf dem Podium oder am geselligen Tisch, versagte sie niemals; ihre Energie überwand jede Müdigkeit: sie strahlte und ließ noch den Schlauesten nicht merken, wie elend ihr ein paar Stunden früher gewesen war. Während der langen Eisenbahnfahrten wurde ihr oft schwindlig; sie mußte sich übergeben. Solche Art von jähen Übelkeiten hatte sie nie gekannt. ›Was ist mit mir?‹ – Sie machte sich ernsthaft Sorgen und war doch sonst nicht hypochondrisch gewesen.

Die Landschaft ward immer öder; immer melancholischer der Blick in die kleinen Ortschaften, an denen der Zug stoppte oder langsam vorbeifuhr. Das kahle Backsteingebäude des Bahnhofs; dahinter die Perspektive der »Main Street«; ein paar Dutzend Ford-Wagen; ein paar große Plakate von Camel-Zigaretten und Coca-Cola; ein paar schmutzige Kinder, weiße oder schwarze; zwei oder drei Drugstores, ein Kino. Darüber der trüb bedeckte winterliche Himmel … Pullman Miles – Happy Miles … Winter im Mittelwesten.

An irgendeiner dieser Stationen stieg Marion aus – jeden Tag an einer anderen, und es schien immer dieselbe. Die Damen vom Klubvorstand oder die Herren von der Universität holten sie in einem Ford- oder Buick-Wagen ab. In der Hotelhalle erwarteten sie zwei Interviewer, vom »Chronicle« und von den »Daily News«. Sie saßen in Schaukelstühlen und rauchten dicke Zigarren. Marion erkundigte sich beim Portier, ob Post für sie da sei. Ja, es waren Briefe für Miss von Kammer gekommen. Sie sagte: »Thanks« und steckte sie zu sich. Erst mußte sie mit den Journalisten sprechen. Während sie, präzis und munter, Auskünfte gab, schielte sie auf die Couverts. Sie erkannte verschiedene europäische Marken. Aber erst ein paar Minuten später, im Lift, entdeckte sie, daß sie auch von Tullio eine Nachricht hatte. Dies war seine ungelenke, dabei stolz geschwungene, kindliche Schrift. Seit zehn oder zwölf Tagen war kein Lebenszeichen von ihm gekommen. Während der ersten Wochen ihrer Tournee hatte Marion fast an jeder Station einen Brief, mindestens ein Telegramm oder eine Karte von ihm gefunden. Meistens freilich waren es nur kurze, rhetorisch flüchtige Grüße und Beteuerungen gewesen: »Ich denke an Dich, meine Liebste! Wann kommst Du wieder? Seit vorgestern arbeite ich in einem anderen Hotel. Hast Du Erfolg? Vergiß Deinen Tullio nicht!!!«

 

Dann war er plötzlich verstummt; auch Depeschen mit bezahlter Rückantwort, die Marion schickte, hatten keine Silbe mehr aus ihm herausgelockt. Er schien alle Kräfte seiner Beredsamkeit aufgespart und gesammelt zu haben, für die umfangreiche Epistel, die nun eingetroffen war. Marion wußte schon, was er ihr mitzuteilen hatte. »Alles ist aus, ich reise, Du wirst mich nie wiedersehen.«

Dies schrieb er, in umständlicher und pathetischer Form. Er betonte: »Ich werde Dich immer lieben!« Vergaß indessen nicht, grausam hinzuzufügen: »Du verlierst mich, ich verschwinde aus Deinem Leben, zwischen uns ist es aus.« In hochtrabenden und konfusen Worten ließ er wissen, daß er nach Europa fahre, nächster Tage schon. »Ich arbeite als Kellner auf einem Schiff. In Europa aber will ich kämpfen.« Wo kämpfen? Gegen wen kämpfen? Er erklärte es nicht. Aber Marion wußte es ja. Sie hatte noch seine Worte im Ohr: »Die Macht ist böse, überall erniedrigt sie den Menschen. Ich muß die Macht niederringen, den großen Drachen …« Und weiter – die Stirne gesenkt, die Augen beinah geschlossen, wie geblendet von einem zu starken Licht: »Ich muß mich opfern … Es wird das Opfer verlangt …«

Oh, diese Knaben, diese Soldaten, diese grausamen Märtyrer! – kindlich gierig alle nach dem Opfertod, und so schnell bereit, ihm alles zu opfern: das eigene Leben, samt dem Leben der anderen. – Marion, die Witwe Marcels – noch einmal verlassen, von ihrem italienischen Fensterputzer; Witwe zum zweiten Mal, alte Kriegerwitwe, erfahren in Abschiedsschmerzen, geübt im großen Adieu; Marion, unermüdliche Jungfrau von Orléans am Vortragspult; siegesgewisse Kämpferin; bewährte Trösterin; ermunterndes Beispiel für viele – seht, sie weint! Schaut hin: sie vergießt nochmals Tränen; in einem Schaukelstuhl sitzend, den sie von der heißen Zentralheizung weggerückt hat; an einem Schreibtisch, auf dem die Bibel und das Telefonbuch liegen; im Reisemantel, kleinen schwarzen Hut auf der Purpurmähne; irgendwo im Mittelwesten der USA – sie weiß kaum, in welcher Stadt – so kauert sie, die Knie hochgezogen, das Gesicht in die mageren Hände geworfen, und gönnt sich ein kleines Schluchzen. Die Koffer liegen noch auf dem Bett. Sie sollte auspacken; muß das Abendkleid bügeln lassen. In zwei Stunden wird das Telefon läuten: »Mrs. Piggins is in the lobby …« Mrs. Piggins ist der Klubvorstand, sie wird die Künstlerin zum Vortrag abholen; Marion muß baden, sich erfrischen, das Gesicht zurechtmachen, reichlich Rouge auflegen, sie sieht scheußlich aus – blaß und mager, und dazu die verheulten Augen.

›O Tullio – Tullio: warum? Wozu dieses Pathos, diese leeren Schwüre, aufgeregten Gesten? Wir hätten miteinander leben sollen. Ach, ihr scheut alle die unsägliche, lange, süße Mühe des Lebens! Der eigentlichen Verpflichtung weicht ihr alle aus! Ihr großen Helden, meine armen Brüder – warum bevorzugt ihr die leichten, schnellen, tödlichen Triumphe …? Mir ist übel. Wovon ist mir übel? Die ganzen letzten Tage ist mir nicht gut gewesen. Was ist mit mir?

Was ist mit mir, Tullio?‹

Tullio – stürmischer Liebhaber; Anarchist und verkanntes Genie; jetzt wohl schon als Steward auf hoher See amtierend – Tullio, der Überschwengliche und Ungetreue, hörte die Frage nicht. Marion zog es vor, sich selbst die Antwort heute noch zu ersparen; sie hinauszuschieben, noch ein wenig offenzulassen. – Um sich auf andere Gedanken zu bringen, las sie, mit feuchten Augen, ihre europäische Post.

Frau von Kammer, die geborene von Seydewitz, hatte geschrieben. Früher waren Mamas floskelhaft kühle Briefe für Marion eine Peinlichkeit gewesen; jetzt bedeuteten sie große Freude. Die Mutter schrieb gescheit und herzlich; nicht ohne Humor, trotz einem gewissen Unterton von Schwermut. Auch hatte sie viel zu erzählen. Die kleine Susanne hatte sich verlobt – berichtete Frau von Kammer. »Sie scheint glücklich zu sein; das ist natürlich die Hauptsache. Unter uns gesagt: ich finde den Kerl ziemlich unausstehlich. Er ist aus einer guten preußischen Familie; sein Großvater war mit meinem armen Papa befreundet. Wahrscheinlich ist es eine Art Gnade von ihm, daß er ein Mädchen ohne Geld und mit nicht rein arischem Blut zur Frau nimmt. Susanne will mit ihm nach Berlin ziehen. Dort soll auch die Hochzeit sein. Du kannst Dir vorstellen, liebe Marion, daß ich nicht gerade sehr entzückt von all dem bin … In ungefähr vier Wochen wird Susanne also Frau von Mackensen heißen.«

Die zweite Neuigkeit war noch wesentlich interessanter. Marie-Luise hatte sich dazu entschlossen, eine Pension zu eröffnen: »mit meiner Freundin Tilly zusammen!« – Frau Tibori hatte etwas Geld aus Hollywood mitgebracht. Für den Anfang war es reichlich genug. Die beiden Damen hatten eine große, hübsche Villa am Zürichberg gefunden: relativ billig und wie gemacht für eine nette Familienpension. »Den guten Ottingers – Du weißt: Tillys prachtvollen alten Freunden – habe ich eigentlich alles zu danken. Ohne deren Einfluß, den sie so lieb für mich verwendet haben, hätte ich die Erlaubnis nie bekommen können. Am 1. Januar machen wir auf. Du kannst Dir vorstellen: ich habe alle Hände voll zu tun und bin mächtig aufgeregt. Es haben sich ziemlich viel Gäste angemeldet; Schweizer und Emigranten. Man soll es gut bei uns haben, unsere Köchin ist ausgezeichnet, und ich will versuchen, die Preise möglichst niedrig zu halten. So viele Menschen, die jetzt aus Deutschland kommen, haben doch gar kein Heim und wissen überhaupt nicht, wohin mit sich. Ich habe wirklich den Ehrgeiz, ihnen etwas zu bieten, was mit der Zeit beinah ein Ersatz für das Verlorene werden könnte …«

Wer hätte dergleichen von Mama erwartet? Sie war starr gewesen – nicht eigentlich lieblos, vielleicht aber doch unfähig, Gefühle mitzuteilen und zu aktivieren. Mit ihren Töchtern hatte sie wie eine distinguierte Fremde verkehrt. Eine von ihnen war in den Tod gegangen – die süße Tilly hatte sich auf und davon gemacht, war eingeschrumpft, sehr hold und klein geworden; entrückt, entschwunden … Ein plumper Unglücksbote hatte der Mutter den Abschiedsbrief überreicht: da war, durch die Kraft der Tränen, eine Rinde um ihr Herz geschmolzen.

Nun wollte sie also eine Pension eröffnen, mit ihrer Freundin Tilla zusammen. ›Gute Mama!‹ dachte Marion gerührt. ›Der erste Januar – das ist ja schon in neun Tagen. Der erste Januar 1938 …‹

Dann las sie die anderen Briefe.

Eine Nachricht von Madame Rubinstein aus Paris – dies war überraschend; denn die Beziehungen zwischen Marion und Anna Nikolajewna hatten sich, während der letzten Jahre, eher abgekühlt. Nun ließ die russische Freundin wieder einmal von sich hören, weil sie unglücklich und sehr einsam war. Ihr Gatte, Monsieur Rubinstein, war gestorben. »Mon pauvre Léon est mort«, berichtete sie in ihrer altmodisch feinen und genauen Schrift. »Für ihn bedeutet es wohl eine Erlösung; er war immer melancholischer geworden, das Heimweh machte ihn krank, ganz abgesehen von seinem quälenden Nierenleiden.«

Marion erinnerte sich des aufgeschwemmten, grauen und porösen Gesichtes – des irdischen Antlitzes des Herrn Léon Rubinstein. Nun war es also zerfallen. Die Verwesung hatte leichte Arbeit mit ihm gehabt; es hatte stets etwas verwest gewirkt … »Während seiner letzten Stunden hat er nur von Mütterchen Rußland gesprochen«, schrieb Anna Nikolajewna. »›Jetzt darf ich endlich heimkehren‹ – hat er immer wieder gesagt.«

»Man soll die Heimat nicht aufgeben, sie ist unersetzlich.« – Marion hörte wieder die Stimme ihrer alten Freundin. Sie sah das enge, überfüllte Zimmer – den Samowar, die Nippes-Sachen, die Souvenirs, die ausgestopften Tiere. – »Man kehrt nicht zurück. Wer sich von der Heimat löst, hat es für immer getan.« Dies waren die furchtbaren Worte Anna Nikolajewnas gewesen.

Die kleine Germaine aber – das trotzig-ernsthafte Kind – war zurückgekehrt: auch dies erfuhr Marion, und Madame Rubinstein klagte: »Ich habe also keinen Menschen mehr!« Ihr Töchterchen hatte sich in Moskau niedergelassen und Arbeit in einem Modesalon gefunden. »Erstaunlich genug« – wie die verlassene Mutter bemerkte – »man scheint sich in Sowjetrußland neuerdings für elegante Damenkleidung zu interessieren. Germaine schreibt mir, daß die Frauen in Moskau sich schminken wie die Pariserinnen – wenn auch weniger geschickt. Das Kind scheint sich wohl zu fühlen. Zu Anfang kam ihr wohl alles in der fremden Heimat etwas seltsam vor; aber allmählich gewöhnt sie sich. Neuerdings ist ein Flirt zwischen ihr und einem jungen Ingenieur aus Kiew im Gange. Nun, man wird sehen, ob sich etwas Ernsthaftes daraus entwickelt … Wenn Germaine in Rußland heiraten sollte, werde ich sie für immer verlieren. Ich kann nicht dorthin zurück. Ich werde in Paris sterben, wie mon pauvre Léon.«

Marion dachte: ›Viel Schicksal ist diesen Briefen anvertraut worden, die auf der »Normandie« oder der »Queen Mary« eilig über den Ozean geschwommen sind. – Was für Neuigkeiten weiß Theo Hummler? Laß sehen!‹

Hummlers Epistel hatte trocken informativen Charakter. Sie enthielt Mitteilungen über den Fortgang der politischen Arbeit, der illegalen Aktionen in Deutschland. »Einer unserer Verbindungsleute in Berlin ist verhaftet worden. Das Wunder ist, daß – trotz allem! – für jeden Verlorenen ein Ersatzmann sich meldet. Es gibt viele Helden in Deutschland.« – Er erwähnte, daß in letzter Zeit der kleine Kikjou wertvolle politische Dienste geleistet habe. »Er ist tapfer und geschickt, außerdem kommen ihm seine Sprachkenntnisse und seine gesellschaftlichen Verbindungen zugute. Wir konnten ihn unlängst in einer besonders heiklen Mission ins Reich schicken. Die Aufgabe war schwierig und ist gut von ihm gelöst worden.«

Hierüber freute sich Marion; war übrigens kaum überrascht. Aus dem kleinen Kikjou war ein Mann geworden: sie hatte es in dem Pariser Versammlungssaal, und besonders bei der flüchtigen Begegnung im Treppenhaus konstatieren können – damals nicht ohne Erstaunen. Nun bewährte er sich: mit Befriedigung nahm es Marion zur Kenntnis, als hätte ein Sohn oder ein Bruder etwas Braves geleistet.

Die Schwalbe war nach Spanien abgereist – wußte Hummler noch. Ihr Pariser Lokal hatte sie für eine Weile geschlossen und sich, mit Dr. Mathes und Meisje zusammen, dem Sanitätsdienst der loyalistischen Armee zur Verfügung gestellt. Zur Zeit befanden sich alle drei – Mathes, sein Meisje und die Schwalben-Mutter – mit ihrer Ambulanz an einem Frontabschnitt bei Valencia. »Von unserem kleinen Kreis hier ist also nicht mehr viel übrig«, vermerkte Hummler – und Marion empfand: ›Wie einsam er geworden sein muß!‹ – »Helmut Kündinger ist in China, eine große Pariser Zeitung hat ihn als Korrespondenten geschickt. Der Junge hat sich prachtvoll entwickelt, ist ein prima Journalist geworden, auch für unsere Zwecke oft sehr gut zu verwenden.« – Immer wieder kam er auf »unsere Zwecke« zurück: auf den zäh und unermüdlich geführten Kampf. Das Private war Nebensache. Trotzdem gestand er zum Schluß: »Ich wünsche oft, Du wärst hier, Marion! Du warst doch die Beste. Ich muß viel an Dich denken. Du fehlst mir.«

›Ich fehle ihm also …‹ Marion wußte selber nicht, warum es sie bewegte und etwas traurig machte. ›Mir fehlt auch dies und das. Jedem fehlt dies und das … Jetzt muß ich mich aber schleunigst zurechtmachen: Mrs. Piggins wird ja gleich hier sein. Die Dame, die mich abzuholen kommt, heißt doch wohl Mrs. Piggins? Oder war das der Name des Klubvorstandes in der vorigen Stadt? Wäre peinlich, wenn ich’s durcheinanderbrächte … Wo spreche ich eigentlich heute? In der Universität …?‹

Der Vortrag »Germany Yesterday – Germany Tomorrow« fand in der Aula des kleinen »College« statt und wurde mit interessiertem Beifall aufgenommen. Ein Publikum, das zur Mehrzahl aus jungen Leuten bestand, war Marion stets das liebste: Zwanzigjährige sind die besten Zuhörer – wenn sie nicht durch Schlagworte verdorben und stumpfsinnig gemacht worden sind. – Nach der »lecture« gab es eine »Diskussion«; aus dem Publikum wurden Fragen gestellt, und Marion – eine fragile Pythia auf dem Podium – mußte orakelhaft die Antwort improvisieren. »Wer wird in Deutschland nach Hitlers Sturz regieren?« – »Was halten Sie von den United States of Europe?« – »Wird der Führer die Tschechoslowakei angreifen?« – Das Orakel mußte Bescheid über alles wissen – auch über die Frage: »Wie alt wird Herr Hitler werden?«

 

Ein junger Mann meldete sich zum Wort. Er war von angenehmem Äußeren: das blonde Haar akkurat gescheitelt, darunter ein rosiges Gesicht mit langer Nase. Seine Stimme freilich enttäuschte: sie klang scharf und sprach das Englische mit einem harten, fremden Akzent. Marion wußte gleich: Der führte Böses im Schilde; er wollte sie hereinlegen, aufs Glatteis locken. Zunächst blieb er äußerst höflich. »Fräulein von Kammer ist eine Künstlerin«, stellte er artig fest. »Sie kennt und liebt die große deutsche Kultur – ich habe ihren Vortrag sehr genossen. Eine Patriotin – und sicherlich ist Fräulein von Kammers vaterländisches Empfinden stark und ehrlich – kann nicht die Absicht haben, Propaganda gegen ihr eigenes Land zu machen.« Mit einem überlegenen Lächeln fuhr er fort: »Wenn ich die Rednerin recht verstanden habe, so verdammt sie das Dritte Reich vor allem aus humanitären und kulturellen Gründen. Sie stellt die Behauptung auf: Deutschlands beste Geister – die man nach ihrer Ansicht nicht mehr fragen kann, da die betreffenden Herren längst nicht mehr unter den Lebenden weilen – würden heute gegen Hitlers Staat sein, weil sie sich über gewisse Härten der totalitären Regierungsführung und über die Einschränkung der Pressefreiheit empören müßten.« Er machte eine Pause; sein Lächeln drückte Skepsis und Mitleid aus. Dann aber wurde es lauernd. Den Oberkörper vorgeneigt, das Gesicht stärker gerötet, bemerkte er:

»Nur eines erstaunt mich bei den Fanatikern des Antifaschismus – bei unserer begabten Rednerin wie bei vielen anderen. Warum finden sie Vorgänge und Institutionen in Sowjetrußland verzeihlich, die ihnen im Deutschen Reich so sehr mißfallen? Nehmen wir sogar an, in Deutschland seien Grausamkeiten begangen worden, wie in jedem jungen, revolutionären Staat – ich will sie gewiß nicht entschuldigen. Aber ich muß doch fragen: Hat die bolschewistische Diktatur sich nicht unvergleichlich mehr, nicht sehr viel Schlimmeres zuschulden kommen lassen? – ›Diktatur‹: da haben wir ja das Wort. Immer wieder müssen wir uns die Greuelberichte über die Schandtaten der nationalen, aufbauenden, erhaltenden Diktaturen anhören; für die Exzesse des absolutistischen Bolschewismus scheinen unsere Antifaschisten sich viel weniger zu interessieren. Gibt es in Sowjetrußland eine Pressefreiheit – ja oder nein? Ist in Sowjetrußland gemordet worden? Wird dort weiter gemordet? Ja – oder nein?« Er brüllte, seine Miene war purpurn, den Oberkörper hielt er immer noch vorgereckt. »Ich bin gewiß kein Faschist« – dabei schnaufte er heftig – »meine Freunde hier wissen das. Aber ich finde, wir sollten nicht unfair sein. Beschönigen oder verschweigen, wenn es sich um Rußland handelt; übertreiben und hetzen, wenn Deutschland zur Diskussion steht – das geht nicht! Das ist gegen die guten Sitten!«

Seine Rede hatte einen gewissen Eindruck gemacht. Der junge Mann hatte fließend, dabei temperamentvoll gesprochen. Erst zum Schluß war er etwas aus der Form geraten. Durch seine Unhöflichkeit gegen Marion hatte er Sympathien verloren. – Mrs. Piggins, die Diskussionsleiterin, war nervös geworden. Sie flüsterte Marion zu: »Furchtbar unangenehm! Herr Fröhlich ist ein deutscher Austauschstudent – ein begabter Junge, recht beliebt im College. Er hat niemals Sympathien für die Nazis offen zugegeben; war immer sehr zurückhaltend, durchaus objektiv. Was ist nur in ihn gefahren? Wie peinlich! Ich hätte ihn nicht sprechen lassen sollen! Nun müssen Sie ihm erwidern, Fräulein von Kammer!«

Marion war im Begriff, sich ihre Antwort zurechtzulegen. Diesen Burschen mußte man abfahren lassen! Welch gemeiner Demagogentrick: in die Diskussion ein Thema zu zerren, das abseits lag und nur Verwirrung stiften konnte! – Sie öffnete schon den Mund, um ihre Replik zu beginnen; da wurde ihr schwindlig, sie taumelte, griff hinter sich, ihr Gesicht war weiß. Sie spürte: ›Gleich werde ich stürzen … Was ist mit mir? Ist es dieser aggressive Deutsche, der mich so aufgeregt hat? Was sonst kann es sein? Um Gottes willen; was sonst kann es sein …?‹ Mühsam hielt sie sich aufrecht.

Erlösende Überraschung! Von unten, aus dem Publikum, hörte sie eine tiefe, beruhigende Stimme. Ein Mann sprach; Mrs. Piggins mußte ihm das Wort erteilt haben, ohne daß Marion es bemerkt hatte.

Der Mann sagte: »Mir scheint, zuerst und vor allem ist es meine Pflicht, Fräulein von Kammer im Namen unseres Colleges um Entschuldigung zu bitten.« Auch er hatte den unverkennbar deutschen Akzent. Er redete langsam, mit einer seltsam gepreßten, zurückgehaltenen Intensität. Er schaute Marion an, während er redete. Vor ihren Augen war es eben noch beinah schwarz gewesen. Nun konnte sie wieder sehen. Die Gestalt des Mannes, der sich als ihr Ritter und Verteidiger vom Platz erhoben hatte, war nicht groß und ein wenig gedrungen, aber aufrecht und fest. Das Gesicht, über einem zu kurzen Hals, wirkte zugleich sinnend und energisch. Seine große, rundliche Fläche ward beherrscht von den Augen, die den Blick einer verhaltenen und gründlichen, fast pedantischen Leidenschaft hatten. – Marion bemerkte, daß alle Gesichter im Saal ihm vertrauensvoll zugewendet waren. Kein Zweifel: er genoß die respektvolle Sympathie der Versammlung. Man war erleichtert, daß er den wortgewandten Angreifer zurechtweisen und widerlegen wollte; man atmete auf, Mrs. Piggins strahlte.

Der Mann, auf den alle Aufmerksamkeit sich nun konzentrierte, schien indessen seinerseits kaum noch zu wissen, daß er inmitten der erwartungsvollen Menge stand. Es war nur noch Marion, die seine grüblerischen und gefühlvollen Augen sahen. Sie spürte seinen Blick auf der Haut wie etwas Körperliches.

»Leider ist festzustellen«, sagte er langsam, »daß mein Vorredner unritterlich gegen eine Dame war – unritterlich in der Form wie durch die Argumente, die er gegen sie benutzte. Sicherlich wird Fräulein von Kammer selbst die beste Antwort für Herrn Fröhlich wissen – es sei denn, sie zieht es vor, ihn einer Erwiderung gar nicht zu würdigen. Jedenfalls möchte ich es nicht einem der amerikanischen Freunde überlassen, meinen Landsmann, Herrn Fröhlich, auf seine Entgleisung aufmerksam zu machen – zumal er sie sich einer Kompatriotin gegenüber hat zuschulden kommen lassen. – Herr Fröhlich hat vorhin den Begriff ›unfair‹ gebraucht. Es erstaunt mich, daß für einen Anhänger Hitlers dieses Wort überhaupt Sinn und Inhalt hat. Für uns andere freilich bleibt es bedeutungsvoll. Gerade deshalb hat die rhetorische Exkursion des Herrn Fröhlich uns so tief schockiert. Ich fürchte, es war seine Absicht, Fräulein von Kammers moralische Integrität zu verdächtigen. Das ist unerträglich!« rief der untersetzte Mann, plötzlich wütend, wie in einem Anfall von Jähzorn; er stampfte kurz mit dem Fuß, sein rundliches Gesicht verfärbte sich dunkel. »Jeder im Saal ist von ihrem Vortrag bewegt worden. Wenn irgend jemand, so hat sie das Recht, die Entartung, den geistig-politischen Absturz Deutschlands zu rügen und zu beklagen, da sie selber bestes Deutschland ist. Und nun kommt dieser junge Herr aus Berlin, um uns boshaft zu examinieren: Ist es in Rußland besser? – Lassen wir die Frage offen, ob es in Rußland besser oder schlechter ist; ob die Sowjetunion alle Welt durch ihre Aggressivität, ihr Expansionsbedürfnis, ihre internationalen Intrigen bedroht und zur Aufrüstung zwingt – oder ob nicht vielmehr das Dritte Reich es ist, von dem solche Bedrohung ausgeht, während die Außenpolitik Moskaus niemanden beunruhigen kann. Lassen wir sogar dahingestellt, ob die Verhältnisse in Rußland und in Deutschland überhaupt irgendwie zu vergleichen sind. Das alles steht nicht zur Debatte.